1.6 (bru1p): V. Außenpolitik in der Ära Brüning

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Die Kabinette Brüning I und II. Band 1 Das Kabinett Brüning I Bild 183-H29788NS-Wahlversammlung im Sportpalast Bild 102-10391Arbeitslose Hafenarbeiter Bild 102-11008Bankenkrise 1931 Bild 102-12023

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Text

V. Außenpolitik in der Ära Brüning

In der Außenpolitik trat Brüning ein, wie es schien, wohlgeordnetes Erbe an. Mit der Ratifikation des Young-Plans war die internationale Diplomatie endgültig vom Reparationsproblem befreit und das Haupthindernis für gute Beziehungen Deutschlands zu den USA und Großbritannien war beiseite geräumt. Der im Neuen Plan vereinbarte vorzeitige Abzug der französischen Besatzung aus dem Rheinland war ein greifbares Resultat der Stresemann-Briandschen Verständigungspolitk und eröffnete für die Zukunft eine verheißungsvolle Perspektive deutsch-französischer Zusammenarbeit; die Verständigung zwischen den beiden Staaten sollte nach dem Willen Briands den Kern für eine gesamteuropäische Kooperation bilden. Ein im ganzen positives Verhältnis bestand auch zur Sowjetunion, das durch die Rolle der KPD in der deutschen Innenpolitik nur selten getrübt wurde.

Das Reich, seit 1926 ständiges Mitglied des Völkerbundsrats, hatte also wieder einen geachteten Platz unter den Nationen eingenommen. Unter der Oberfläche verbargen sich aber Konflikte, die die Erfolgsbilanz gefährdeten. Vor allem der Young-Plan warf Probleme auf. Während der parlamentarischen Beratungen hatte Brüning die finanzielle Solidität der Haager Vereinbarungen angezweifelt und deshalb sein bekanntes Junktim zwischen der Zustimmung[LXXI] der Zentrumsfraktion zum Neuen Plan und der Sanierung des Reichshaushalts aufgestellt308.

308

Diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 426, P. 2.

Es war daher abzusehen, daß bei einer Verschlechterung der öffentlichen Finanzen das Kabinett Brüning die Revision des Young-Plans betreiben würde, zumal die rechtsradikale Agitation gegen die „Versklavung des deutschen Volkes“ zusätzlichen Druck auf die Regierung ausübte.

Schwierige Entscheidungen erwarteten die Reichsregierung auch auf dem Felde der internationalen Abrüstung. Vor allem die Vereinigten Staaten und, wenn auch mit geringerem Engagement, Großbritannien drängten auf eine allgemeine Reduzierung der Militärpotentiale. Sollte Deutschland die anderen Großmächte auffordern, auf seinen, durch den Versailler Vertrag festgelegten Standard abzurüsten, oder sollte es die militärische Gleichberechtigung mit den anderen Staaten auf der Abrüstungskonferenz zum Programm machen und sich aus den Fesseln von 1919 befreien? Beide Wege konnten das Verhältnis zu den angelsächsischen Mächten trüben, der eine wegen des offensichtlich illusionären Charakters, der andere wegen der Verfälschung des Abrüstungsgedankens.

Krisenanfällig zeigten sich schließlich die deutsch-französischen Beziehungen. Meist beschäftigten kleinliche Reibereien und vom nationalen Prestigedenken diktierte Vertragsstreitigkeiten die Diplomaten in Berlin und Paris309, die nicht weiter erwähnenswert wären, wenn die neue Regierung nicht in den ersten hundert Tagen zwei Entscheidungen getroffen hätte, die eine Kursänderung der deutschen Außenpolitik gegenüber Frankreich andeuteten. Zum einen ernannte Außenminister Curtius Staatssekretär v. Schubert, seit Dezember 1924 engster Mitarbeiter Stresemanns bei der Formulierung der deutschen Westpolitik, zum Botschafter in Rom und berief den langjährigen Referenten für Völkerbundsfragen, Ministerialdirigent Bernhard v. Bülow, zu dessen Nachfolger310; zum anderen beschloß das Kabinett bereits am 7. April 1930, die deutsch-französischen Verhandlungen über die vorzeitige Wiedervereinigung des Saarlandes mit dem Reich abzubrechen, falls die deutschen Forderungen nicht erfüllt würden. Tatsächlich scheiterten die Saarverhandlungen trotz einiger Signale französischer Kompromißbereitschaft Anfang Juli 1930311.

309

Vgl. die Streitigkeiten über die Gründung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Dok. Nr. 16 und 36 sowie die Verhandlungen über die Modalitäten des französischen Truppenrückzugs aus dem Rheinland: Dok. Nr. 38, P. 1.

310

Dok. Nr. 26, P. 1.

311

Dok. Nr. 10; 38, Anm. 10; 61, P. 2.

Konnte die hier auftretende Klimaverschlechterung zwischen der Wilhelmstraße und dem Quai d’ Orsay noch vor der Öffentlichkeit verheimlicht werden, so war dies bei der deutschen Antwort auf den Briandplan, den Vorschlag des französischen Außenministers zur Einigung Europas, nicht mehr möglich. Die Kabinettsberatungen zeigen vielmehr, daß die deutsche Regierung mit ihrer Note bewußt den Gegensatz zu Frankreich akzentuieren wollte. Brüning wollte eine Antwort „von geschichtlichem Wert“, die gegenüber den französischen Aspirationen die Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte Ordnung Europas, „in dem Deutschland seinen ausreichenden natürlichen Lebensraum[LXXII] haben müsse“, klarlegen sollte. Das Kabinett beschloß, daß der Text wegen der „innerpolitischen Wirkung“ möglichst volkstümlich gehalten sein sollte. Um einen völlig negativen Eindruck zu vermeiden, müsse Deutschland als Verteidiger des Völkerbundsgedankens auftreten. Brüning und seine Minister erblickten im Europaplan Briands nichts anderes als den Versuch, die französische Hegemonie über Europa zu sichern und den Wiederaufstieg Deutschlands zu verhindern312.

312

Dok. Nr. 68, P. 1; 40; 51; 55; 65, P. 2. Vgl. auch die ablehnende Haltung gegenüber der Paneuropabewegung: Dok. Nr. 33, P. 2.

