1.1. Bismarck, der "eiserne Reichsgründer" Otto von Bismarck (1815 - 1898) Reichskanzler: 21. März 1871 - 18. März 1890 Der erste Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs ist zweifellos auch der bekannteste. Der Name Fürst Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen wird heute - neben der Einführung der Sozialgesetzgebung in Deutschland, der gleichzeitigen Repression gegen Sozialdemokraten, dem Kulturkampf und dem Beginn des deutschen Imperialismus - vor allem mit der 1871 vollzogene Reichsgründung in Verbindung gebracht. Dass der Weg dorthin über drei, im Rückblick als "Einigungskriege" bezeichnete, Kriege führte, zeigt exemplarisch die Kompromisslosigkeit, mit der der Machtpolitiker seine Ziele verfolgte. Dies gilt ebenso für das Feld der Innenpolitik. Auch hier wollte Bismarck keinen anderen Machtfaktor dulden, der seine Herrschaft und die "göttliche Ordnung" innerhalb des Staates gefährden könnte. Seine Geringschätzung für Parteien und den Reichstag, vor dem er in Generalsuniform auftrat, spiegeln dies ebenso deutlich wider wie seine Unfähigkeit, sich dem späteren Kaiser Wilhelm II. unterzuordnen, was schließlich zu seinem Rücktritt führte.

1.2. Bismarck und die Sozialgesetzgebung Gesetz betreffend die Versicherung der in Bergwerken, Fabriken und anderen Betrieben beschäftigten Arbeiter gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle. Vorliegend handelt es sich um den umfassend von Bismarck korrigierten und kommentierten Entwurf.

2.1. Caprivis Entspannungspolitik Leo von Caprivi (1831 - 1899) Reichskanzler: 20. März 1890 - 28. Okt. 1894 Als Nachfolger Bismarcks wurde der ehemalige Chef der kaiserlichen Admiralität Georg Leo von Caprivi de Caprera de Montecuccoli zum Reichskanzler ernannt. Diese Wahl des Kaisers kam überraschend, u.a. weil er mit Caprivi bereits einmal wegen des Ausbaus der Flotte aneinandergeraten war. Der damalige Chef der Admiralität hatte auf deren defensive Ausrichtung bestanden und stellte nun auch als Reichskanzler die Weichen klar auf Entspannung: innenpolitisch indem er die Sozialistengesetze nicht erneuerte und die katholische Kirche für die während des Kulturkampfs eingefrorenen Finanzleistungen entschädigte, außenpolitisch durch die Beendigung des Handelskriegs mit Russland und die Zurückstellung imperialer Bestrebungen zugunsten eines besseren Verhältnisses zu den Kolonialmächten und einer effektiven Wirtschaftspolitik. Auf lange Sicht verfolgte Caprivi das Ziel, den Einfluss der landwirtschaftlichen Interessen gegenüber denen der modernen Industrieproduktion zu schwächen und auf diesem Wege in Europa ein System zwischenstaatlicher Abhängigkeiten durch Handel zu schaffen – ein Konzept, das seiner Zeit weit voraus war.

2.2. Caprivis erstes Rücktrittsgesuch Seite 1: Abschrift Berlin, den 16. Juni 1891 An Seine Majestät den Kaiser und König. Euere Kaiserliche und Königliche Majestät haben durch Allerhöchstes Handschreiben vom 15. d. M. [diesen Monats] in überaus gnädiger Weise meiner Thätigkeit in der abgelaufenen parlamen- tarischen Session gedacht und bitte ich meinen ehrfurchts- vollen Dank hierfür allerun- terthänigst zu Füßen legen zu dürfen. Euere Majestät geruhten in demselben Handschreiben ferner mir Allerhöchsteren Entschluß dahin mitzutheilen, daß im Herbst d. J. [diesen Jahres] eine Re-

