1.5 (bru1p): IV. Innenpolitik in der Ära Brüning

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Die Kabinette Brüning I und II. Band 1 Das Kabinett Brüning I Bild 183-H29788NS-Wahlversammlung im Sportpalast Bild 102-10391Arbeitslose Hafenarbeiter Bild 102-11008Bankenkrise 1931 Bild 102-12023

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IV. Innenpolitik in der Ära Brüning

Wie alle Reichskanzler der Weimarer Republik handelte auch Brüning im Kräftefeld der Verfassungsorgane Reichspräsident, Reichsrat und Reichstag sowie der Parteien- und Interessenverbände. Charakteristisch für die Ära Brüning[LIV] – gleiches gilt für die Kabinette Papen und Schleicher – war der Funktionswandel der drei konstitutionellen Institutionen in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Regierung. Nicht mehr vom Vertrauen des Reichstags hing das Schicksal der Regierung ab, sondern vom Wohlwollen des Reichspräsidenten. Die Legislative ging allmählich vom Parlament auf das Staatsoberhaupt über, dessen Notverordnungen die ordentliche Gesetzgebung ersetzten. Dem Reichsrat wuchs neben seiner Funktion als Vertretung der Länder die Aufgabe zu, die Maßnahmen der Reichsregierung zu prüfen und abzusegnen, während die politische Mitwirkung des Reichstags darauf reduziert wurde, es nicht zur Aufhebung der Notverordnungen kommen zu lassen. In Brünings taktischem Kalkül spielte dabei Preußen eine Schlüsselrolle, da er mit der Drohung, das Zentrum aus der sozialdemokratisch geführten preußischen Koalition zurückzuziehen, im Reichsrat das größte Land und über den Ministerpräsidenten Braun die SPD-Fraktion im Reichstag jederzeit zum Wohlverhalten nötigen konnte238.

238

Vgl. Dok. Nr. 183.

Schwieriger gestaltete sich das Verhältnis zu Bayern, da die bayerische Staatsregierung gegenüber dem Reichskanzler den Koalitionspartner Bayerische Volkspartei als Druckmittel einsetzte. Trotz dieses schwierigen Partners hat Brüning im Reichsrat immer eine klare Mehrheit gefunden.

Ein Schlaglicht auf das gegenüber der Ländervertretung deutlich reduzierte politische Gewicht des Reichstags wirft der Rückgang offizieller Verhandlungen der Reichsregierung mit den Parteien: während aus der Amtsperiode des Kabinetts Brüning I 25 Vermerke über Besprechungen mit Parteien vorliegen, liegen aus der Zeit der Regierung Brüning II nur zwei derartige Aufzeichnungen vor.

Reichspräsident und Reichsregierung

Der Wandel der Verfassungswirklichkeit schlägt sich am augenfälligsten in den Beziehungen zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung nieder. In der Berufung Brünings zum Leiter des „Hindenburgkabinetts“ kam das besondere Vertrauen des Generalfeldmarschalls zum Reserveleutnant zum Ausdruck. Die Beteiligung des Reichspräsidenten auf die Besetzung einzelner Ministerien machte aber auch deutlich, daß Hindenburg stärker, als es anscheinend vorher geschehen war, seine Wertvorstellungen in praktische Politik umgesetzt sehen wollte. Leider geben die Akten der Reichskanzlei kaum Aufschluß über das persönliche Verhältnis zwischen dem Reichspräsidenten und dem Reichskanzler, da die Kabinettsprotokolle in der Regel ohne nähere Inhaltsangabe lediglich die Tatsache vermerken, daß Brüning bei Hindenburg Vortrag gehalten hatte239. Nach außen wahrte der Präsident seinem Kanzler die Loyalität. Bei allem Verständnis und Engagement für die Nöte und Forderungen der Landwirtschaft wies Hindenburg die Kritik agrarischer Standesvertreter an Brüning zurück und unterstrich wiederholt sein volles Vertrauen zur[LV] Politik des Reichskanzlers240. Bei den Empfängen von Interessenorganisationen beschränkte sich der Präsident auf die Rolle des aufmerksamen Zuhörers, der die Anregungen und Wünsche an die Reichsregierung weiterzuleiten und zu fördern zusagte, aber keinen Zweifel an seiner überparteilichen, jede Begünstigung partieller Gruppenegoismen ausschließenden Stellung gestattete241. Diese Stellung erlaubte ihm andererseits die direkte Intervention bei der Reichsregierung, wenn es ihm notwendig erschien. Er schaltete sich in den Streit zwischen der Reichsregierung und Bayern über die Steuervereinheitlichung ein, und im Mai 1931 forderte er den Reichskanzler in ultimativer Form auf, die Richtlinien der Osthilfe zu ändern. In der Endphase der Ära Brüning kritisierte Hindenburg unverhüllt die Arbeit der Reichsregierung; er verlangte von Reichsinnenminister Groener, neben der SA und SS auch das Reichsbanner zu verbieten, er äußerte Verständnis für die Ängste der Sparer und Rentner vor angeblichen inflationären Entwicklungen und ließ durch seinen Staatssekretär die Siedlungspläne des Osthilfekommissars Schlange-Schöningen torpedieren242.

239

Dok. Nr. 20, P. 4; 206, P. 7.

240

Dok. Nr. 147; 192; 196; 201.

241

Dok. Nr. 238; 251. Zum Kapitel der Überparteilichkeit des Reichspräsidenten gehört auch Hindenburgs Verhalten beim SA-Verbot in Dok. Nr. 723 und Dok. Nr. 728.

242

Dok. Nr. 285; 297; 723; 730; 766.

Politische Ungelegenheiten bereitete der Reichspräsident der Reichsregierung außerdem durch die unbeirrbare Betonung seiner Autorität und verfassungsmäßigen Rechte. Im Frühsommer 1930 zwang er unter Berufung auf seine Überparteilichkeit die preußische Regierung, das Stahlhelm-Verbot für die Provinzen Rheinland und Westfalen aufzuheben, und er ließ Brüning eingreifen, als das Kabinett Braun das Verbot einer kommunistischen Sportveranstaltung in Berlin zurücknahm und wegen des preußischen Volksentscheids allen Zeitungen den Abdruck einer regierungsamtlichen Verlautbarung auferlegte243.

243

Dok. Nr. 79, P. 2; 346; 348; 437; 440, P. 1.

Hindenburgs Interventionen in die Tagespolitik gehörten zu den Belastungen, welche die Regierung Brüning als Präsidialkabinett zu tragen hatte. Obgleich der Reichspräsident und seine Berater mit Brünings Berufung den Gedanken eines Präsidialkabinetts verwirklichen wollten – ein Gedanke, der schon seit längerem ventiliert worden war244 – steuerte der Reichskanzler zunächst seine Ziele auf dem normalen parlamentarischen Wege an. Freilich hatte Brüning gegenüber seinem Vorgänger den Vorteil, daß er dem widerstrebenden Reichstag mit der Auflösung und der Anwendung des Notstandsartikels 48 der Reichsverfassung drohen konnte. Da der Artikel 48, ursprünglich nur für den Ausnahmezustand konzipiert, bereits während der Inflation als Waffe gegen wirtschaftliche und finanzielle Notstände eingesetzt worden war, bestand kein Zweifel, daß er auch für die Sanierung des Haushalts angewendet werden konnte245.

244

Stürmer, Der unvollendete Parteienstaat – Zur Vorgeschichte des Präsidialregimes am Ende der Weimarer Republik, VfZG 21 (1973), S. 119–126.

245

Kreutzer, Der Ausnahmezustand im deutschen Verfassungsrecht, in: Fraenkel, Der Staatsnotstand, S. 27 ff.; Schulz: Artikel 48 in politisch-historischer Sicht, a.a.O., S. 51 ff.; Scheuner, Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Hermes und Schieder, Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik, S. 259 ff.