Wachsende Distanz zu Frankreich, Unsicherheit über die Reaktionen Washingtons und Londons in der Abrüstungsfrage, krisenhafte Zuspitzung der Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen; trotz dieser Konstellation griff die Reichsregierung das Reparationsproblem auf.

Die Reparationen

Von den Beratungen über technische Einzelheiten der Mobilisierungsanleihe abgesehen313, fehlte der Young-Plan bis zur Reichstagswahl auf den Tagesordnungen der Kabinettssitzungen, wenngleich eine Bemerkung Brünings vom 20. August 1930 vermuten läßt, daß er die Möglichkeiten eines Zahlungsmoratoriums für die deutschen Reparationsleistungen erwog314. Der nationalsozialistische Erfolg vom 14. September 1930 setzte das Kabinett unter Zugzwang, zumal sich im Herbst des Jahres die Anträge und Eingaben von parlamentarischen und außerparlamentarischen Gruppen zur Revision des Young-Plans häuften315. Die Regierung reagierte auf diese Kampagne mit Zurückhaltung und etwas Ratlosigkeit. Die Revision des Young-Plans reife wegen der Weltwirtschaftskrise schneller als erwartet, berichtete Curtius nach seiner Rückkehr von der Herbsttagung des Völkerbundes; Deutschland habe aber augenblicklich keine Möglichkeiten, auf diesen Prozeß aktiv Einfluß zu nehmen, sondern müsse weiter Erfüllungspolitik treiben. Auch der Kanzler lehnte wegen des angeschlagenen deutschen Kredits ein überhastetes Vorgehen in der Reparationsfrage ab316. Brüning zögerte aber nicht nur wegen der deutschen Devisenverluste, sondern auch, weil er den Ansatz für eine erfolgversprechende Revisionspolitik noch nicht gefunden hatte. Die Gläubigerländer lehnten es ab, den Beratenden Sonderausschuß der BIZ, der über ein Zahlungsmoratorium zu entscheiden hatte, einzuberufen, obwohl sie, so behauptete es jedenfalls Luther, von der Undurchführbarkeit des Young-Plans überzeugt waren. Der Reichsbankpräsident schlug deshalb als doppelte Taktik sowohl eine „Erfüllungsoffensive“ als auch eine verschärfte Kritik am Young-Plan vor. Brüning war der Meinung, daß die deutschen Zahlungen die Haager Vereinbarungen ad absurdum führen müßten317. Mit dieser Politik war jedoch schon Reichskanzler Wirth gescheitert.

313

Dok. Nr. 23, P. 4; 31; 32; 36; 37, P. 5; 39, P. 1; 45, P. 3.

314

Dok. Nr. 104, P. 3.

315

Dok. Nr. 130, P. 2; 142; 146; 161.

316

Dok. Nr. 130, P. 1 und P. 2; 134.

317

Dok. Nr. 153.

[LXXIII] Im Dezember 1930 hatte Brüning die Waffe gegen die Reparationen gefunden: ein Junktim zwischen dem Abrüstungskomplex und den Zahlungsverpflichtungen aus dem Neuen Plan. In einer längeren Unterredung am 19. Dezember 1930 konnte Brüning den US-Botschafter Sackett für seinen Plan gewinnen. Der amerikanische Präsident solle eine internationale Konferenz der Regierungschefs einberufen, auf der die drei großen, eng miteinander zusammenhängenden Fragen der Abrüstung, der Reparationen und Schuldentilgung sowie der internationalen Wirtschaftsförderung gemeinsam beraten werden sollten. Natürlich konnte der Kanzler Sacketts Befürchtungen nicht widerlegen, eine solche Mammutkonferenz sei von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber er vertraute auf die feste Leitung durch Präsident Hoover. Brüning sagte dem amerikanischen Botschafter ganz offen, daß er mit dieser Konferenz Frankreich neutralisieren wollte, da er bilaterale Reparationsverhandlungen zwischen Berlin und Paris für Zeitvergeudung hielt. Beeindruckt von dem dringlichen Appell seines Gesprächspartners, diese Konferenz müsse als heller Hoffnungsstrahl den Völkern den Mut zu neuen Investitionen wiedergeben, versprach Sackett, Präsident Hoover sofort zu unterrichten318. Die Idee einer Weltkonferenz verschwand jedoch schnell in den Akten, aber mit der ihm eigenen Zähigkeit verfolgte Brüning den Gedanken weiter, die Amerikaner über die Abrüstung an den Reparationsverhandlungen zu beteiligen.

318

Dok. Nr. 207; 198; 214.

Welchen Weg sollte die Reichsregierung in der Reparationsfrage einschlagen? Finanzminister Dietrich legte im Januar 1931 einige Vorschläge zur Absicherung des Moratoriumsverfahrens dem Kabinett vor. Die deutschen Exporte müßten um jeden Preis forciert werden, um die negativen Auswirkungen der Reparationszahlungen auf die internationalen Handelsbeziehungen deutlich zu machen. In einer Propagandaoffensive müßten die Reparationen als das Störungsmoment erster Ordnung für die Weltwirtschaft angeprangert werden; ein großzügiges Angebot der politischen und wirtschaftlichen Kooperationen sollte Frankreich von der Kriegsfurcht befreien und zugleich die Vereinigten Staaten vom deutschen Friedenswillen überzeugen319. Diese langfristig angelegte Strategie taugte allerdings nicht zur Beruhigung der Öffentlichkeit, die von der Regierung rasche Taten erwartete. Brüning und Curtius boten allerdings nur Worte; sie teilten dem Reichstag mit, daß eine Reparationslösung in nächster Zukunft nicht in Sicht sei, dennoch werde sich Deutschland nicht vom Young-Plan lossagen320.

319

Dok. Nr. 220.

320

Dok. Nr. 239.