Seite 2: Reorganisation der Armee un- ter Ausschluß der zweijährigen Dienstzeit und mit einem Mehraufwande von ca. 40 Millionen Mark vorgenommen werden soll. Euerer Majestät feststehen- den Entschlüsse gegenüber ge- ziemt es mir nicht, meine in Bezug auf die Räthlichkeit der Maßregel an sich abweichende Ansicht darzulegen. Dagegen habe ich mir die Frage vorlegen müssen, ob und wie die Aller- höchste Absicht ausführbar sein würde und ob meine Kräfte dazu hinreichen. Nach meinem ehrfurchts- vollen Dafürhalten würde die Durchführung auf Schwierig- keiten

Seite 3: keiten stoßen, die ich für un- überwindlich halte. Bei den vorjährigen Verhandlungen im Reichstage habe ich die An- sicht gewonnen, daß eine Mehrbelastung des Reiches mit einer bedeutenden Summe zu militärischen Zwecken über- haupt sehr schwer, mit dem jetzigen Reichstage aber nur unter Gewährung der zwei- jährigen Dienstzeit für die Infanterie u.s.w. möglich ist. Daß ich die zweijährige Dienst- zeit unter gewissen Kompen- sationen für besser halte als den jetzigen Zustand mit seinen Dispositionsurlaubern und seinen Ersatzreserven, habe ich mir früher erlaubt, Euerer Ma- jestät

Seite 4: jestät ehrfurchtsvoll auszuspre- chen. Ebenso bin ich darüber nicht im Zweifel, daß eine Verjün- gung der Feldtruppe und man- che andere Verbesserung auf die Dauer nicht abzuweisen ist, ver- meinte aber, daß der Augen- blick, damit vorzugehen, im Hin- blick auf die politische Gesamt- lage noch nicht gekommen sei. Der gegenwärtige Reichstag steht noch zu sehr unter dem Ein- druck der vorjährigen Wehrforde- rungen, um ihm mit Aussicht auf Erfolg schon im nächsten Win- ter weitgehende militärische Forderungen vorlegen zu können. Die Finanzen des Reichs fordern fürs Erste umsomehr Rücksicht, als sie durch die Handelsverträge zunächst einen Ausfall an Einnahmen zu tragen haben werden. Eine

Seite 5: Eine Ablehnung der von Eurer Majestät ins Auge gefaßten For- derungen halte ich hiernach für so wahrscheinlich, daß von Haus aus, wenn der Kampf nicht nach einer Niederlage aufgegeben werden soll, die Möglichkeit einer Auflösung des Reichstages u. darauf folgende Neuwahlen ins Auge zu fassen wären. Solche Neuwahlen würden meines aller- unterthänigsten Dafürhaltens, auf Grund militärischer Geldforderungen u. ohne Konzession nach Rüstung der zweijährigen Dienstzeit hin vorgenommen, zu einem gefügi- geren Reichstage nicht führen. Im weiteren Verfolg des einmal betretenen Weges würden Eur. Ma- jestät dann vor die Frage gestellt sein, ob und wie etwa durch irgend ein, einem Staatsstreich ähnlichem Mittel

Seite 6: Mittel - etwa Aenderung des Wahl- gesetzes - zum Ziele zu kommen sei. Ich würde unverantwortlich handeln, wenn ich meine Ueber- zeugung, daß ein solcher Staats- streich in dem locker gefügten deutschen Reiche u. unter den heuti- gen Verhältnissen, die Gefahr des Zerfallens dieses Reiches nahelegt, Eur. Majestät verschweigen wollte. Die politische Lage ist eine vollkom- men andere als die in Preußen in den sechziger Jahren. Ich zweifle, daß die verbündeten Regierungen über- all den von Eur. Majestät geplan- ten Wehrforderungen zustimmen würden, ich habe aber gar keinen Zweifel daran, daß sie zur Zeit der Durchführung eines Staatsstreiches, in welcher Form es auch sei, nicht geneigt sein würden. Vermag ich sonach einen ge- deihlichen