[LVI] Allerdings stellten sich dem Kabinett im Detail eine Reihe staatsrechtlicher Fragen. Da die Diktaturgewalt nach Artikel 48 bisher immer bei Präsenz des Reichstags ausgeübt worden war, bestand Unsicherheit über die Rechte, die eine geschäftsführende Regierung nach der Annahme eines Mißtrauensvotums hatte, und die Zulässigkeit von Notverordnungen nach einer Parlamentsauflösung. Das Kabinett ließ sich durch zwei Gutachten bestätigen, daß auch eine geschäftsführende Reichsregierung berechtigt sei, Verordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 gegenzuzeichnen. Ministerialdirektor Dorn warnte allerdings in seinem Votum vor der Konstellation, wie sie im Juli 1930 tatsächlich eintrat, daß nämlich der Reichspräsident die Auflösung des Reichstags mit der verfassungsmäßigen Aufhebung einer Notverordnung begründen mußte. Zunächst blieben diese Erwägungen theoretischer Natur, da die Mißtrauensanträge abgelehnt wurden und Brüning deshalb eine der beiden alternativen Auflösungsvollmachten – eine für die Auflösung vor und eine für die Auflösung nach der Annahme eines Mißtrauensvotums – nicht aus der roten Mappe zu ziehen brauchte246.

246

Dok. Nr. 5; 6; 7, P. 1.

Im Verlaufe der Etatsberatungen des Reichstags, bei denen sich eine Ablehnung der Regierungsvorlage abzeichnete, mußte sich das Kabinett erneut mit der Anwendung des Artikels 48 befassen. In der Ministerbesprechung vom 24. Juni 1930 stellte Brüning die Vorlage eines allgemeinen oder eine spezialisierten Ermächtigungsgesetzes im Zusammenhang mit dem Notstandsartikel zur Diskussion. Staatssekretär Joël sprach gegen ein spezielles finanzpolitisches Ermächtigungsgesetz, da die Reichsregierung im Falle einer Ablehnung die vorgesehenen Maßnahmen nicht mehr über den Artikel 48 in Kraft setzen könne. Dagegen habe die Regierung die volle Aktionsfreiheit, wenn ein allgemeines Ermächtigungsgesetz durchgefallen sei. Innenminister Wirth lehnte ein Ermächtigungsgesetz ab, weil es mit der demokratischen Verfassung unvereinbar sei. Er wollte ohne Mitwirkung des Reichsrats die Finanzvorlage durch Initiativanträge der Parteien im Reichstag einbringen lassen; würden diese Anträge scheitern, müsse die Regierung den Notstandsartikel anwenden. Da die Meinung über die Zweckmäßigkeit eines Ermächtigungsgesetzes im Kabinett geteilt und die notwendige Zweidrittelmehrheit im Reichsrat und Reichstag höchst zweifelhaft war, verzichtete Brüning auf diesen Weg der Selbstentmachtung des Parlaments. Damit fiel zugleich die Entscheidung für Artikel 48. Zwar meldeten Innenminister Wirth aus verfassungspolitischen und Reichsbankpräsident Luther aus kreditpolitischen Gründen Bedenken gegen die Haushaltsnotverordnung an, aber die Mehrheit der Minister folgte der Ansicht des Kanzlers, daß Verhandlungen mit der SPD zwecklos seien. Die vorhersehbare und einkalkulierte Konfrontation mit dem Reichstag war nicht mehr zu vermeiden: der Ablehnung der Deckungsvorlage folgte der Erlaß der Notverordnung, diese wurde vom Reichstag aufgehoben, worauf die Regierung mit der Reichstagsauflösung und der erneuten Verkündung der Notverordnung antwortete247.

247

Dok. Nr. 53, P. 1; 56; 75; 77; 79, P. 1; 80, P. 2; 81; 83; 86; 87; 90.

[LVII] Nicht die Notverordnungen vom 16. und 26. Juli 1930, sondern die Reichstagswahl vom 14. September 1930 markierten den Übergang von der parlamentarischen Regierung zum Präsidialkabinett. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Mitte und die Erfolge der radikalen Parteien paralysierten die legislatorische Arbeit des Reichstags und stärkten die Absicht der Regierung, ihr Sanierungsprogramm auf dem Verordnungswege zu verwirklichen. Eine Wiederbelebung der Großen Koalition, wie sie der Reichsverband der Deutschen Industrie ventilierte, oder der Vorschlag des Stahlindustriellen Albert Vögler, ein verfassungsänderndes Ermächtigungsgesetz mit einer breiten Mehrheit von SPD bis DNVP zu verabschieden, hatten nicht die geringsten Erfolgsaussichten248.

248

Dok. Nr. 113; 178.

Die Absicht, das Sanierungsprogramm über den Artikel 48 in Kraft zu setzen, enthielt erhebliche verfassungsrechtliche Risiken für Hindenburg und Brüning. Durfte der Reichspräsident Gehaltskürzungen nicht nur für Reichsbeamte, sondern auch für Bedienstete der Länder und Gemeinden verfügen? Konnte er mit einer Verordnung, welche die Höhe der Ausgaben des Reichs, der Länder und Gemeinden senkte und für mehrere Jahre einschränkte, das Budgetrecht des Reichstags und die Eigenständigkeit der Länder beschneiden? War er überhaupt generell befugt, verfassungsändernde Notverordnungen zu erlassen? Es erschien zumindest zweifelhaft, daß eine langfristig angelegte Ausgabenbegrenzung begründet werden könne mit der Wiederherstellung der erheblich gestörten oder gefährdeten öffentlichen Sicherheit und Ordnung, und Pünder, der diese Zweifel auszuräumen sich bemühte, argumentierte nicht zufällig politisch und nicht juristisch. Unzweifelhaft aber bedeutete die Gehaltskürzung, wenn eine Novellierung des Reichsbesoldungsgesetzes nicht möglich war, einen Eingriff in die wohlerworbenen Rechte der Beamten und verstieß damit gegen die Verfassung, da die Aufzählung der Grundrechte im Artikel 48, Abs. 2, die eingeschränkt oder aufgehoben werden konnten, als limitativ und nicht als exemplifikatorisch verstanden wurden249. Insgesamt kristallisierte sich in den Stellungnahmen jedoch die übereinstimmende Auffassung heraus, daß die Reichsregierung ihren Sanierungsplan als Notverordnung erlassen könne250.

249

Hierzu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (1930), S. 252.

250

Dok. Nr. 170; 172; 175; 179.

Bemerkenswert war die Kabinettsdiskussion über die Form der Notverordnung. Der sächsische Ministerialdirektor Fritz Poetzsch-Heffter hatte vorgeschlagen, den Inhalt der Notverordnung auf eine Ermächtigung des Reichspräsidenten an die Reichsregierung zu beschränken, in der die einzelnen Gesetzentwürfe genannt würden, welche die Regierung als Ausführungsverordnungen mit Zustimmung des Reichsrats erlassen solle. Der Reichstag könne dann nur die Notverordnung aufheben, nicht aber die Ausführungsverordnungen. Diese könne der Reichstag nur durch ein Initiativgesetz aussetzen, gegen das der Reichsrat sicherlich Einspruch erheben würde, und dieses Veto dürfe der Reichstag nur mit einer Zweidrittelmehrheit, die nie zustande kommen würde, überstimmen. Die Minister erkannten an, daß dieser Vorschlag der Verlagerung des politischen Gewichts vom Reichstag auf den Reichsrat und damit dem seit dem[LVIII] Frühjahr 1930 eingetretenen Verfassungswandel Rechnung trug, sie lehnten dennoch diesen Vorschlag ab, damit die Regierung, die sich gerade aus der Abhängigkeit vom Reichstag befreit hatte, nicht auf das Wohlwollen des Reichsrats angewiesen sei251.