Eine Grundsatzdiskussion über die Reparationsfrage fand am 7. Mai 1931 statt. Brüning, Dietrich, Stegerwald und Luther zeichneten ein düsteres Bild von der deutschen Wirtschaftslage. Konnte eine Einstellung der Reparationszahlungen vielleicht Erleichterung schaffen? Dies lehnte der Kanzler vorerst ab, obwohl „andere Maßnahmen, selbst solche drakonischen Charakters, kaum zu praktischen Resultaten führen“ würden. Er wollte aber vor den Gläubigermächten nicht als Bittsteller erscheinen, sondern nach der erfolgreichen Überwindung[LXXIV] der Wirtschaftskrise aus einer Position der Stärke verhandeln. Den Ansatz zu erfolgreichen Revisionsschritten sah er erst im Jahre 1932 nach den amerikanischen Präsidentschafts- und den französischen Parlamentswahlen sowie nach dem Abschluß der Abrüstungskonferenz. Brüning äußerte sich jedoch nicht darüber, was denn in der aktuellen Situation zu geschehen habe. Den anderen Teilnehmern fiel auch kein rettender Gedanke ein, außer der Fortsetzung der Sanierungspolitk bis zum äußersten und verstärkter Propaganda. Einziges konkretes Ergebnis der interministeriellen Beratung war der Beschluß, durch einen Aufruf an das deutsche Volk den Eindruck zu erwecken, daß die Revision schon eingeleitet worden sei, während dem Ausland eingeredet werden sollte, daß Deutschland alle Anstrengungen unternehme, um den Plan zu erfüllen. Im Zeitalter der modernen Kommunikationsmittel eine Idee von erstaunlicher Naivität321. Die Regierung erhielt zwar noch durch einen gemeinsamen Revisionsappell aller deutschen Gewerkschaftsverbände Unterstützung322, aber ihr Tributaufruf vom 6. Juni 1931 erzielte nicht die gewünschte Wirkung, im Gegenteil: Die deutsche Außenpolitik geriet in den Verdacht der Unzuverlässigkeit und Doppelzüngigkeit, während der Aufruf im Innern die Erregung über die Zweite Notverordnung zur Sanierung von Wirtschaft und Finanzen nicht zu dämpfen vermochte323.

321

Dok. Nr. 291.

322

Dok. Nr. 313; 325.

323

Dok. Nr. 323; 326; 327.

Der Verlauf der Besprechung vom 7. Mai 1931 offenbarte eine allgemeine Ratlosigkeit und die Erkenntnis, daß die deutsche Revisionspolitik festgefahren war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Vier Wochen später zeichnete sich im Kabinett die Bereitschaft ab, in der Reparationsfrage die Initiative zu ergreifen, obwohl man sich nicht schlüssig war, welches Vorgehen den größten Erfolg versprach. Der Reichsfinanzminister plädierte für einen Transferaufschub bei gleichzeitiger Forderung nach der Totalrevision des Young-Plans. Dieser Vorschlag kam Brüning zu früh, da die Sanierungspolitik noch keine Erfolge vorweisen konnte und er daher noch nicht die erwünschte Freiheit für außenpolitische Aktionen gewonnen hatte, sondern unter dem Druck der deutschen Öffentlichkeit zum Handeln gezwungen war324.

324

Dok. Nr. 316.

Dennoch kündigte der deutsche Regierungschef dem britischen Premierminister MacDonald Anfang Juni 1931 in Chequers an, Deutschland werde sich alle Rechte aus dem Young-Plan vorbehalten. Brüning zog vor dem Kabinett am 11. Juni 1931 aus den Gesprächen das Fazit, daß die Erklärung des deutschen Moratoriums jetzt niemanden überraschen würde. Allerdings sollte der Besuch des amerikanischen Außenministers Stimson in Berlin Ende Juni abgewartet werden325.

325

Dok. Nr. 329, P. 1; zur Vorbereitung des Englandbesuchs Dok. Nr. 324.

Zum Glück für die deutsche Regierung nahm ihr der amerikanische Präsiden Herbert Hoover die Initiative ab. Sein Vorschlag eines Feierjahres für die Reparationen und internationalen Schulden326 löste in Berlin, London, Paris[LXXV] und Washington eine hektische diplomatische Aktivität aus. Vor allem die französische Regierung erhob Bedenken, weil sie in dem Hoover-Moratorium einen Eingriff in ihre Vertragsrechte und den ersten Schritt zur Revision des Neuen Plans vermutete. Außerdem wollte Frankreich die Gelegenheit ausnutzen, um Deutschland zu politischen Konzessionen zu zwingen und der Reichsregierung für das deutsch-österreichische Zollunionsprojekt eine Lektion zu erteilen. Brüning verweigerte sich dem französischen Verlangen, auf die Zollunion und den Bau des Panzerschiffs B zu verzichten, ließ sich aber von den Amerikanern eine Erklärung abringen, daß die eingesparten Reparationsgelder nicht für die Rüstung verwendet werden sollten. Seine Hartnäckigkeit hatte Erfolg, wenn auch um den Preis einer Verärgerung in Washington, Paris und London. Der Hoover-Plan trat am 7. Juli 1931 in Kraft327.

326

Dok. Nr. 341.

327

Dok. Nr. 344; 345; 349; 352; 356; 358; 362; 364; 367; 368.

Während der akuten Bankenkrise bekam Berlin die Quittung für Brünings Unnachgiebigkeit. Frankreich und Großbritannien lehnten einen Rediskontkredit für die Reichsbank ab, und ebenso stieß ein erneuter Hilferuf nach Washington auf taube Ohren, obwohl das Auswärtige Amt plötzlich eine gewisse Kompromißbereitschaft in den Fragen Zollunion und Panzerschiffbau signalisierte328.

328

Dok. Nr. 375, Anm. 6; 376; 377.

Die Reichsregierung zeigte sich wiederum amerikanischen Wünschen wenig aufgeschlossen. Botschafter Sackett bot dem Ernährungsminister Schiele am 21. Juli 1931 einen Kredit in Höhe von 120 Millionen Dollar unter der Bedingung an, daß Deutschland dafür von den USA 1,1 Millionen Ballen Baumwolle und 2,5 Millionen Tonnen Weizen abnehme. Das Ergebnis fiel dürftig aus: Das Baumwollgeschäft kam nicht zustande, und von den 2,5 Millionen Tonnen Weizen blieben nur 200 000 Tonnen übrig329.

329

Dok. Nr. 401; 402, P. 6; 403.