Seite 7: deihlichen Ausgang auf den von Eur. Majestät geplanten Wege nicht vorherzusehen, so bin ich darü- ber noch klarer, daß meine Kräfte zur Durchführung Allerhöchstderen Absichten auf keinen Fall ausreichen. Ein Wagniß, wie das vor- liegende, kann nur glücken, wenn der, dem die Durchführung obliegt, an den Erfolg glaubt. Angesehen von an- deren zur Durchführung einer so schwierigen Aufgabe erforderlichen Eigenschaften, fehlt mir aber dieser Glaube. Auch darf ich schließlich nicht verhehlen, wie ich dadurch, daß Eur. Majestät geruht haben, in einer politisch so überaus wichtigen Frage entscheidende Entschlüsse zu fassen, ohne mir vorher Gehör zu schenken, die Ueberzeugung gewonnen habe, daß ich Allerhöchstderen Ver- trauen nicht in dem Maße besitze, ohne welches ich die jedem Schritte durch

Seite 8: durch die Besorgniß, einen Fehltritt zu thun, gelähmt werden würde. Euere Kaiserliche und König- liche Majestät bitte ich deshalb, unter wiederholtem Ausdruck meines ehrfurchtsvollen Dan- kes für alle mir zu Theil ge- wordene Huld, allerunterthä- nigst, mir in Gnaden den Ab- schied mit der gesetzlichen Pen- sion zu bewilligen. gez. [gezeichnet] von Caprivi

3.1. Kanzler auf Abruf: Hohenlohe-Schillingsfürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) Reichskanzler: 29. Okt. 1894 - 15. Okt. 1900 "Onkel Chlodwig" oder "Oheim", wie der Kaiser den bei seinem Amtsantritt fünfundsiebzigjährigen Reichskanzler nannte, war von Anfang an lediglich als Platzhalter für einen jüngeren und energischeren Amtsträger vorgesehen. Auch wenn er sich dessen wohl bewusst war, wollte der - nach eigenem Bekunden - gemäßigte Liberale nicht tatenlos auf seine Abberufung warten. Seine Amtszeit wurde vor allem durch seine Reform der Militärstrafprozessordnung geprägt, welche die Verfahren der Militärgerichte öffentlich zugänglich machte. Ungeachtet seines besonderen Verhältnisses zum Kaiser setzte er die Reform gegen dessen Widerstand und den des Militärs durch, sodass diese wenige Wochen vor seinem Abgang in Kraft treten konnte. Trotz weiterer Reformen kann man bei Hohenlohe jedoch nicht von einer Weiterführung des Entspannungskurses Caprivis sprechen. Seine eingehenden Warnungen vor einer Reform des Wahlrechts als die "größte Gefahr für Monarchie und Reich" beleuchten seine konservative Seite ebenso hell wie seine beigefügte Rede die Rückkehr zur Strategie und Rhetorik Bismarcks gegenüber Arbeitern und der Sozialdemokratie illustriert.

3.2. Reichstagsverhandlungen am 12. Januar 1895 Rede von Hohenlohe-Schillingsfürst bei den Reichstagsverhandlungen (Auszug): [Zweite Spalte, letztes Drittel] Man hat behauptet, daß der Ursprung des Uebels in gewissen sozialen Uebelständen beruhe, und daß man diese wohl durch w i r t s c h a f t l i c h e R e f o r m e n , aber nicht durch S t r a f g e s e t z e und polizeiliche Maßregeln beseitigen könne. Meine Herren, demgegenüber kann nicht mit Nachdruck genug hervorgehoben werden, daß die Fürsorge des Reichs für die unteren Bevölkerungsklassen und die Bekämpfung der Um- sturzbestrebungen, insbesondere der Sozialdemokratie gar keine Berührung mit einander haben. Seit Beginn des Deutschen Reichs und namentlich seit der unvergeßlichen Botschaft des ersten Deut- schen Kaisers vom 17. November 1881 ist keine Session vorübergegangen, ohne daß die verbündeten Regierungen gemeinsam mit dem Reichstage nach den verschiedensten Richtungen hin das Wohl der arbeitenden Klassen zu fördern unternommen haben.