251

Dok. Nr. 183.

Diese Erörterung über die Form der Notverordnung vom 1. Dezember 1930 beendete die Diskussion über die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Brüning den Artikel 48 handhabte; wie unangefochten die Regierung in ihrer Notverordnungspraxis war, macht ein Zahlenvergleich zwischen den ordentlichen Gesetzen und den Notverordnungen der Jahre 1930–1932 deutlich, der zugleich ein Schlaglicht auf die Ohnmacht des Reichstags wirft: den 29 ordentlichen Reichsgesetzen stehen 109 Notverordnungen gegenüber252.

252

Kreutzer, Der Ausnahmezustand im deutschen Verfassungsrecht, in: Fraenkel, Der Staatsnotstand, S. 35.

Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Hindenburg und Brüning, das im Laufe des Jahres 1931 schon mancherlei Belastungen ausgesetzt war253, zerbrach in der Kampagne für die Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932. Hindenburgs erste Amtszeit lief im März 1932 ab. Der Kanzler hatte ihn schon im Herbst 1931 gebeten, sich für eine neue Kandidatur bereit zu stellen, und ihn in die politische Perspektive, die Hohenzollernmonarchie zu restaurieren, eingeweiht. Da Brüning eine Rückkehr Wilhelms II. oder des Kronprinzen aus innenpolitischen Gründen ablehnte, der Generalfeldmarschall sich jedoch weigerte, für einen anderen Hohenzollern als seinen allerhöchsten Kriegsherrn die Reichsverweserschaft zu übernehmen, blieb auf beiden Seiten eine tiefe Verstimmung aus diesen Gesprächen zurück254.

253

Hierzu generell Brünings Memoiren.

254

Brüning, Memoiren, S. 453 ff.; Wheeler-Bennett, Der hölzerne Titan, S. 363 f.

Hindenburg, der im September 1931 einen Schwächeanfall erlitten hatte, zeigte überdies wenig Neigung, sich den Strapazen des Wahlkampfes auszusetzen. Der Kanzler verfolgte deshalb den Plan, die Wahlperiode des Reichspräsidenten durch den Reichstag verlängern zu lassen. Eine kleine Kabinettsrunde kam in einer Besprechung zu dem Ergebnis, daß eine ganz kurze Verlängerung der Amtsperiode, wobei dem Reichspräsidenten überlassen bleiben sollten, den Zeitpunkt seines Rücktritts selbst zu wählen, eine unzweckmäßige Lösung sei. Das Einfachste sei ein verfassungsänderndes Gesetz mit einer neuen gesetzmäßigen Wahlperiode.

Mit diesem Vorschlag, den Hindenburg auch akzeptierte, geriet der Kanzler zwischen zwei Feuer: einerseits mußte er eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags für die Verfassungsänderung gewinnen, andererseits verknüpfte Hindenburg die Amtsverlängerung mit Vorbedingungen. Der Präsident erklärte dem Regierungschef, daß ihm das Amt als vollendete Tatsache in die Hände gelegt werden müsse, da er nicht geneigt und in der Lage sei, sich einer neuen Wahlkampagne auszusetzen; außerdem dürfte die Verfassungsänderung nicht zu Schachergeschäften zwischen den Regierungsparteien und anderen politischen Gruppen führen; schließlich dürfe nicht der Eindruck entstehen, als herrsche[LIX] im deutschen Volk Uneinigkeit über diese Grundfragen der Nation. Hindenburg drohte auch unverhüllt, daß er jeden Versuch einer Verschiebung der preußischen Landtagswahl im Frühjahr 1932 verhindern werde. Brüning kehrte in die Reichskanzlei mit dem Eindruck zurück, daß dem „alten Herrn“ der Entschluß, sich erneut zur Verfügung zu stellen, sehr schwer falle. Vor allem sei er darüber betroffen, daß alte Kameraden ihm die Treue aufgekündigt hätten und gegen ihn agitierten255.

255

Dok. Nr. 617.

Für die Verlängerung der Amtsperiode durch den Reichstag anstelle einer Volkswahl benötigte Brüning die Zustimmung der nationalen Opposition. Zunächst sondierte der Reichskanzler bei der stärksten Oppositionspartei, der NSDAP. In einer Reihe von Besprechungen, an denen auf der einen Seite Brüning, Staatssekretär Meissner, Innenminister Groener, Treviranus und General Schleicher, auf der anderen Seite Hitler, Göring, Frick und Röhm teilnahmen, beklagten sich die Nationalsozialisten über die politische Diffamierung von NSDAP-Mitgliedern und forderten als Preis für ihre Zustimmung die sofortige Reichstagsauflösung. Der DNVP-Vorsitzende Hugenberg, der offensichtlich darüber verärgert war, daß Brüning ihm Hitler vorgezogen habe, verschleppte mehrere Termine beim Reichskanzler und ließ der Präsidialkanzlei die ablehnende Haltung der DNVP zur Verfassungsänderung mitteilen. Auch Hitler schloß sich diesem Schritt an. Während die NSDAP-Führung ihre Ablehnung mit verfassungsrechtlichen Bedenken begründete, aber den Eindruck erweckte, daß sie der Volkswahl Hindenburgs keine Hindernisse in den Weg legen würde, beschuldigte Hugenberg mit „schroffen und unverbindlichen Ausführungen“ (Pünder) die Reichsregierung der Abhängigkeit von der SPD, bezeichnete die parlamentarische Wahl weniger als eine Vertrauenskundgebung für Hindenburg, als für die von ihm bekämpfte Außenpolitik der Reichsregierung und forderte Brüning zum Rücktritt auf. Der Reichspräsident bedauerte, daß die Angelegenheit trotz seiner ausdrücklichen Mahnung in den Strudel des Parteienhaders geraten war, war aber dennoch bereit, sich einer Direktwahl zu stellen, wenn ein eigentlicher Wahlkampf vermieden werde und er der Kandidat des überwiegenden Teils des deutschen Volkes sei256.

256

Dok. Nr. 622; 623; 626. Antwort des RK an Hitler in Dok. Nr. 642.

Die Parteien und Verbände der Harzburger Front enttäuschten auch diese Erwartung Hindenburgs. Zwar schien es einige Tage, als würde der „Stahlhelm“ sein Ehrenmitglied unterstützen, aber Hugenbergs Druck auf den Bundesführer Seldte war stärker als die Überzeugungskraft des Reichskanzlers. Die Zerstrittenheit der Harzburger Front wurde allerdings in dem Unvermögen offenbar, sich auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu einigen, so daß schließlich neben Hindenburg Hitler für die NSDAP, Duesterberg für die DNVP und den „Stahlhelm“ und Thälmann für die KPD kandidierten.

Diese Entwicklung wurde dem Reichskanzler zur Last gelegt, der es nicht verstanden habe, den Reichspräsidenten aus dem Parteiengezänk herauszuhalten. Dieser Groll nährte die Vorstellung, Brüning brauchte nur sein Amt zur Verfügung[LX] zu stellen, dann sei der Weg frei für die nationale Opposition, sich wie 1925 geschlossen hinter Hindenburg zu stellen. Staatssekretär Meissner brachte gegenüber Staatssekretär Pünder diesen Gedanken als rein formalen Rücktrittsangebot ins Spiel, aber Brüning durchschaute die Intrige. Er konterte mit dem Angebot seines Rücktritts, wenn Hindenburg nur dadurch die gesamten Rechte für sich gewinnen und den Sieg des Präsidentschaftskandidaten Hitler verhindern könne. Die listige Anregung Meissners, die Hindenburg vom Odium des Treuebruchs befreit hätte, der Reichskanzler möge sein Rücktrittsgesuch außenpolitisch motivieren, lehnte Brüning strikt ab; vor der Geschichte müsse über die wahren Gründe absolute Klarheit geschaffen werden. Seine feste Haltung bewirkte einen Stimmungsumschwung beim Reichspräsidenten, der in einer Besprechung mit großer Emphase, die einer gewissen Sentimentalität nicht entbehrte, jeden Gedanken an einen Rücktritt Brünings zurückwies. Gleichwohl dauerte es noch über 14 Tage, bis der Reichspräsident am 15. Februar 1932 seine Kandidatur offiziell bekanntgab257.