Trotz dieser atmosphärischen Störungen blieb die Reparationsfrage im Sommer 1931 weiter auf der internationalen Tagesordnung. Kurzfristig, wenn auch nicht unerwartet, erhielt Brüning Einladungen nach Paris und zu einer internationalen Konferenz in London. Die Verhandlungen in Paris mit Ministerpräsident Laval und Außenminister Briand spielten sich „in den angenehmsten Formen“ ab330, ohne daß sich die unterschiedlichen Standpunkte annäherten. Frankreich bot für den Preis eines zehnjährigen „politischen“ Moratoriums der Reichsregierung eine Anleihe an, doch Brüning ging darauf nicht ein. Auf der Londoner Konferenz trat neben dem deutsch-französischen der französisch-englische Gegensatz deutlich hervor.

330

So der RK in seinem Bericht vor dem Kabinett am 25.7.31, Dok. Nr. 408, P. 2.

Vor dem Kabinett stellte der Reichskanzler als Ergebnis der Londoner Beratungen fest, daß es gelungen sei, die französischen Forderungen abzuwehren, außerdem die Verlängerung des Rediskontkredits für die Reichsbank und, auch wenn dies nicht ganz den deutschen Wünschen entsprach, die Einsetzung eines Sachverständigenkomitees bei der BIZ zur Prüfung der deutschen Kreditfähigkeit zu erreichen331.

331

Dok. Nr. 389, P. 1; 390; 392; 398; 402, P. 4; 405, P. 1; 408, P. 2.

[LXXVI] Mit den Resultaten der Sachverständigenkonferenz in Basel konnte der Kanzler trotz seines tief verwurzelten Mißtrauens gegenüber den Experten zufrieden sein; die ausländischen Gläubiger hielten bei den deutschen kurzfristigen Schulden für sechs Monate still, und der Wiggin-Layton-Bericht über die Kreditfähigkeit des Reichs übernahm die Argumente der deutschen Regierung. Der Bericht bestritt nämlich ein Verschulden Deutschlands an der gegenwärtigen Lage und stellte zum Reparationsproblem fest, das zu untersuchen er nicht beauftragt war, daß Deutschland nur eine Alternative habe, entweder die Reparationen mit ausländischen Krediten zu bezahlen und früher oder später wegen Überschuldung zusammenzubrechen, oder die Kriegsentschädigungen aus Exportüberschüssen zu finanzieren, wodurch es zum ewigen Störenfried der Weltwirtschaft abgestempelt würde332.

332

Dok. Nr. 444, Anlage 1. Vgl. zu den Baseler Verhandlungen auch Dok. Nr. 434; 436; 445; 448; 454, P. 4.

Die im Sommer 1931 getroffenen Interimslösungen verschafften der Reichsregierung nur eine kurze Atempause. Ende Oktober 1931 beschäftigte sich das Kabinett – Brüning hatte bei der Regierungsumbildung zusätzlich die Leitung des Auswärtigen Amts übernommen – erneut mit der Schulden- und Reparationsfrage. Bei der Abwägung der staatlichen und privaten Verbindlichkeiten sollten die privaten Gläubiger bevorzugt bedient werden. Der Kanzler drängte darauf, der Öffentlichkeit schnellstens einen Schuldentilgungsplan zu präsentieren, der die vorgesehenen Leistungen für private Gläubiger nach außen hin möglichst groß erscheinen lassen sollte. Ein derartiger Plan würde ganz von selbst die Reparationsfrage in stärkster Weise präjudizieren. Noch deutlicher sagte es Geheimrat Vocke von der Reichsbank: „bei einer Neuregelung der Privatverschuldung werde sich ohne weiteres herausstellen, daß für die Leistung politischer Zahlungen [gemeint sind die Reparationen] kaum noch etwas übrig bliebe“333.

333

Dok. Nr. 522; die Bemerkungen des RK in Dok. Nr. 528.

Die feingesponnene Taktik, mit dem Air des zuverlässigen Schuldners die Reparationsgläubiger leer ausgehen zu lassen, erweckte sofort den Argwohn der Amerikaner und Franzosen. Botschafter Sackett sprach sich dafür aus, daß zunächst der Beratende Sonderausschuß die Reparationsfrage erörtern sollte und daß danach über die privaten Schulden verhandelt werden könne. Die verfügbare Finanzmasse müsse zwischen den Kriegsentschädigungen und den übrigen Verbindlichkeiten aufgeteilt werden. Auch der französische Botschafter François-Poncet betonte den Vorrang der Reparationen vor den privaten Schulden: „es ginge nicht an, daß die privaten Gläubiger alles und Frankreich nichts erhielte.“ Ebenso wie Sackett forderte François-Poncet die deutsche Regierung auf, einen Antrag auf Einberufung des Beratenden Sonderausschuß zu stellen334.

334

Besprechung Sacketts mit dem RK: Dok. Nr. 533. Zitat François-Poncets: Dok. Nr. 552, ähnlich auch in 539.

Dieses Verlangen empfand die Reichsregierung als heikel, weil der Beratende Sonderausschuß ein Bestandteil des Young-Plans war, dessen Aufhebung Außenminister Curtius bei seinem letzten Auftritt vor dem Völkerbund im[LXXVII] September 1931 offiziell zum Ziel der deutschen Politik erklärt hatte335. Eine Einberufung des Beratenden Sonderausschusses auf deutschen Wunsch bedeutete jedoch die Rückkehr auf den Boden des Neuen Plans und, wegen der eng begrenzten Kompetenzen des Ausschusses, den Verzicht auf eine endgültige Lösung der Reparationsfrage. Brüning hatte deshalb gegenüber Sackett und François-Poncet eine Erweiterung der Befugnisse des Sonderausschusses verlangt, weil sonst die Regierung diesen „Sprung ins Dunkle“ nicht wagen könne336.

335

Dok. Nr. 504.

336

Dok. Nr. 530; vgl. ebenso Dok. Nr. 528; 533; 539.

Unter dem internationalen Druck steckte das Reichskabinett zunächst einmal zurück, verzichtete auf den Vorrang der Privat- vor den Regierungsschulden337 und stellte in einem Memorandum den Antrag zur Einberufung des Beratenden Sonderausschusses. Der Kanzler konnte sich zu diesem Schritt entschließen, weil sich den Sachverständigenberatungen eine Regierungskonferenz anschließen sollte, um das gesamte Reparationsproblem politisch zu erörtern. Daher hob die Reichsregierung in ihrem Memorandum die Notwendigkeit einer Grundsatzdiskussion hervor, weil sich die wirtschaftliche und finanzielle Lage in der Welt seit den Haager Beratungen völlig geändert hätte338.