4.1. Bülows "Weltpolitik" der Konfrontation Bernhard von Bülow (1849-1929) Reichskanzler: 17. Okt. 1900 - 10. Juli 1909 Bernhard von Bülow wurde bereits unter der Kanzlerschaft Hohenlohes gezielt zu dessen Nachfolger aufgebaut. Wilhelm II. hatte höchste Erwartungen an den langjährigen Diplomaten, der die deutsche Stellung im Konzert der Großmächte verbessern sollte und so bald zum beliebtesten Reichskanzler seit Bismarck wurde. Die Politik Bülows war eindeutig auf Konfrontation ausgerichtet. Seine Wiedereinführung der Getreideschutzzölle verschlechterte zunächst das Verhältnis zu Russland. Die Feindschaft Englands zog er durch den massiven Ausbau der deutschen Flotte auf sich, die dem Kaiserreich den Weg zu dem berühmten "Platz an der Sonne" ebnen sollte. Die innenpolitische Komponente dieser Machtpolitik war eine Belebung des deutschen Nationalismus, den Bülow zunehmend mit imperialistischen Tönen verband, was wiederum den Konflikt mit den Sozialdemokraten verschärfte, die seiner "Weltpolitik" ablehnend gegenüber standen. Der von Bülow angeheizte Nationalismus sollte sich jedoch in der so genannten "Daily Telegraph Affäre" gegen ihn wenden, über die er letztendlich stürzte.

Seite 2: Veröffentlichung des Daily Tele- graph durch alle Teile des Volkes gedrungen und in den letzten Reichstagsverhandlungen zum Ausdruck gelangt ist, stellt sich das Staatsministerium rück- haltlos auf den Boden der Er- klärungen des Herrn Reichskanz- lers vom 10. d. Mts. [diesen Monats]. Bei der Einmütigkeit, mit der alle Parteien gegen das "persönliche Regiment" Stellung genommen haben, war es unmöglich, die parlamentarische Kritik von der Person Seiner Majestät des Kaisers fernzuhalten, wie dies bisher Übung gewesen ist. Das Staatsministerium kann sich nicht der Einsicht verschließen, daß die Einbuße, welche hierdurch die

Seite 3: die Monarchie und die Person Sei- ner Majestät des Kaisers erlitten hat, so groß gewesen ist, daß die Wiederholung ähnlicher Vorkomm- nisse für Kaiser und Reich, für König und Preußen verhängnis- voll werden müßte. Das Staatsministerium bittet des- halb den Herrn Reichskanzler und Ministerpräsidenten, seiner Majestät auch Namens des Staatsministeriums über den Ernst der Lage und über die Notwendigkeit Vortrag zu halten, das Seine Majestät Alles vermeiden wollen, was eine ähnliche Kritik heraus- fordern würde. gez. [gezeichnet] Fürst von Bülow gez. [gezeichnet] v. Guenther 11./11.

5.1. Der gescheiterte Taktiker Bethmann Hollweg Theobald von Bethmann Hollweg (1856 - 1921) Reichskanzler: 14. Juli 1909 - 13. Juli 1917 Theobald von Bethmann Hollweg, der bisherige Stellvertreter Bülows, führte den Weltmacht-Kurs seines Vorgängers mit zwei wichtigen Einschränkungen fort: er bemühte sich zunächst darum, die Sozialdemokraten stärker in die Gesellschaft zu integrieren und forderte gleichzeitig von Konservativen und Nationalliberalen eine größere Reform- und Opferbereitschaft für den Staat. Dies macht auch sein beiliegender Brief deutlich. Dass er diese letzte Forderung meist vergeblich erhob, dokumentieren die mehrfach gescheiterten Anläufe des Reichskanzlers zu einer umfassenden Wahlrechtsreform vor dem und während des Krieges. Die zweite politische Neuerung Bethmann Hollwegs war sein umfassendes Bemühen, England aus einem möglichen Krieg herauszuhalten, bei gleichzeitiger Fortsetzung der Aufrüstung. Der von ihm deklarierte Hauptgegner, auf den es sich zu konzentrieren galt, war Russland. Zu diesem Zweck verhinderte der Reichskanzler 1912 gegen den Widerstand des Kaisers die Flottennovelle, zu Gunsten der größten Heeresvergrößerung seit der Gründung des Kaiserreichs.