257

Dok. Nr. 646; 657; 665; 673.

 

Unterstützt wurde Hindenburg von den Parteien der Weimarer Koalition, während die Mehrheit seiner Wähler von 1925 den Gegenkandidaten der Rechten zulief. Diesem Trend versuchte die Reichsregierung mit überparteilichen Hindenburg-Wahlausschüssen zu begegnen, die die konservativen Stimmbürger gewinnen sollten. Die Organisation, die in den Händen des Berliner Oberbürgermeisters Sahm lag, arbeitete anfangs mit der Schwerfälligkeit eines Honoratiorenvereins und kam erst in Schwung, als der ehemalige Staatssekretär in der Reichskanzlei Franz Kempner die Leitung übernahm. Kempners Richtlinien für die Wahlpropaganda betonten die Überparteilichkeit Hindenburgs, der allein den inneren Frieden Deutschlands garantieren könne. Die Gesamtkosten für die Wahlpropaganda veranschlagte Kempner auf 567 000 RM, bei sparsamer Bewirtschaftung auf über 243 000 RM. Die Finanzierung des Wahlkampfes erwies sich als unerwartet schwierig, weil sich herausstellte, daß die Schulden der Hindenburg-Kampagne von 1925 noch nicht bezahlt waren258.

258

Dok. Nr. 647; 680; Brüning, Memoiren, S. 531.

Die Last des Wahlkampfs trug im wesentlichen der Reichskanzler, der an vier Tagen vier große Versammlungsreden hielt, während der Reichspräsident lediglich mit einer Rundfunkrede hervortrat. Bei der Wahl am 13. März 1932 verfehlte der Reichspräsident knapp die absolute Mehrheit, so daß ein zweiter Urnengang am 10. April notwendig wurde, den Hindenburg deutlich für sich entscheiden konnte. Doch dieser Wahlsieg besiegelte das Schicksal der Regierung Brüning. Hindenburg war entschlossen, die Demission des Kabinetts anzunehmen, lediglich Brünings Hinweise auf die laufenden außenpolitischen Verhandlungen verzögerten den lange beschlossenen Sturz um anderthalb Monate259.

259

Brüning, Memoiren, S. 352 f.; S. 356 f.; S. 541 f.; Wheeler-Bennett, Der hölzerne Titan, S. 378–381.

[LXI] Reichsregierung und Länder

Die Beziehungen der Kabinette Brüning zu den Ländern wurde durch die Tatsache geprägt, daß diese finanzielle Kostgänger des Reichs waren; die Reichsregierung konnte mit dem Instrument der Steuerzuweisungen indirekt oder auch massiv politischen Druck auf die Länder ausüben260, trug aber andererseits eine hohe Verantwortung für deren finanzielle Stabilität. Diese Konstellation verursachte unvermeidlich Reibungen zwischen den Staatsregierungen und dem Reichskabinett und Spannungen im Reichsrat. Brüning machte allerdings auch in den ersten Tagen seiner Amtszeit die Erfahrung, daß im Reichsrat nicht nur die Interessen der Länder zur Sprache kamen, sondern ebenso die parteipolitischen Frontstellungen des Reichstags. Bei den Beratungen der Haushaltsvorlage im Reichsrat hatten die deutschnationalen Vertreter Ostpreußens die von der Reichsregierung noch nicht geplante Einstellung der ersten Rate für den zweiten Panzerschiffneubau durchgesetzt, von sozialdemokratischer Seite war dafür im Etat des Reichsarbeitsministeriums ein einmaliger Betrag von 1 Million RM für Kinderspeisung eingesetzt worden – ein Nachklang der Wahlkampfauseinandersetzungen von 1928. Die Reichsregierung verzichtete auf eine Doppelvorlage, da für diese Abänderungen keine Mehrheit im Reichstag zu erwarten war261.

260

Vgl. die finanziellen Sanktionen gegen Thüringen und Braunschweig: Dok. Nr. 20, P. 6; 156.

261

Dok. Nr. 19, P. 1; 20, P. 3; Änderungswünsche zu anderen Gesetzesvorlagen der RReg. durch den RR führten dagegen zu Doppelvorlagen: Dok. Nr. 9, P. 1; 57, P. 1.

Diese Eigeninitiative hat der Reichsrat eigentlich nur während der parlamentarischen Phase der Ära Brüning – also bis zur Reichstagsauflösung im Juli 1930 – entwickelt. Die Ländervertretung erfuhr zwar im Herbst 1930 eine vom Reichskanzler bewußt geförderte Aufwertung gegenüber dem Parlament, da sie das Finanz- und Wirtschaftsprogramm der Regierung beraten konnte, während es dem Reichstag als Notverordnung oktroyiert wurde, aber Brüning wies den Versuch Poetzsch-Heffters kompromißlos zurück, den Reichsrat anstelle des Reichstags als Kontrollorgan für die Notverordnungen zu etablieren262.

262

Dok. Nr. 148, P. 3; 173, P. 6; 183. Zur Aufwertung des RR vgl. Brüning, Memoiren, S. 174 f. und Mommsen, Heinrich Brünings Politik als Reichskanzler. Das Scheitern eines politischen Alleingangs in: Holl, Wirtschaftskrise und liberale Demokratie, S. 35 f.

Die Aufwertung der Länderkammer war nur von kurzer Dauer. Bei der Vorbereitung der Notverordnung vom 5. Juni 1931 wurden die Länder nicht beteiligt, die Reichsregierung informierte die Ministerpräsidenten lediglich in groben Zügen über den Inhalt der beschlossenen Maßnahmen. Brüning rechtfertigte die offensichtliche Ausschaltung des Reichsrats damit, daß das Kabinett der Entschließung des Reichspräsidenten nicht vorgreifen könne, und erklärte, daß die Sanierung der Reichsfinanzen absoluten Vorrang habe, während den Ländern und Gemeinden keine andere Wahl bleibe, als sich selbst zu helfen. Der Kanzler ignorierte die Vorstellungen der Ministerpräsidenten und ging nach gleichem Muster in einer Besprechung mit den Länderchefs vor, die am Vortag des Erlasses der Notverordnung vom 7. Oktober 1931 stattfand. Eine[LXII] vorherige Unterrichtung der Ministerpräsidenten wegen der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 hielt Brüning schließlich für überflüssig263. Die Notverordnungen Brünings haben also nicht nur zur Entmachtung des Reichstags, sondern ebenso des Reichsrats geführt.

263

Dok. Nr. 320; 509. In diesen Zusammenhang gehört auch Dok. Nr. 438 mit der Bitte des RR um Unterrichtung über die Bankenkrise.