337

Dazu Dok. Nr. 541.

338

Dok. Nr. 553, Anlage.

Der Entwurf des Memorandums wurde mit der Französischen Regierung abgestimmt, bevor das Auswärtige Amt die Note an die BIZ und die Gläubigerregierungen versandte. Während der Diskussion zwischen Wilhelmstraße und Quai d’ Orsay stellte sich heraus, daß im französischen Kabinett offenbar Meinungsverschiedenheiten ausgebrochen waren: Finanzminister Flandin nahm für seine Regierung das Recht in Anspruch, einseitig von dem gemeinsam vereinbarten Text des deutschen Memorandums abzurücken339.

339

Dok. Nr. 548; 549; 553; 557, P. 3; 561; 562.

Die Perspektive für die Verhandlungen war nicht sehr hoffnungsvoll. In einem Geheimbericht an den Reichskanzler berichtete Staatssekretär v. Bülow, daß die Französische Regierung in jedem Fall am Young-Plan festhalten und dem Deutschen Reich lediglich für die Dauer der Weltwirtschaftskrise einen Schuldennachlaß in dem Umfang gewähren wolle, den Frankreich vorher von den USA erwartete. Auch Präsident Hoover steuerte anscheinend nur auf eine Zwischenlösung, nicht aber auf eine abschließende Regelung des Reparations- und Schuldensystems hin340.

340

Dok. Nr. 580; 562.

Gleichwohl verfolgte das Kabinett weiter das Ziel, bereits im Beratenden Sonderausschuß die Streichung der deutschen Reparationen durchzusetzen. Das deutsche Ausschußmitglied Carl Melchior, Direktor des Hamburger Bankhauses Warburg und seit der Friedenskonferenz von Versailles ständiger deutscher Reparationssachverständiger, nahm im Dezember 1931 die Instruktion nach Basel mit, auf einen Beschluß hinzuwirken, „daß die Verhältnisse in Deutschland eine Reparationszahlung für eine weite Zukunft dauernd unmöglich erscheinen lassen“341. Dieses hochgesteckte Ziel erreichte Melchior nicht, da sich[LXXVIII] der französische Sachverständige strikt weigerte, die deutsche Zahlungsunfähigkeit anzuerkennen. Dennoch äußerte der Kanzler vor dem Kabinett seine Befriedigung darüber, daß der Beneduce-Bericht alle Voraussetzungen des Young-Plans zerstört und die deutsche Position für die kommende Reparationskonferenz erheblich verbessert habe342.

341

Dok. Nr. 567; Text der Instruktion in der Anlage zu Dok. Nr. 584.

342

Dok. Nr. 611; 614, P. 8.

Das Jahr 1932 begann mit einer Serie von Besprechungen wegen der Regierungskonferenz, die am 18. Januar 1932 in Lausanne zusammentreten sollte. Dabei zeichnete sich frühzeitig ab, daß sich diese Konferenz wegen des deutsch-französischen Gegensatzes in der Reparationsfrage und der für Mai 1932 angesetzten Parlamentswahlen in Frankreich nach drei Tagen Dauer auf Juni 1932 vertagen würde. Dennoch war die Festlegung der deutschen Verhandlungstaktik notwendig. Beratungsgegenstand dieser Vorkonferenz konnte nach Auffassung Brünings nur eine kurzfristige Verlängerung des Hoover-Moratoriums sein, während die Auseinandersetzung über die Befreiung von den Reparationslasten auf den Sommer vertagt werden mußte. Gegenüber den Vertretern der USA Frankreichs und Großbritanniens hielt die Reichsregierung an ihrem Standpunkt fest, daß Deutschland nach dem Ende des Hoover-Moratoriums nicht imstande sei, die Reparationszahlungen wieder aufzunehmen, weil „der Zeitabschnitt der Reparationen abgelaufen ist“343.

343

So die Aufzeichnung des StS Pünder vom 8.1.32 in Dok. Nr. 621; vgl. Dok. Nr. 630; 732, P. 1. Zu den Reparationsberatungen Dok. Nr. 618; 620.

Wegen der deutsch-französischen Spannungen und englisch-französischer Differenzen über die Verlängerung des Feierjahres wurde die Januarkonferenz von London und Paris abgesagt344. Diese Verschiebung war der Reichsregierung durchaus nicht unerwünscht, da sie selbst ohnehin die abschließende Regelung des Reparationsproblems auf der Junikonferenz durchsetzen wollte; außerdem zogen sich die Stillhalteverhandlungen mit den privaten Gläubigern länger als vorgesehen hin345.

344

Dok. Nr. 629; 630.

345

Dok. Nr. 625; 633.

Am 27. Mai 1932 fand in der Reichskanzlei eine reparationspolitische Besprechung zur Vorbereitung der Lausanner Konferenz statt. Das „Reparationskränzchen“ beschloß ohne konkrete Pläne, „die eine Beendigung der Reparationen durch eine irgendwie geartete Abschlußzahlung vorsehen“ nach Lausanne zu gehen. Diese Entscheidung überrascht nicht mehr, wenn man die Begründung liest. Deutschland werde zwar an seinem Standpunkt festhalten, daß es weder jetzt noch in absehbarer Zeit zu irgendwelchen zusätzlichen Reparationsleistungen in der Lage sei. Obwohl daher die deutsche Delegation die Streichung der Reparationen fordern müsse, bestand Übereinstimmung in diesem Punkt: „Diese Forderung wird sich allerdings kaum sofort durchsetzen lassen, wenigstens noch nicht auf dieser Konferenz.“ Es sei also notwendig, die Gegenseite in der Öffentlichkeit für ein Scheitern der Konferenz verantwortlich zu machen. Und in der Tat beschäftigte sich die Runde hauptsächlich mit der Formulierung des deutschen Alibis für den erwarteten Mißerfolg der Lausanner Tagung. Wie ein Jahr zuvor, als Brüning überzeugt war, die Reparationsfrage werde frühestens[LXXIX] 1932 in Bewegung kommen, glaubte er auch jetzt, drei Tage vor seinem Sturz, nicht an eine unmittelbar bevorstehende Lösung dieses Problems346. In seiner eigenen pessimistischen Einschätzung war Brüning mit der Reparationspolitik, der er seit anderthalb Jahren rigoros alles untergeordnet hatte, offenbar doch nicht „an den letzten hundert Metern vor dem Ziele“ angelangt347.

