2.106.1 (bau1p): [Württembergischer Antrag auf Zentralisierung des gesamten Verkehrswesens.]

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[Württembergischer Antrag auf Zentralisierung des gesamten Verkehrswesens.2]

2

Am 7. 11. richtete das württ. StMin. in einem Telegramm an die RReg. das dringende Ersuchen, über die verfügte Einstellung des Personenzugverkehrs vom 5.–15. 11. hinaus (vgl. Dok. Nr. 93) weitere Maßnahmen zur Behebung der Verkehrs-, Transport- und Versorgungsschwierigkeiten zu ergreifen (R 43 I /1035 , Bl. 111). Mit Schreiben vom 10. 11. bat RK Bauer den RVM aus der Fülle der württ. Vorschläge „zu dem Vorschlage unter Ziffer 1, wonach das gesamte Verkehrswesen Deutschlands sofort einer Zentralbetriebsleitung zu unterstellen wäre“, Stellung zu nehmen (R 43 I /1035 , Bl. 110). Der Gedanke, den augenblicklichen Schwierigkeiten durch gezielte Maßnahmen im Bereich der Eisenbahnbetriebsleitung entgegenzutreten, war bereits von dem bad. StR Schulz am 30. 10. anläßlich einer vom RVM wegen der bevorstehenden Verkehrssperre einberufenen Besprechung mit den Verkehrsministern der Eisenbahnländer geäußert worden: „Es sei dringend erforderlich, daß die schon von Hindenburg im Jahre 1912 für Deutschland geforderte einheitliche Betriebsführung nunmehr endlich zustande käme. […] Wenn z. B. Württemberg in der Lage sei, den Nachbarländern mit Lokomotiven auszuhelfen und Baden gleichzeitig einen Reparaturstand an Lokomotiven von 46 bis 48% habe, so erhelle daraus, daß eine Zentralstelle vorhanden sein müsse, die in der Lage sei, einen Ausgleich herbeizuführen. Der Herr Reichsverkehrsminister müsse, wenn keine Verständigung zu erzielen sei, als Diktator entscheiden können.“ (Protokoll in: R 43 I /1035 , Bl. 104–109). Über die Frage der Einsetzung eines „Transportdiktators“ bzw. der Ausstattung des RVM mit Sondervollmachten vgl. Dok. Nr. 86, P. 4. – Auf das o. a. Schreiben des RK an den RVM liegen zwei gleichzeitige Rückäußerungen des RVM vor. Während in dem Telegrammbrief vom 19. 11. der RVM eine vorläufige Erfolgsübersicht über die Maßnahmen zur „Bekämpfung der Verkehrsnot“ gibt, weitere Vorschläge sich aber für die mündliche Erörterung vorbehält (R 43 I /1035 , Bl. 176–183), enthält ein undatiertes, aber mit dem Präsentat der Rkei vom 10. 11. versehenes vertrauliches Schreiben des RVM an den RK „weitere Vorschläge“. Darunter befindet sich der Entw. einer VO betr. die Aufsicht über die landesstaatlichen Eisenbahnverwaltungen, der in erweiterter Fassung in dem Ges. über die Eisenbahnaufsicht vom 3.1.20 aufgeht (RGBl. S. 13 ). Ausgehend von den wiederholten Erklärungen der Länder-Verkehrsverwaltungen, „daß sie am Ende ihrer Kraft seien und daß der technische Zustand ihres Netztes sich immer weiter verschlechtere“, hält der RVM den Gedanken, „über Einzeleingriffe hinaus sofort die ganzen Eisenbahnverwaltungen auf das Reich zu übernehmen“, grundsätzlich für naheliegend. „Damit wären zweifellos klare Verhältnisse geschaffen und die Verantwortlichkeiten abgegrenzt. Andererseits ist es für die Reichsregierung mißlich, in der augenblicklichen verschärften Verkehrsnot die völlig zerrütteten Verkehrsunternehmungen gewissermaßen an sich zu reißen, wobei auch an die politischen Wirkungen einer derartigen eventuell zwangsweisen Übernahme gedacht werden muß. [. .] Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß die vorgeschlagenen Maßnahmen des Reiches derartige Anträge der Länder von selbst wachrufen werden. Erfolgen solche Anträge, so ist die Position der Reichsregierung in jeder Hinsicht eine bessere und die Verantwortlichkeit eine nicht von ihr beanspruchte, sondern ihr aufgenötigte“ (R 43 I /1035 , Bl. 164–169). Die Einladung zu der nachfolgend protokollierten Besprechung ging von der Rkei aus (R 43 I /1035 , Bl. 143 ff.).