Welche Haltung nahm Brüning zur Frage der Reichsreform ein? Seine Regierungen haben zu diesem heiß umstrittenen Problem keine sichtbare Initiative ergriffen. Dies ist deshalb verwunderlich, weil Brüning als einziger Reichstagsabgeordneter Mitglied der 1928 konstituierten Länderkonferenz zur Verfassungs- und Verwaltungsreform war, und er als ein Anhänger der Reichsreform galt264. Tatsächlich hat Brüning, anders als Reichsbankpräsident Luther, keine spektakulären Programme verkündet, sondern er hat über die Finanzpolitik unauffällig die Reichsreform vorbereitet. Die Erschließung neuer Einnahmequellen für Länder und Gemeinden in den Notverordnungen vom 26. Juli 1930, 1. Dezember 1930 und 24. August 1931 hatten neben der Entlastung der Reichsfinanzen den durchaus erwünschten Nebeneffekt, Länder und Gemeinden zur Eigenverantwortung zu zwingen. Brüning rechnete damit, daß die Mehrzahl der kleineren Länder die Last der Verantwortung nicht lange würde tragen können, so daß dann der Weg zur Reichsreform frei sein würde265. Den Staatsregierungen blieb diese Absicht nicht verborgen. Schon das Wirtschafts- und Finanzprogramm vom Herbst 1930 erweckte bei den Ländern Mißtrauen und Warnungen vor finanziellen Maßnahmen, die den verfassungsmäßigen Weiterbestand und die Lebensfähigkeit der Länder gefährden könnten266.

264

Dok. Nr. 33, P. 4; 52, P. 4. Brüning, Memoiren, S. 124 f.

265

Von besonderer Bedeutung für diese Taktik war die sogenannte Dietramszeller NotVO vom 24.8.31: Dok. Nr. 454, P. 6; Brüning, Memoiren, S. 372 ff. Vgl. auch die ablehnende Haltung der RReg. gegenüber dem Versuch Badens, die Verantwortung für die Gehaltskürzung der badischen Beamten auf das RKab. abzuwälzen: Dok. Nr. 372, P. 2.

266

So der Bayerische MinPräs. Held in Dok. Nr. 139; ähnlich der Hess. FM Kirnberger in Dok. Nr. 145.

Was die größeren Territorien als Folge des Regierungsprogramms befürchteten, war in den beiden Mecklenburg bereits eingetreten; Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz waren trotz ihrer überwiegend agrarisch orientierten Wirtschaftsstruktur nicht in die Osthilfe einbezogen worden und standen vor dem Staatsbankrott. Strelitz bemühte sich erfolglos um einen Anschluß an Preußen, und der schwerinsche Minister Haack drohte, der Zusammenbruch seines Landes werde unweigerlich das Problem der Reichsreform aufrollen – eine Drohung, die auf den Reichskanzler keinen Eindruck machte267.

267

Dok. Nr. 160. Vgl. auch Haacks Schreiben vom 30.7.31, in dem er vom Reich noch härtere Sparmaßnahmen als bisher forderte und die Ausschaltung der Länder aus der Reichspolitik beklagte: Dok. Nr. 421.

Die Finanzkrise traf jedoch die industrialisierten Länder mit gleicher Härte. Sachsen, das sich besonders im Vergleich zu Preußen in der Vergabe von Industrieaufträgen vom Reich benachteiligt fühlte, litt besonders stark unter der Arbeitslosigkeit. Die hohe Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen führte nicht nur zur Zahlungsunfähigkeit der Gemeinden, die der sächsische Staat wegen des[LXIII] Rückgangs der Reichsüberweisungssteuern kaum noch verhindern konnte, sondern auch zur Radikalisierung der Bevölkerung. Da die Reichsregierung eine wirksame Hilfe ablehnte, stieg das ungedeckte Defizit des sächsischen Haushalts im Mai 1932 auf 22 Millionen RM. Sachsen war aber nur ein Beispiel für alle. Alle Länder beschwerten sich bereits im September 1931 über die ruinösen Folgen der Dietramszeller Notverordnung vom August 1931268.

268

Zur Notlage Sachsen Dok. Nr. 224; 254; 432; 746. Die Auswirkungen der Dietramszeller NotVO beleuchten Dok. Nr. 459; 470; 471. Zur Finanzkrise des Stadtstaates Hamburg Dok. Nr. 744.

Im Frühjahr 1932 moche Brüning gehofft haben, daß die finanzielle Strangulierung der Länder die Reichsreform in greifbare Nähe gerückt habe, gleichzeitig hatte die Erbitterung über den Restriktionskurs des Kanzlers und seines Finanzministers jedoch einen derartigen Umfang erreicht, daß selbst Oberbürgermeister, die Dietrichs Staatspartei angehörten, offen sagten, „daß ein baldiger Sturz der Reichsregierung in keiner Weise unzweckmäßig wäre“269.

269

Vermerk Pünders vom 4.4.32, Dok. Nr. 707.

Während Brüning die Beschwerden der mittleren und kleinen Länder weitgehend außer acht lassen konnte, weil sie sich letztlich doch dem Willen der Reichsregierung beugen mußten, fand der Kanzler in dem bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held einen geschickten und hartnäckigen Gegenspieler. Bayern sah sich als Bastion des Föderalismus, es pflegte sein althergebrachtes Sonderbewußtsein, pochte auf die verfassungsmäßig garantierten Reservatsrechte und argwöhnte in jedem größeren innenpolitischen Vorhaben des Reichskanzlers einen unitarischen Angriff. Neben den regelmäßigen Bedenken gegen die großen Finanznotverordnungen270 kam es vor allem wegen der Steuervereinheitlichung und der bayerischen Postabfindung zu größeren Konflikten zwischen dem Reich und dem Freistaat.

270

Dok. Nr. 139; 320; 513.

Der Streit über die Steuervereinheitlichung entzündete sich an den Bestimmungen der Notverordnung vom 1. Dezember 1930 über die Senkung der Realsteuern. Der BVP-Vorsitzende Fritz Schäffer teilte dem Reichskanzler in einem Schreiben vom 16. Dezember 1930 mit, daß seine Partei diese Regelung als einen Verfassungsverstoß ansehe und eine Klage beim Staatsgerichtshof erwäge. Brüning wies in seiner Antwort vom 3. Januar 1931 den Vorwurf der Verfassungsverletzung zurück, stimmte aber Schäffers Vorschlag zu, den Reichspräsidenten als Vermittler einzuschalten. Eine Besprechung zwischen Held, Schäffer und Brüning am 15. Januar 1931, in der die bayerischen Vertreter mit der Abberufung des Postministers Schätzel drohten, was Brüning mit seinem eigenen Demissionsangebot parierte, endete mit dem gemeinsamen Beschluß, dem Staatsgerichtshof den Fall zu übergeben. Vor der eigentlichen Entscheidung fand am 27. April 1931 beim Reichspräsidenten ein Versöhnungsversuch statt, der jedoch fehlschlug, weil weder Schäffer noch Hindenburg bereit waren, ihre Rechtsstandpunkte aufzugeben. Eine Schlichtungsvereinbarung, der die Reichsregierung und das bayerische Kabinett zugestimmt hatten, drohte zunächst[LXIV] an der Weigerung Bayerns zu scheitern, die Klage zurückzuziehen; die Münchner Regierung gab aber schließlich nach271.

271

Dok. Nr. 200; 213; 219; 285; 321, Anm. 7.

Schwierigkeiten hatte der Kanzler auch wegen der Postabfindung, die das Reich wegen der Übernahme der bayerischen Post zahlen mußte. Nach einer heftig geführten mündlichen Auseinandersetzung wurde Ende Oktober 1930 eine Einigung erzielt. Die endgültige Regelung der württembergischen Postabfindung veranlaßte jedoch die bayerische Regierung, in neue Verhandlungen mit dem Reichskabinett einzutreten, und sie konnte tatsächlich die gleichen günstigen Konditionen wie Württemberg erreichen272.

272

Dok. Nr. 155; 638; 639; 685.