346

Dok. Nr. 767.

347

Sein berühmtes Wort in der Rede vom 11. Mai 1932 in: RT-Bd. 446, S. 2602 .

Außenpolitik als Revisionspolitik

Frankreich, Großbritannien und die USA waren die Hauptpartner der deutschen Außenpolitik. Das Reparationsproblem beherrschte das Verhältnis zu den drei Großmächten. Welche Rolle spielte das Reich im Völkerbund, wie stand es zu den übrigen europäischen Mächten? Curtius kennzeichnete einmal Deutschlands Position im Völkerbund als „loyale Opposition“348. Seine Berichte über die Ratssitzungen und Bundesversammlungen vor dem Kabinett lassen an dieser Einschätzung allerdings einigen Zweifel aufkommen. Denn die deutsche Delegation trat auf jeder Tagung mit Anklagen gegen die europäische Friedensordnung von 1919 hervor und verschärfte damit vor der Weltöffentlichkeit den deutsch-französischen Gegensatz349. Die Beschwerden über die Unterdrückung der deutschen Minderheit in Polen waren das Dauerthema jeder Session. Deutschland führte die Debatte über die Minderheitsfragen auch ohne Anlaß herbei, nur „um die Tradition nicht abreißen zu lassen“350. In der Kommission zum Studium des Briand-Plans widersetzte sich Deutschland den französischen Initiativen351, in der Abrüstungskommission trug der Außenminister Vorschläge vor, die nur als Demonstration gedacht waren, hielt sich aber zurück, als neutrale Staaten ein Rüstungsfeierjahr anregten352. In diesen Zusammenhang gehörte auch die Weigerung, der Generalakte zur friedlichen Schlichtung zwischenstaatlicher Streitigkeiten beizutreten, weil dies als Anerkennung des europäischen status quo durch Deutschland ausgelegt werden könnte353. Für die „allgemeine Enttäuschung über das Versagen des Völkerbundes“354 trug das Reich wegen der beharrlich verfolgten Revision des Versailler Vertrags die Mitverantwortung.

348

Dok. Nr. 504.

349

Vgl. Dok. Nr. 38, P. 1 (Rheinlandräumung und Saarstatut); Dok. Nr. 130, P. 1 (Saarstatut, Ausgang der RT-Wahl vom 14.9.30); Dok. Nr. 306 (Dt.-österr. Zollunion, Briand-Plan); Dok. Nr. 504 (Dt.- österr. Zollunion) und Dok. Nr. 732, P. 1. Lediglich in Dok. Nr. 227 erwähnte der RAM eine freundschaftliche Unterredung mit Briand.

350

So der RAM in Dok. Nr. 504; zu den Beschwerden gegen Polen Dok. Nr. 38, P. 1; 130, P. 1; 227; 306.

351

Dok. Nr. 227; 306; 504.

352

Dok. Nr. 306; 504.

353

Dok. Nr. 296; 306.

354

Der RAM am 3.10.31 in Dok. Nr. 504.

Der Staat, der sich von diesem Ziel der deutschen Politik in seiner Existenz bedroht fühlte, war Polen. Nicht nur die Minderheitenfrage oder die Weigerung Berlins, den bilateralen Handelsvertrag zu ratifizieren355, belasteten die deutsch-polnischen[LXXX] Beziehungen; das Verhältnis zu Warschau war grundlegend gestört, weil alle Reichsregierungen die 1919/20 festgelegten Grenzen nicht anerkannt und ein „Ostlocarno“, also die Garantie für die polnische Westgrenze, abgelehnt hatten.

355

Dok. Nr. 20, P. 2; 24, P. 2; 578.

Die Gundsätze seiner Polenpolitik erläuterte Curtius im August 1930 in der Auseinandersetzung über die Wahlkampfäußerungen von Treviranus. Der Außenminister wies die Behauptung als falsch zurück, die Westpolitik sei nur betrieben worden, damit die Reichsregierung im Osten freie Hand habe. Es sei allerdings notwendig, die unmöglichen territorialen Zustände zu ändern. Er habe daher schon während der Young-Plan-Verhandlungen mit der Sowjetunion Kontakt aufgenommen, um den Boden für die Rückgewinnung des Korridors allmählich vorzubereiten.

Diesem Ziel dienten ebenfalls die gegen Polen gerichteten Verhandlungen mit Litauen. Auch den amerikanischen Botschafter Sackett habe Curtius für das Korridorproblem interessieren können. Der Schlüssel für eine friedliche Durchsetzung der deutschen Ziele gegenüber Polen liege allerdings in Paris356. Kompromißvorschläge, etwa einen deutschen Korridor durch den polnischen Korridor, wie sie Graf Coudenhove-Kalergi in einem Gespräch mit dem polnischen Außenminister Zaleski sondierte, lehnte das Auswärtige Amt als „Palliativ-Mittelchen“, die „für die deutsche Politik durchaus unerwünscht“ seien, strikt ab357. Die Taktik der Regierung gegenüber Polen war also langfristig angelegt und zielte auf eine Maximallösung358.

356

Dok. Nr. 104, P. 3. Zur Rolle Frankreichs im deutsch-polnischen Verhältnis vgl. Dok. Nr. 130, P. 1.

357

Dok. Nr. 275; vgl. eine ähnliche Anregung des frz. Journalisten d’Ormesson in Dok. Nr. 104, Anm. 12.

358

Vgl. Brünings Äußerung bei einem Empfang von Deutschen aus Pommerellen: Er „betonte hierbei, daß deutsche Konzessionen in der Ostfrage gänzlich ausgeschlossen seien“: Dok. Nr. 209.