Der Herr Reichskanzler begrüßt die Erschienenen und führt aus, daß trotz der einschneidenden Maßnahmen der Personenverkehrssperre die Verkehrslage[394] im Reiche ernst sei. Die ausreichende Versorgung weiter Kreise der Bevölkerung mit Kartoffeln und Kohle sei nach wie vor in Frage gestellt. Die Reichsregierung habe daher den Wunsch, mit den Regierungen der Länder an der Hand des vorliegenden württembergischen Antrags weitere durchgreifende Maßnahmen zur Hebung der Verkehrsnot zu besprechen. Er erteile zunächst dem Vertreter Württembergs zur Begründung des vorliegenden Antrags das Wort.

Unterstaatssekretär Hitzler (Württemberg) begründet den württembergischen Antrag unter Hinweis darauf, daß in ihm kein Vorwurf gegen Preußen liegen solle. Die Württembergische Regierung habe lediglich den Wunsch, der Verkehrsnot durch eine mit Anordnungsbefugnis versehene oberste Betriebsleitung zu steuern. Diese Einrichtung dürfe aber keinen militärischen Anstrich haben.

Reichsverkehrsminister Dr. Bell gibt einen Überblick über die Stellung seines Ministeriums zu den großen verkehrspolitischen Problemen3. Die erste[395] dem Reichsverkehrsministerium gestellte Aufgabe sei die Überleitung der einzelstaatlichen Eisenbahnverwaltungen auf das Reich4. Darauf sei auch der Etat des Ministeriums zugeschnitten. Die große augenblickliche Verkehrsnot habe das Ministerium vor neue unvorhergesehene Aufgaben gestellt. Nach Besprechung mit Preußen5 sei die Reichsregierung zu der Überzeugung gekommen, daß die Überführung der Bahnen auf das Reich zu einem früheren Zeitpunkt als am 1. April 1921 erfolgen sollte und daß sofortige provisorische organisatorische Maßnahmen zur Behebung der Verkehrsnot von Reichs wegen getroffen werden müßten. Das bisher in dieser Richtung Geleistete setze er als bekannt voraus6.

3

Vgl. Bells Denkschrift über die Bildung des RVMin. vom 10.9.19 (R 43 I /973 , Bl. 180–187) sowie die diesbezüglichen Kabinettsberatungen (Dok. Nr. 68, P. 5).

4

Gemäß Vfg. des RPräs. vom 21.6.19 (R 43 I /1304 , Bl. 18). – Art. 89 RV bestimmt, daß es Aufgabe des Reiches sein solle, „die dem allgemeinen Verkehre dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum zu übernehmen und als einheitliche Verkehrsanstalt zu verwalten“. Als spätesten Übernahmetermin nennt Art. 171 RV den 1.4.21; soweit bis zum 1.10.20 keine Einigung über die Bedingungen der Übergabe erzielt sei, solle der Staatsgerichtshof entscheiden. Über die Entstehung der das Eisenbahnwesen betreffenden Artt. 89–96 u. 171 RV sowie die für die geplante „Verreichlichung“ der Eisenbahnen geleistete Vorarbeit s. diese Edition: „Das Kabinett Scheidemann“, Dok. Nr. 17, 18, 30, 54 a, 56. Hingewiesen sei auf die außerordentliche Regierungskonferenz der Länder mit Eisenbahnbesitz vom 2.–4.7.19 in Weimar. Hier konnte der bis zuletzt zögernden bayer. Reg. die Zustimmung zu dem im Verfassungsentw. vorgesehenen Übergabetermin abgerungen werden (Materialien im Nachl. Stieler ; BA, Kl. Erw. 409, Bl. 45 f.).