Die Frontstellung Bayerns gegen das Reich führte anscheinend auch zu persönlichen Spannungen zwischen Brüning und Held; den Kanzler kränkte es sicherlich, daß seine Maßnahmen zur Überwindung der Bankenkrise als Staatssozialismus und Bolschewisierung angeprangert wurden, und der bayerische Ministerpräsident die rigorosen Forderungen der Industrie nach Aufhebung der Lohntarifbindung und der Arbeitslosenversicherung unterstützte273.

273

Dok. Nr. 439; 513. Zur Beurteilung der bayerischen Politik durch Brüning s. dessen Memoiren, S. 204 und S. 303.

Zu den sozialdemokratischen Mitgliedern der preußischen Regierung hatte Brüning ein von gegenseitigem Respekt und Hochachtung getragenes Verhältnis, obwohl ihm Otto Braun und Carl Severing politisch und ideologisch ferner standen als Heinrich Held und Fritz Schäffer. Die menschlich harmonischen Beziehungen erlaubten es beiden Seiten, ernsthaft die Möglichkeit der Personalunion von Reichskanzler und Preußischem Ministerpräsidenten und von Reichs- und Preußischem Finanzminister zu erörtern274. Konflikte zwischen dem Reich und Preußen entstanden zum einen aus der persönlichen Verärgerung des Reichspräsidenten über politische Aktionen der preußischen Weimarer Koalition, die Brüning in eine Vermittlerrolle drängten, zum anderen aus den finanziellen Forderungen Preußens an die Reichsregierung.

274

Zur Beurteilung Brauns und Severings: Brüning, Memoiren, S. 198 und S. 208; zu den Diskussionen über die Personalunion im Reich und Preußen S. XXXI und Dok. Nr. 52, Anm. 4; Braun, Von Weimar zu Hitler, S. 211 f. und Brüning, Memoiren, S. 176, S. 274 f. und S. 483.

Typisch für derartige Querelen zwischen Hindenburg und Braun waren die Auseinandersetzungen über die Aufhebung des Stahlhelmverbots im Juli 1930, der Streit um die Zulassung der Spartakiade, einer kommunistischen Sportveranstaltung in Berlin im Juni 1931, und die Intervention des Reichspräsidenten wegen der allen Zeitungen aufgenötigten Presseverlautbarung der Preußischen Regierung gegen das Volksbegehren der rechten Oppositionsparteien zur Auflösung des Preußischen Landtags im August 1931275 . Diese Krisen machten wieder einmal Brünings Dilemma deutlich, mit der Tolerierung durch die Linke gegen den Widerstand der Rechten eine konservative Politik zu betreiben, wobei die preußische Regierung dem Reichskanzler als Werkzeug zur Zähmung der SPD-Fraktion im Reichstag diente.

275

Dok. Nr. 79, P. 2 (Stahlhelmverbot); Dok. Nr. 346 und Dok. Nr. 348 (Spartakiade); Dok. Nr. 437 und Dok. Nr. 440, P. 1 (Volksbegehren).

[LXV] Die Finanz- und Wirtschaftspolitik des Reichskabinetts wurde von der Regierung Braun loyal unterstützt. Durch eigene Ausgabensenkungen beteiligte sich Preußen am Sparprogramm des Reichs, obwohl der Ministerpräsident kritisierte, daß die Kürzungen der Ministergehälter zu einem Autoritätsverlust führen könnten276. Der finanzielle Engpaß, in den das Land durch die Wirtschaftskrise geriet, wurde im Herbst 1930 sichtbar, als Preußen Schwierigkeiten hatte, die finanziellen Verpflichtungen aus dem Osthilfeabkommen mit der Reichsregierung zu erfüllen277. Besonders prekär wurde die preußische Haushaltslage durch die Verschuldung und Überlastung der Gemeinden mit der Wohlfahrtserwerbslosenfürsorge. Severing forderte als Polizeiminister die Reichsregierung zur Hilfe auf, weil andernfalls Hungerrevolten als unausbleibliche Folge der kommunalen Zahlungsunfähigkeit im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland drohten. Brüning und Dietrich konnten jedoch wegen der eigenen Defizite keine Hilfe zusagen und ermahnten das Land und die Gemeinden zur schärfsten Sparsamkeit. Die preußischen Etatsschwierigkeiten vergrößerten sich aber derart, daß der preußische Finanzminister Klepper im Herbst 1931 erneut einen Bittgang zur Reichsregierung unternehmen mußte. Nach langwierigen Verhandlungen erklärte sich Brüning im Frühjahr 1932 bereit, dem Land 100 Millionen RM für die Übertragung der Preußischen Siedlungsbank zu zahlen. Mit dieser Summe konnte das Staatsministerium noch vor der preußischen Landtagswahl vom 25. April 1932, die die politische Landschaft völlig veränderte, das Haushaltsdefizit abdecken278. Hinter Brünings Haltung verbarg sich die Absicht, über die Finanzpolitik auch Preußen für seine Reichsreformpläne zu gewinnen. Für Brünings Behauptung in den Memoiren, die Regierung Papen habe seine Notverordnungsentwürfe für den „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 mißbraucht, liefern die Akten der Reichskanzlei keinen Beleg279.

276

Dok. Nr. 128.

277

Dok. Nr. 148, Anm. 37. Vgl. S. XLVI.

278

Zu den Verhandlungen Dok. Nr. 253; 261; 446; 566; 575; 613; 656; 689; 690.

279

Brüning, Memoiren, S. 569 f. und S. 618 f.

Reichsregierung, Reichstag und Parteien

Von Anbeginn an stand die Reichsregierung unter Brüning in einem gespannten Verhältnis zu ihrem parlamentarischen Kontrollorgan. Weil sie nicht über eine stabile Abgeordnetenmehrheit verfügte, verfolgte Brüning das Ziel, die Rechte des Reichstags zu beschneiden. Der parlamentarische Rückhalt des Kabinetts war in den ersten vier Monaten der Amtsperiode so schwach, daß sich der Parteifreund des Kanzlers Thomas Esser als Vizepräsident des Reichstags mehrfach veranlaßt sah, die Abstimmungsergebnisse zugunsten der Regierung zu manipulieren280. Ein Blick auf die Sitzungsperioden des Reichstags in der Ära Brüning lehrt jedoch, daß sich die Regierung der parlamentarischen Aufsicht mit Erfolg entzog: während vom Tag der Regierungserklärung am 1. April 1930 bis zur Auflösung des Parlaments am 18. Juli 1930 53 Reichstagssitzungen[LXVI] stattfanden, hielt der am 14. September 1930 gewählte Fünfte Reichstag im Jahr 1930 nur noch 14 Sitzungen ab. Im Krisenjahr 1931 wurde die Volksvertretung zu insgesamt 42 Tagungen zusammengerufen, im Jahr 1932 versammelten sich die Abgeordneten bis zu Brünings Sturz am 30. Mai 1932 insgesamt achtmal. Seit dem 18. Juli 1930 unterlag die Regierungstätigkeit also keiner permanenten parlamentarischen Kontrolle mehr281. Daß der Reichstag auch seine Rolle als Gesetzgebungsorgan nicht mehr ausfüllte, wurde bereits erwähnt282.

280

Dok. Nr. 42.

281

RT-Bd. 427 : 152. Sitzung vom 1.4.30 – 168. Sitzung vom 20.5.30; RT-Bd. 428 : 169. Sitzung vom 21.5.30 – 204. Sitzung vom 18.7.30. In der 5. Wahlperiode fanden sechs Sitzungen vom 13.–19.10.30 und acht Sitzungen vom 3.–12.2.30 statt. Der RT tagte dann wieder zwölfmal vom 3.–14.2.31 (RT-Bd. 444 ) und an 26 Tagen vom 19. 2. – 26.3.31 (RT-Bd. 445 ). RT-Bd. 446  verzeichnete je 4 Sitzungen vom 13.–16.10.31, vom 23.– 26.2.32 und vom 9.–12.5.32.