Während die deutsche Handelspolitik in den ersten Monaten der Ära Brüning unter dem Primat von Schieles Agrarpolitik stand359, geriet sie nach der Septemberwahl zunehmend in den Sog der deutschen Reparationspolitik. Der Zwang zur Exportförderung lenkte die Aufmerksamkeit des Kabinetts auf Südosteuropa. Vor allem Reichsfinanzminister Dietrich setzte sich für intensivere Wirtschaftsbindungen zu den Donaustaaten ein, da sie in hohem Maße für deutsche Industriewaren aufnahmefähig seien, selbst jedoch nur begrenzte Mengen von Agrarerzeugnissen nach Deutschland ausführen könnten. Ein engeres Verhältnis zu Rumänien, Ungarn, Jugoslawien und Bulgarien würde den französischen Einfluß zurückdrängen und den Anschluß Österreichs fördern360. Dietrich verfolgte damit zwei Ziele: die Staaten der „Kleinen Entente“ auf die deutsche Seite zu ziehen und sie über den erhöhten Export indirekt an den deutschen Reparationslasten zu beteiligen. Der Reichskanzler teilte[LXXXI] diese Ansicht. Brüning sah in der Tatsache, daß das Reich Importland für Agrarprodukte war, die schärfste außenpolitische Waffe, da die Agrarländer gegeneinander ausgespielt und durch reparationsbedingte Zollschranken sogar ruiniert werden könnten361.

359

Vgl. etwa den Ratifizierungsaufschub für den dt.-polnischen Handelsvertrag, Dok. Nr. 20, P. 2 und die dt.-finnischen Handelsvertragsverhandlungen, Dok. Nr. 99, P. 2; 101; 105, P. 4; 106; 109, P. 1.

360

Dok. Nr. 165. Ob Dietrich mit diesen Gedankengängen auf die Mitteleuropadiskussion vor 1914 zurückgriff, kann hier nicht erörtert werden.

361

Dok. Nr. 247, P. 1; 306.

Frankreich trat den deutschen Bestrebungen mit dem Vorschlag einer Zollunion für die Donaustaaten entgegen. Der Plan des französischen Ministerpräsidenten Tardieu verfolgte nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes drei Ziele: die Sicherung des französischen Kapitals in Südosteuropa, die Abwendung eines wirtschaftlichen Kollapses und das politische Interesse, das Vordringen Deutschlands und Italiens auf dem Balkan zu verhindern. Deshalb war Deutschland zunächst nicht zu den französisch-britischen Gesprächen hinzugezogen worden. Das Kabinett hielt ein Mitwirken des Reichs aber für erforderlich, um wirtschaftlichen und politischen Schaden zu vermeiden. Nach dem Abschluß der ersten Konsultationsrunde hatte die französische Regierung Deutschland zur Teilnahme aufgefordert und zugleich angedeutet, ihr Vorschlag könne auch als Vorbild für die Sanierung der deutschen Wirtschaft und Finanzen dienen. Die Reichsregierung bot in einem Gegenmemorandum den Donaustaaten einseitige Handelspräferenzen unter der Voraussetzung an, daß diese auch ihren Abnehmerstaaten entsprechende Vergünstigungen gewähren könnten. Mit diesem Vorschlag wollte Berlin London überzeugen, daß es außer dem Tardieu-Plan auch noch andere Möglichkeiten zur Sanierung der Balkanländer gab. Die Verhandlungen waren beim Sturz Brünings noch nicht abgeschlossen362.

362

Dok. Nr. 693; 718.

Schließlich seien noch zwei Staaten erwähnt, die als Partner in die deutsche Revisionspolitik einbezogen wurden: die Sowjetunion und Italien.

Die deutsch-russischen Beziehungen waren im Frühjahr 1930 wegen der Christenverfolgungen und der Kollektivierungskampagne gegen deutschstämmige Bauern in der UdSSR getrübt. Verstimmt war die Regierung auch über deutschsprachige Rundfunkpropaganda aus der Sowjetunion. Für Curtius gab es aber keinen Zweifel, daß die Beziehungen zu Moskau im Interesse der europäischen Staatengemeinschaft gepflegt werden müßten. Die Differenzen wurden in Verhandlungen zwischen Botschafter v. Dirksen und Außenminister Litwinow beigelegt363, weil der gemeinsame Gegensatz zu Polen und seinem Protektor Frankreich größer war als die innerpolitisch bedingten Streitigkeiten. Da die Sowjetunion sich Anfang der Dreißiger Jahre anschickte, auf der internationalen Bühne einen gewichtigen Part zu übernehmen – sie wurde zur Teilnahme an der Europa-Studien-Kommission und an der Abrüstungskonferenz eingeladen, obwohl sie kein Völkerbundsmitglied war – hätten dauernde Spannungen zwischen den beiden Staaten nicht im deutschen Interesse gelegen. Der Berliner Vertrag wurde im Juni 1931 ohne besondere Kabinettsdiskussion verlängert364.

363

Dok. Nr. 20, P. 1; 39, P. 5; 273. Die dt.-russ. Verhandlungen wurden mit einem Kommuniqué abgeschlossen, das die sowjetische Koexistenzformel enthielt, „daß die Gegensätzlichkeit der beiden Staatssysteme kein Hindernis für die gedeihliche Weiterentwicklung ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu sein braucht“: Dok. Nr. 39, Anm. 15.

364

Schultheß 1931, S. 418.

[LXXXII] Für die Reichsregierung war die UdSSR nicht nur als politischer Partner wichtig, sondern als Markt mit einem hohen Bedarf für Industriegüter. Trotz finanzieller Schwierigkeiten übernahm das Reich eine Ausfallbürgschaft, als im Frühjahr 1931 eine Industriellendelegation mit Aufträgen für 300 Millionen RM von einer Rußlandreise heimkehrte. Die außen- und wirtschaftspolitischen Vorteile überwogen die Bedenken einzelner Minister wegen der sowjetischen Zahlungsmoral und möglicher schädlicher Wirkungen auf die Zollunion mit Österreich und die Reparationsverhandlungen365.

365

Dok. Nr. 259; 262; 268; 269, P. 1; 270, P. 2.

Gegen Ende der Ära Brüning entstand in den deutsch-sowjetischen Beziehungen erneut eine Irritation, weil die UdSSR mit ihren westlichen Nachbarstaaten bilaterale Verhandlungen über den Abschluß von Nichtangriffsverträgen begonnen hatte. Vor allem die russisch-polnischen Kontakte nährten im Auswärtigen Amt den Argwohn, daß die UdSSR von der Rapallo-Politik abrücken könnte366.