5.2. Bethmann Hollweg und die Parteien Seite 1: Duplicat Telegramm Hohenfinow, den 28. August 1910 7 Uhr 20 Min. N. m. Ankunft: 8 Uhr 45 Min. N. m. Der Reichskanzler An Seine Majestät den Kaiser und König No. - Original an sein Maj. 28/11 11 pm Entzifferung Eurer Majestät danke ich untertänigst und von Herzen für die äußerst wert- vollen Bemühungen, die Par- teien wieder zu gemeinsamer Arbeit zu bewegen und ins- besondere die Konservativen zu einer mehr staatlichen Auffassung zurückzuführen. Wenn die Anfänge, die Euere Majestät dort so glücklich geschaffen, mit Geschick weiter ent- wickelt

Seite 2: wickelt werden, so könnten sie un- serer Politik eine sehr wertvolle Stütze werden. Daß den Konservativen nach ihrer Festlegung bei der Erb- schaftssteuer ein plötzlicher und schneller Rückzug schwer fällt, ist begreiflich; in ihrem wie im staatlichen Interesse ist aber notwendig, daß sie die Fühlung mit dem Volksempfinden wieder gewinnen. Die Erfahrungen, die ich hier mit den Parteiführern mache, sind noch wenig ermutigend. Kon- servative und Nationalliberale sind offenbar noch nicht zu einer hinreichenden Erkenntnis der Ge- fährdung ihres Besitzstandes gelangt. Sie

Seite 3: Sie werden vielleicht erst durch die harte Schule der Reichstagswahlen gehen müssen. Mit dem Oberpräsi- denten von Windheim konferiere ich übermorgen. Mit den ehrerbietigsten Glück- wünschen zu dem prächtigen Verlauf [der] Parade und dem militärischen Erfolge Ihrer königlichen Hoheit der Prinzessin Über den alle Zeitungen sehr warm Berichten. Allerunterthänigst Bethmann Hollweg

6.1. Georg Michaelis in der Rolle des Lückenfüllers Georg Michaelis (1857-1936) Reichskanzler: 14. Juli - 24. Okt. 1917 Der erste nichtadelige Reichskanzler, Georg Michaelis, hatte dieses Amt niemals angestrebt, stellte sich aber zur Verfügung, als der Kaiser ihm sagte, "es müsse einer in den Riß springen". Der tief religiöse Michaelis stammte aus einer Beamtenfamilie, die den Hohenzollern über sechs Generationen hinweg gedient hatte. Seine unbedingte Treue zum Kaiser, seine Unbekanntheit und politische Erfahrungslosigkeit waren entscheidende Faktoren für die OHL, ihn dem Kaiser als ihren Wunschnachfolger für den widerspenstigen Bethmann Hollweg zu präsentieren. Michaelis bekam die engen Grenzen seines politischen Spielraums sehr bald zu spüren. Als er sich im August 1917, dem Vermittlungsversuch Papst Benedikts XV. folgend, bei Kaiser und Militär für eine bedingungslose Abtretung Belgiens einsetzte, wurde dies einhellig abgelehnt. Man glaubte damals noch in einer ausreichend starken Position zu sein, um den Verzicht an erheblich einschränkende Klauseln binden zu können.