282

S. LVIII und Anm. 252. Schulz: Artikel 48 in historisch-politischer Sicht, in Fraenkel, Der Staatsnotstand, S. 67; 1930 wurden 5 Notverordnungen erlassen, 1931 44 und 1932 60.

In seinem Bemühen, die Befugnisse des Reichstags einzuschränken, versuchte Brüning zunächst, die Regierung aus der Konfrontation mit der oppositionellen Mehrheit herauszuhalten und stattdessen den Koalitionsparteien die scheinbare Initiative zu überlassen. Diese Taktik bewährte sich selbst noch nach der Auflösung am 18. Juli 1930 im Wahlkampf283.

283

Dok. Nr. 94.

Das Wahlergebnis vom 14. September 1930 zwang jedoch den Reichskanzler, seine Reserve aufzugeben, da weder das finanzielle und wirtschaftliche Reformprogramm, noch die Vorlage eines Wahlreformgesetzentwurfs, der vor allem die bürgerlichen Parteien begünstigte, noch die, wenn auch bescheidene Intensivierung der Regierungspropaganda284 dem Kanzler zu der erhofften Mehrheit verholfen hatte. Der Erfolg der Kommunisten und der Durchbruch der Nationalsozialisten, die am 14. September zur zweitstärksten Partei im Reichstag aufstiegen, waren ein Ergebnis, „das selbst von Pessimisten nicht erwartet worden war“. Staatssekretär Pünder, der in einem Vermerk das Wahlergebnis analysierte, beruhigte sich jedoch mit der Feststellung, daß die Fraktionen der NSDAP und der DNVP gemeinsam kaum mehr Mandate errungen hatten als in der Reichstagswahl vom Mai 1924. Wenn Pünder an der Wahlniederlage der liberalen Parteien und der Volkskonservativen auch nicht deuteln konnte, so interpretierte er andererseits die Stimmengewinne des Zentrums als Einverständnis der Wähler mit dem Sanierungsprogramm der Reichsregierung285. Die Kräfteverhältnisse im Wallotbau ließen allerdings keinerlei Beschönigungen zu: das Kabinett stützte sich auf höchstens 197 Mandate, während die Oppositionsparteien über 368 Sitze verfügten. Unter diesen Bedingungen konnte Brüning seine Politik nur dann erfolgreich fortsetzen, wenn die Volksvertretung ihre verfassungsmäßigen Rechte gegenüber dem Reichsministerium nicht voll ausschöpfte. Die Selbstentmachtung des Parlaments war über eine Vertagung des Plenums und über eine Änderung der Geschäftsordnung zu erreichen. Die Einwirkungsmöglichkeiten der Regierung waren freilich begrenzt,[LXVII] da eine Reform des Reichstags, die auf einen Machtzuwachs der Exekutive zu Lasten der Legislative zielte, nur in Kooperation mit den Parteien zu erreichen war. In der Frage der Vertagung des Reichstags, die dem Kanzler den notwendigen Spielraum für politische Aktionen geben konnte, war das Kabinett gänzlich von dem guten Willen des Reichstagspräsidenten abhängig; die Überlegung, die offenbar im Kabinett ventiliert wurde, dem Reichstag das Recht der Vertagung zu belassen, dagegen die Entscheidung über den Zeitpunkt der Wiedereinberufung des Parlaments an die Reichsregierung zu delegieren, wurde vom Staatssekretär im Reichsinnenministerium Zweigert mit der Begründung zurückgewiesen, daß dies der staatsrechtlichen Stellung des Reichstags zur Reichsregierung widersprechen würde286. Die wenigen Plenarsitzungen in der Fünften Legislaturperiode zeugten von der Selbstdisziplin des Parlaments, das damit dem Kanzler die notwendige politische Bewegungsfreiheit gewährte. Und wenn die Abgeordneten, wie in der Junikrise 1931, ihre Kontrollrechte wahrnehmen wollten, so zwangen sie die massiven Rücktrittsdrohungen der Reichsregierung zur Resignation287. Die Disziplinierung des Parlaments war allerdings nur möglich, weil Brüning der Unterstützung zumindest eines Teils der Opposition sicher sein konnte. Die Rolle des Partners der Regierung in der Opposition übernahm aus Furcht vor einer nationalsozialistischen Diktatur die SPD288. Deshalb stimmte die SPD für die Vertagung des Parlaments, deshalb votierte sie für eine Geschäftsordnungsänderung, die das Budgetrecht des Reichstags einschränkte und damit nach den Worten Brünings den „Parlamentarismus ohne Verfassungsänderung auf seine wahre Form“ zurückführte289.

284

Dok. Nr. 102; 103, P. 2; 104, P. 2.

285

Dok. Nr. 112. Zu den Prognosen über das Abschneiden der Nationalsozialisten: Brüning, Memoiren, S. 185 f.; Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 58 f.

286

Dok. Nr. 129.

287

Dok. Nr. 329, P. 1.

288

Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Matthias, Morsey, Das Ende der Parteien, S. 105 ff.

289

Brüning, Memoiren, S. 256; Dok. Nr. 212; 234.

Wie spiegelte sich nun die Entmachtung des Reichstags in dem Verhältnis der Regierung zu den Parteien wider? Bis zur Julikrise des Jahres 1930 handelte das offiziell fraktionsunabhängige Kabinett wie eine normale Koalitionsregierung, die sich für ihre Gesetzesvorhaben der Unterstützung der Regierungsparteien versicherte290. Zu den Oppositionsparteien, vor allem zur DNVP und zur SPD, bestand zunächst nur ein loser Kontakt, den einzelne Minister, wie Treviranus und Wirth, dank ihrer persönlichen Beziehungen zu einzelnen Oppositionspolitikern, aufrechterhielten291. Erst das drohende Scheitern der Haushaltsvorlage Anfang Juli 1930 veranlaßte Brüning, in förmliche Verhandlungen mit den politischen Gegnern auf der Rechten und auf der Linken einzutreten292.

290

In den Monaten April–Juli 1930 sind 9 Fraktionsbesprechungen in den Akten der Rkei überliefert.

291

Dok. Nr. 7, P. 1; 54.

292

Dok. Nr. 67; 74.

Das Wahlergebnis vom 14. September 1930 veränderte tiefgreifend diese Konstellation. Vor politischen Entscheidungen löste die Führung der SPD-Fraktion[LXVIII] die dezimierten bürgerlichen Parteien als bevorzugter parlamentarischer Gesprächspartner des Kanzlers ab293. Die Unterstützung der bürgerlichen Parteien glaubte der Kanzler weniger mit formellen Fraktionsverhandlungen als durch persönliche Verbindungen zu einzelnen einflußreichen Abgeordneten erreichen zu können294. Mochte diese Methode, politische Mehrheiten über private Kanäle zu beschaffen, besonders dem Charakter Brünings entsprechen, so machte dies aber auch deutlich, daß die Regierung den Parteien ein Mitspracherecht nur noch dann einräumte, wenn ihre eigene Existenz auf dem Spiele stand. Die langen Sitzungspausen des Reichstags führten überdies dazu, daß die Einwirkungsmöglichkeiten der Öffentlichkeit auf die Regierung sich von den Parteien auf die Interessengruppen verlagerten. Dabei scheiterte Brüning in seinem Bemühen, die Verbände der Landwirtschaft und der Industrie an sich zu binden. Die Grüne Front entzog schon im Sommer 1930295 Brüning die Unterstützung, die Schwerindustrie wandte sich während der Bankenkrise 1931 vom Kanzler ab296. Auch die Konstituierung des Wirtschaftsbeirats im Oktober 1931 konnte diese Entwicklung nicht korrigieren. Das zweite Kabinett Brüning wurde also nur noch vom Vertrauen des Reichspräsidenten getragen, entbehrte aber des Rückhalts bei den politischen und gesellschaftlichen Gruppen.