5

Eine „Einladung zu einer persönlichen Vorbesprechung“ am 20. 11. über den württ. Antrag zwischen der RReg. und dem PrStMin. liegt vor (R 43 I /1035 , Bl. 145). Ein Protokoll dieser Sitzung konnte in den Akten der Rkei nicht ermittelt werden.

6

Vgl. dazu die in Anm. 2 zit. Übersicht des RVM vom 19. 11. über Maßnahmen zur „Bekämpfung der Verkehrsnot“.

Er mache folgende Vorschläge:

1.

sofortige Einsetzung eines Ausschusses aus Vertretern des Reichs und der Eisenbahnländer zur Beratung der schleunigen Überführung der Bahnen auf das Reich;

2.

Übertragung von Anordnungsbefugnissen auf die im Preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten bestehende oberste Betriebsleitung und Übernahme der Führung dieser Betriebsleitung durch das Reich;

3.

Einsetzung eines Ausschusses zur Beratung der Werkstättenreform.

Der Reichsverkehrsminister betont, daß nur, wenn die Länder guten Willens mit dem Reich zusammen arbeiteten, eine Verkehrskatastrophe zu vermeiden sei.

Der Herr Reichskanzler weist darauf hin, daß die breite Öffentlichkeit es nicht verstehen würde, wenn das Deutsche Reich nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel zur Hebung der augenblicklichen Not restlos ausnützen würde. Dies sei nur möglich, wenn die oberste Leitung fest in einer Hand ruhe.

Minister der öffentlichen Arbeiten Oeser (Preußen) betont, daß die Schiffahrt besser ausgenutzt werden müsse.

Verkehrsminister von Frauendorfer (Bayern) erklärt, daß Bayern mit der Einrichtung einer unter Leitung des Reichs stehenden, zur Hebung der augenblicklichen Verkehrsnot mit Anordnungsbefugnis ausgestatteten obersten Stelle einverstanden sei. Ein tüchtiger Fachmann gehöre an die Spitze. Er sei[396] der Ansicht, daß Schiffahrt und Eisenbahn bisher nicht genügend ineinander gearbeitet hätten. Vor einer Verreichlichung vor dem 1. April 1921 warne er. Er halte nicht aus partikularistischen, sondern aus verwaltungstechnischen Gründen eine frühere Überführung für nicht durchführbar. Der frühere preußische Minister Hoff, einer der gewiegtesten Fachmänner, habe erklärt, daß die Überführung kaum vor 1925 möglich sei7. Er lehne die Einsetzung eines Ausschusses zur Prüfung der Frage einer früheren Verreichlichung nicht ab, habe aber seinen ernsten Bedenken Ausdruck geben müssen. Einer Prüfung der Werkstättenfrage stimme er zu.

7

Hoff, bis zum 25.3.19 PrArbM, hatte sich gegen den Zeitraum, innerhalb dessen die pr. Staatseisenbahnen auf das Reich übergehen sollten, gewandt (vgl. diese Edition: „Das Kabinett Scheidemann“, Dok. Nr. 30). Er bat mit Schreiben vom 1. 4. ihn von seinem Amt als Chef des Reichsamts für die Verwaltung der Reichseisenbahnen zu entbinden. Seine Entlassung erfolgte am 16. 4. (R 43 I /957 , Bl. 6 u. 9).

Ministerialdirektor Dr. Otto (Sachsen) erklärt, daß Sachsen mit der Prüfung der beschleunigten Verreichlichung einverstanden sei. Er befürchte allerdings, ebenso wie Minister von Frauendorfer, erhebliche verwaltungstechnische Schwierigkeiten. Bei Übereilung könne schließlich nur ein Scheinerfolg herauskommen. Der Einrichtung der obersten Betriebsleitung nach den mitgeteilten Grundsätzen stimme er zu. Er weise aber darauf hin, daß das Reich mit Rechten auch Pflichten gegenüber den Einzelstaaten übernehme, sofern unter Umständen für die Eingriffe in den Betrieb Entschädigungen zu gewähren seien.

Finanzminister Liesching (Württemberg) betont, daß aus finanziellen Gründen die baldige Überführung der Bahnen auf das Reich unbedingt erforderlich sei8.

8

Einzelheiten dazu s. Dok. Nr. 136, insbesondere Anm. 4.