6.2. Georg Michaelis als Reichskanzler - Eine Einschätzung Auszug aus dem Brief von Dr. Reinold von Thadden-Trieglaff an Magnus Freiherr von Braun vom 20. August 1962: Dankschreiben für die Übersendung der Memoiren und Einschätzung des Reichskanzlers Michaelis (Auszug aus dem Brief): [...]Sie werden sich nicht wundern, wenn ich hinzufüge, daß zu einem bescheidenen Teil Ihre Memoiren auch Landschaften, Orte, gesellschaftliche Zusammenhänge, berufliche Einzelheiten, soldatische Beobachtungen, politische Ereignisse und Menschen beschreiben, die in meinem wesentlich jüngeren Lebensabschnitt ebenfalls eine mehr oder weniger wichtige Rolle gespielt haben. Ich bin ja, wie Sie, obgleich Pommer, auch in Ostpreußen geboren, wo mein Vater anfangs der 90er Jahre Landrat in Mohringen war, ehe er, die Inaussichtnahme für den Posten des Oberpräsidialrats in Königsberg ausschlagend, dem Rufe seines Heimatkreises folgend, das Landratsamt in Greifenberg Pom. [Pommern] für mehr als ein Vierteljahrhundert übernahm, um dem alten Familienbesitz Trieglaff unmittelbar nahe zu sein. Aber auch davon abgesehen bietet Ihr Buch für mich unendlich viele Berührungspunkte, regionale oder lokale, familiengeschichtliche oder vaterländische Einzelheiten, die mein allmählich nachlassendes Gedächtnis auf das

7.1. Kanzler ohne Macht: Georg von Hertling Georg von Hertling (1843-1919) Reichskanzler: 1. Nov. 1917 - 30. Sept. 1918 Den politisch so unerfahrenen Michaelis löste einer der zu diesem Zeitpunkt erfahrensten deutschen Berufspolitiker ab. Mit 74 Jahren trat Georg Graf von Hertling das Amt des Reichskanzlers zu einem Zeitpunkt an, als es zwischen der wachsenden Macht von OHL und Reichstag bereits zerdrückt zu werden drohte. Die Berufung des langjährigen Zentrumsmitglieds zum Regierungschef war erstmals mit dem Parlament abgestimmt worden, das seine Einwilligung erst nach der Annahme verschiedener Forderungen des interfraktionellen Ausschusses gegeben hatte. Trotzdem machte der bekennende Monarchist deutlich, dass es unter seiner Führung keinen Systemwechsel geben würde. Als kurz vor Kriegsende die OHL ihm jedoch auftrug, genau diesen zu vollziehen, trat Hertling zurück. Er hatte stets die von US Präsident Wilson geforderte Parlamentarisierung aus persönlicher Überzeugung abgelehnt, sich jedoch auch gegen die schwerwiegenden Bedingungen des Friedens von Brest-Litowsk ausgesprochen. Dieser Friedensvertrag, den der Reichstag und schließlich auch Hertling billigten, trug erheblich dazu bei, dass Wilson sein vierzehn Punkte Friedenskonzept endgültig fallen ließ.

7.2. Georg von Hertling und die OHL Vertrauliche Unteredung zwischen dem Reichskanzler Georg von Hertling, dem General-Feldmarschall Remus von Woyrsch und Erich Ludendorff am 1. Juli 1918 in Spa, Seite 1

Vertrauliche Unteredung zwischen dem Reichskanzler Georg von Hertling, dem General-Feldmarschall Remus von Woyrsch und Erich Ludendorff am 1. Juli 1918 in Spa; Seite 2

Vertrauliche Unteredung zwischen dem Reichskanzler Georg von Hertling, dem General-Feldmarschall Remus von Woyrsch und Erich Ludendorff am 1. Juli 1918 in Spa; Seite 3