293

Matthias, Die SPD, in: Matthias, Morsey, Das Ende der Parteien, S. 110 rügt dagegen die seltenen Unterredungen der Fraktion mit Brüning.

294

Dies ergibt sich aus den Tagesnotizen für RK und StS, NL Pünder  Nr. 43 und 44.

295

Dok. Nr. 62.

296

Dok. Nr. 422; 496.

Die politische Radikalisierung sowie die Wahlerfolge der KPD und der NSDAP beeinflußten das Verhalten der Reichsregierung zu den parlamentarischen Vertretungen dieser verfassungsfeindlichen Parteien. Bemerkenswert allerdings war die überaus unterschiedliche Behandlung der beiden extremen Parteien durch den Kanzler. Brüning hat konsequent die KPD aus den Konsultationen mit den Parteien ausgeschaltet. Offizielle Kontakte zwischen der Regierung und der kommunistischen Reichstagsfraktion haben in Brünings Amtszeit nicht stattgefunden. Dagegen war die KPD im Sommer 1931 wegen ihres Straßenterrors mehrfach Gegenstand von Kabinettsberatungen. Trotz einer massiven Intervention des Reichswehrministers Groener bei Innenminister Wirth konnte sich die Reichsregierung nicht entschließen, die KPD zu verbieten297. Die Bedenken der Länder und des Innenministeriums gegen ein Verbot der kommunistischen Partei wogen offenbar so schwer, daß Groener, nachdem er am 10. Oktober 1931 zusätzlich das Innenministerium übernommen hatte, gleichwohl auf eine Weiterverfolgung dieser Frage verzichtete.

297

Dok. Nr. 440, P. 2; 443; 497, P. 1.

Wesentlich komplizierter stellt sich das Verhältnis Brünings zur NSDAP dar. Die Reichsregierung geriet in Konflikt mit Länderkabinetten, in denen Nationalsozialisten saßen298, sie war beunruhigt über die steigende Zahl von Beamten, die der NSDAP beigetreten waren, und sie war vor allem uneins, ob diese rechtsextremistische Partei verboten oder im Rahmen eines Zähmungskonzepts zur Mitarbeit im herrschenden System heranzuziehen war. Deutlich[LXIX] wurde dieses Schwanken nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930. Einerseits verlangte der Reichswehrminister eine klare Entscheidung über ein Verbot der NSDAP, andererseits führte Brüning ein langes Gespräch mit Hitler, in dem er ihm die politische Zusammenarbeit anbot. Das Kabinett verschob jedoch die Entscheidung auf Drängen des Kanzlers, der davor warnte, die Fehler des Bismarckschen Sozialistengesetzes gegenüber den Nationalsozialisten zu wiederholen299. Die Reichsregierung begnügte sich damit, die politischen Ausschreitungen mit Notverordnungen zu beantworten300.

298

Dok. Nr. 20, P. 6; 156.

299

Dok. Nr. 118, P. 2; 135; 163; 206, P. 2.

300

Dok. Nr. 190, P. 5; 235; 257; 556; 587; 588, P. 12590.

Selbst die Entdeckung der „Boxheimer Dokumente“ im November 1931, die Handlungsanweisungen der NSDAP für einen gewaltsamen Umsturz enthielten, veranlaßte die Reichsregierung nicht, zu einem entscheidenden Schlag gegen die NSDAP auszuholen, weil Brüning zu der Zeit gerade mit Hitler über die Verlängerung der Amtsperiode des Reichspräsidenten verhandelte, und die Nationalsozialisten Hitlers Legalitätserklärung vor dem Reichsgericht ständig wiederholten301.

301

Dok. Nr. 572; 574, P. 3; zu Hitlers Legalitätserklärung: Dok. Nr. 118, P. 2; 599; 714.

Es waren die Länder, welche die Reichsregierung schließlich zum Einschreiten gegen die paramilitärischen Formationen der NSDAP drängten. Der badische Innenminister hatte schon im Februar 1931 von Wirth das Verbot privater Uniformierung verlangt, und die Konferenz der Länderinnenminister wiederholte gegenüber dem neuen Reichsinnenminister Groener diese Forderung302. Gleichwohl verschleppte die Regierung die Entscheidung trotz einer dringlichen Ermahnung des preußischen Ministerpräsidenten Braun vom 4. März 1932303 bis in den April hinein. Anscheinend spielten auch hier wieder taktische Erwägungen wegen der Reichspräsidentenwahl eine Rolle, ebenso aber das Interesse des Reichswehrministeriums an der militärisch gedrillten Mannschaftsreserve in den Reihen der SA und SS. Der entscheidende Anstoß zur Auflösung dieser Wehrorganisationen ging von Bayern aus. Der bayerische Innenminister Stützel drohte in einem Schreiben vom 30. März 1932 mit einem selbständigen Vorgehen gegen die NSDAP, wenn die Reichsregierung nicht selbst eine Notverordnung erlasse304; Groener mußte nun handeln, wenn er nicht als „schwächlich und unentschlossen“ erscheinen und in den Verdacht geraten wollte, lieber mit den Nationalsozialisten zu paktieren als scharfe Maßregeln zu ergreifen305. Das Kabinett hatte diese heikle politische Frage ohne den Kanzler zu entscheiden, der sich auf einer Wahlkampfreise befand und durch Pünder telefonisch und schriftlich auf dem laufenden gehalten wurde. Nun erklärte sich auch General v. Schleicher als Vertreter des Reichswehrministeriums für eine Auflösung von SA und SS und schlug als psychologisch günstigsten Zeitpunkt einen Termin nach der zweiten Reichspräsidentenwahl vor. In einer Besprechung mit den Innenministern der größeren Länder vom 6. April 1932 teilte[LXX] Groener mit, die Aktion solle zwischen dem 10. April, der Reichspräsidentenwahl, und den Landtagswahlen in Bayern und Preußen am 24. April stattfinden. Nachdem diese Entscheidung gefallen war, rückte Schleicher überraschend von seinem eigenen Vorschlag wieder ab, die nationalsozialistischen Wehrverbände ohne Vorwarnung zu zerschlagen, und forderte zunächst ein scharfes Ultimatum an die NSDAP; dieser Gesinnungswandel wurde von Staatssekretär Meissner unterstützt, der Presseangriffe auf den Reichspräsidenten befürchtete. Das Kabinett verabschiedete jedoch die Notverordnung in der ursprünglichen Form und leitete damit zugleich seinen Sturz ein306.

302

Dok. Nr. 236; 556; 593.

303

Dok. Nr. 692; 702.

304

Dok. Nr. 704.

305

So der RIM in Dok. Nr. 714.

306

Dok. Nr. 710; 714; 716717.

Die Regierung hatte mit durchgreifenden Maßnahmen gegen die NSDAP zu lange gezögert und wurde von den Ländern zu einem Zeitpunkt unter Zugzwang gesetzt, den Schleicher im Zusammenwirken mit Meissner für eine erfolgreiche Intrige gegen Groener, und damit letztlich gegen Brüning, nutzen konnte. Das Schreiben des Reichspräsidenten an Brüning wegen der einseitigen Anwendung der Notverordnung gegen Rechts, das publiziert wurde, bevor es seinen Adressaten erreichte, machte mit seinem aus dem Reichswehrministerium gelieferten Material auch der Öffentlichkeit bewußt, daß Brüning die Rückendeckung Hindenburgs verloren hatte307. Für den entscheidenden Schlag gegen Brüning wartete man aber noch anderthalb Monate ab und suchte sich dafür einen anderen Anlaß.

307

Dok. Nr. 723; 733, P. 1.

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