Finanzminister Wirth (Baden) erklärt die Zustimmung Badens zur beschleunigten Verreichlichung und ist mit der Einrichtung einer obersten Betriebsleitung nach den mitgeteilten Grundsätzen einverstanden.

Minister der öffentlichen Arbeiten Oeser glaubt, daß man 1921 bei der Verreichlichung vor denselben Schwierigkeiten stehen würde wie 1920; deshalb sei Einsetzung des Ausschusses zur Prüfung einer schleunigen Verreichlichung zweckmäßig. Der gegebene Termin zur Überführung würde der 1. April 1920 sein.

Reichspostminister Giesberts betont, daß schnell und mit Entschlossenheit gehandelt werden müsse.

Reichsverkehrsminister Bell weist darauf hin, daß das berechtigte Interesse Preußens in der obersten Betriebsleitung gewahrt werden würde. Zum Chef der obersten Betriebsleitung schlage er den Unterstaatssekretär Stieler9 im Reichsverkehrsministerium vor.

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UStS Stieler, seit dem 6.10.19 Leiter der Eisenbahnabteilung des RVMin., war vorher Präsident der württ. Generaldirektion der Eisenbahnen. Über seine Tätigkeit im RVMin. s. seine Autobiographie: Aus meinem Leben. S. 69 ff.

Minister der öffentlichen Arbeiten Oeser bittet, daß dann der Vorstand seiner Betriebsabteilung stellvertretender Vorsitzender werde.

Der Herr Reichskanzler betont, daß in der Personenfrage das Kabinett sich die Entschließung vorbehalten müßte.

[397] Der Herr Reichskanzler stellt als Ergebnis der Besprechung das Einverständnis der Beteiligten über folgendes fest:

1. Zu der bestehenden obersten Betriebsleitung tritt ein Vertreter des Reichs hinzu, der den Vorsitz übernimmt. Die oberste Betriebsleitung erhält Anordnungsbefugnisse. Eine gesetzliche und verordnungsmäßige Festlegung dieser Befugnisse wird mit Rücksicht auf das Einverständnis der beteiligten Vertreter des Reichs und der Länder nicht für erforderlich gehalten10.

10

Am 24. 11. teilt der RVM dem RK mit, er habe mit dem PrArbM vereinbart, daß die Führung der beim PrArbMin. eingerichteten obersten Betriebsleitung von beiden Ministern gemeinschaftlich übernommen werde. Damit sei gewährleistet, „daß die betriebstechnischen Maßnahmen, die unter Leitung und Verantwortlichkeit des Reichs bei der obersten Betriebsleitung beschlossen werden, bei der Preußischen Eisenbahnverwaltung sofort und ohne Reibung in die Tat umgesetzt werden können, auch wenn sie über die eigentliche Betriebsführung hinausgehen“ (R 43 I /1044 , Bl. 35).

2. Zur Prüfung der zwecks möglichst frühzeitiger Überführung der Bahnen auf das Reich erforderlichen Maßnahmen ist unter Führung des Reichs alsbald ein aus leitenden Persönlichkeiten zusammengesetzter Hauptausschuß zu bilden, dem die Schaffung von Unterausschüssen und die Regelung ihres Verhältnisses zu den bereits bestehenden Ausschüssen überlassen bleiben müsse. Hier wird vor allem an die Schaffung eines besonderen Finanzausschusses zu denken sein.

3. Als besonders rasch reformbedürftig sei das Werkstättenwesen anerkannt und im Zusammenhang damit die Aufstellung von Lohntarifen. Auch die hierauf sich erstreckenden Fragen sind zweckmäßigerweise in den unter Nr. 2 erwähnten Ausschüssen zu prüfen11.

11

Als erstes Arbeitsergebnis legt der PrArbM am 29. 12. eine Denkschrift über die Neuordnung der Verwaltung der Eisenbahn-Hauptwerkstätten vor (R 43 I /1035 , Bl. 213–229). Oesers Eingriffe können jedoch die katastrophalen Betriebsverhältnisse in den Werkstätten Anfang 1920 nicht verhindern (vgl. Dok. Nr. 153, P. 1). – Zum Fortgang der Verreichlichungsverhandlungen s. Dok. Nr. 136.

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