8.1. Prinz Max von Baden als Krisenverwalter Prinz Max von Baden (1867-1929) Reichskanzler: 4. Okt. - 9. Nov. 1918 Als Prinz Max von Baden zum Reichskanzler ernannt wurde, war der Krieg bereits verloren. Man könnte ergänzen, dass der als liberal geltende Vetter des Kaisers zum Reichskanzler berufen wurde, eben weil der Krieg bereits verloren war. Die OHL billigte seine Politik nur in der Hoffnung, durch sie einen milderen Frieden für Deutschland zu erreichen und einen Teil der Verantwortung abwälzen zu können. Noch am Abend seiner Ernennung sendete von Baden ein Telegramm an den US-Präsidenten Wilson und bat darin um einen Waffenstillstand auf der Grundlage von dessen vierzehn Punkten. Wilson lehnte bekanntlich ab, woraufhin der Prinz die so genannte "Revolution von oben" auf den Weg brachte. Er reformierte das Reichstagswahlrecht, trieb die Beseitigung des preußischen Dreiklassenwahlrechts voran und holte sogar die politische Linke in sein Kabinett.

8.2. Prinz Max von Baden und der Waffenstillstand Schreiben des Prinzen Max von Baden, 28.04.1919

Übersetzung "An die Regierungen der Nationen der Welt die Unterzeichnerinnen, die rechtmäßig der internationalen intellektuellen Welt angehören, wir, die während vier Jahren des Krieges, Jahren voller Hass, nicht einen Augenblick inne gehalten haben, um für die Versöhnung der Völker und für das Wohl der Menschheit zu arbeiten, protestieren energisch gegen die unerhörten und grausamen Bedingungen des Waffenstillstands. Diese genannten Bedingungen treffen unser deutsches Volk mitten ins Herz und bedrohen seine Existenz. Dieses deutsche Volk hat in seiner großen Mehrheit nie den Krieg gewollt! Ist es gerecht, dass es für die Fehler einer blinden Minderheit büßen muss, die verrückt, aber omnipotent im Jahre 1914 war? Die Bedingungen des Waffenstillstands wurden zum Schein ausgehandelt, um ein Wieder-aufflammen der Feindschaften zu verhindern. Sie wurden ausgehandelt, als Deutschland noch unter dem Joch seines alten Regimes stand. Heute ist das deutsche Volk ohne Verteidigung, das alte Regime ist gestürzt, für immer abgeschafft.

4.2. Bülow und die "Daily Telegraph Affäre" Seite 1: [Linke Spalte] Abschrift Vertrauliche Befragung des Königlichen Staatsministeriums. Anwesend: der Präsident des Staatsministeriums Dr. Fürst von Bülow, der Vizepräsident des Staatsministeriums Dr. von Bethmann Hollweg, die Staatsminister von Tirpitz, Fhr. von Rheinbaben, von Einem, Delbrück, Dr. Beseler, Breitenbach, von Arnim, von Moltke, Sydow; der Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, Wirkliche Geheime Ober- regierungsrat von Loebell als Kom- missar des Herrn Reichskanzlers; der Unterstaatssekretär Dr. von Guenther. --------------- Eine Abschrift ist dem Herrn Ministerprä- sidenten auf Bestimmung am 16. Juni 1909 durch den Unterstaatssekretär v. Loebell zugestellt worden. gez. v. Guenther 16/6 [Rechte Spalte] Berlin, den 11. November 1908 Das Staatsministerium trat heute im Reichstagsgebäude zu einer vertraulichen Besprechung zusammen. Der Herr Ministerpräsident machte geheime Mitteilungen über die letzten politischen Er- eignisse. Nach einer Erörterung, an der sich der Herr Vizeprä- sident sowie die Herren Staats- minister von Einem, von Tir- pitz, Frhr. von Rheinbaben und Dr. Beseler beteiligten, beschloß das Staatsministerium einstim- mig folgendes: Unter dem Eindruck der tie- fen Bewegung. die infolge der Ver-