366

Dok. Nr. 652.

Als Erfolg ihrer Außenpolitik konnte die Reichsregierung die Verbesserung der Beziehungen zu Italien verbuchen. Die Anregung zur Zusammenarbeit ging anscheinend von Rom aus; die italienische Regierung suchte Verbündete gegen Frankreich und rechnete wohl damit, daß ein Kabinett ohne sozialdemokratische Beteiligung dem faschistischen Regime weniger Vorbehalte als die Große Koalition entgegenbringen würde367. Die deutsch-italienischen Kontakte waren während der Frühjahrstagung 1930 des Völkerbundes so intensiv, daß der französische Außenminister Briand den deutschen Botschafter v. Hoesch halb scherzhaft fragte, ob Deutschland demnächst einen Bündnisantrag von Italien zu erwarten hätte368. Die Kooperation zwischen Berlin und Rom bewährte sich während der Herbsttagung 1930, als beide Delegationen bei der Besetzung des Völkerbundssekretariats gemeinsam gegen Großbritannien und Frankreich opponierten369. Die deutsch-österreichische Zollunion lehnte Italien zwar ab, übernahm aber nicht den französischen Standpunkt370, so daß die enge Zusammenarbeit in der Europakommission und in der Abrüstungsfrage ohne Schaden fortgesetzt werden konnte371. Höhepunkt der deutsch-italienischen Annäherung war der Besuch des Reichskanzlers und des Außenministers in Rom im August 1931. Wenn dieser Besuch auch keine konkreten Ergebnisse zeitigte, so konnte Brüning doch mit dem Gefühl heimfahren, daß sich Italien in der Reparations- und in der Abrüstungsfrage nicht in die Front der Gegner Deutschlands einreihen würde372.

367

Vgl. dazu die unterschiedlichen Reaktionen der Regierungen Müller II und Brüning II auf antifaschistische Kundgebungen in Dtld: Während die Große Koalition trotz einer ital. Demarche keine Möglichkeiten zum Verbot eines antifaschistischen Kongresses sah (s. diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 125, P. 1), intervenierte RK Brüning ohne äußeren Druck beim SPD-Vorsitzenden Wels, um eine Rede des ital. Sozialisten Nenni zu verhindern: Dok. Nr. 648.

368

Dok. Nr. 38, Anm. 14.

369

Dok. Nr. 130, P. 1.

370

Dok. Nr. 306.

371

Dok. Nr. 205, Anm. 4 und 5; 227; 504; 521.

372

Dok. Nr. 440, P. 3.

[LXXXIII] Die Abrüstungsfrage

Seit 1926 tagte eine vom Völkerbund eingesetzte „Vorbereitende Abrüstungskommission“. Sie sollte die Vorarbeiten leisten für eine internationale Abrüstungskonferenz, gemäß Artikel 8 der Völkerbundssatzung über die Reduzierung der Streitkräfte. Im Dezember 1930 legte die Kommission endlich einen Konventionsentwurf vor, und der Beginn der Abrüstungskonferenz wurde auf den 2. Februar 1932 festgesetzt. Welche Taktik und welche Ziele verfolgte die Reichsregierung bei den Abrüstungsgesprächen? Eine erste ausführliche Besprechung über dieses Thema fand am 30. Oktober 1930 statt. Sie diente der Festlegung der deutschen Position für die letzte Tagung der Vorbereitenden Abrüstungskommission, weitete sich aber wegen der öffentlich erhobenen Forderungen nach einer deutschen Aufrüstung zu einer Generaldebatte aus. Außenminister Curtius riet dringend, an der bisher verfochtenen These festzuhalten, alle Staaten müßten auf das militärische Niveau Deutschlands abrüsten. Gegen eine Änderung dieses Vorgehens spreche außenpolitisch die Reparationsfrage und innenpolitisch die Finanznot. Reichswehrminister Groener verlangte dagegen, daß Deutschland die Befreiung von den Versailler Rüstungsbeschränkungen fordern müsse. Curtius schlug vor, statt des Begriffs Aufrüstung künftig die Formel „Parität der Sicherheit“ zu benutzen373. Diese Formel verwandte er dann in der Debatte des Völkerbundsrats über den Konventionsentwurf374.

373

Dok. Nr. 158.

374

Dok. Nr. 227; zur kritischen dt. Bewertung des Konventions-Entw.: Dok. Nr. 205.

Die Klagen des britischen und des französischen Botschafters über die deutsche Zurückhaltung in der Abrüstungsfrage veranlaßten Brüning am 18. März 1931 zu einer neuen Aussprache im kleinen Kreis. Es bestand Einigkeit darüber, daß Deutschland auch weiterhin von anderen Mächten Abrüstungsangebote fordern müsse. Ziel der Verhandlungen müsse die Beseitigung der Bestimmungen über die Reichswehr im Teil V des Versailler Vertrages sein. Dann, so führte Staatssekretär v. Bülow aus, würde das Reich sich nur noch in eine allgemeine Abrüstungskonvention einzufügen haben, wobei nach dem Ablauf der Geltungsdauer eines solchen Abkommens Deutschlands natürliche Kraft in die Waagschale geworfen werden könne. Uneins war man nur noch über die Taktik; während Botschafter v. Hoesch dafür war, daß Deutschland bis zum letzten Augenblick nichts von seinen Wünschen erkennen lasse, um seinen moralischen Standpunkt in der Abrüstungsforderung bis zum Schluß intakt zu halten, glaubte Bülow, daß man gegenüber den Westmächten die eigentlichen Ziele in äußerst vorsichtiger Form durchblicken lassen müsse. Wegen der schlechten Haushaltslage war allerdings die Forderung nach Deutschlands Gleichberechtigung für die nahe Zukunft mehr theoretischer Natur375. Finanzielle Gründe mögen der Reichsregierung die Zustimmung zu dem italienischen Vorschlag eines Rüstungsfeierjahres erleichtert haben376.

375

Dok. Nr. 265; 314.

376

Mussolinis Anregung gegenüber dem RK in Dok. Nr. 440, P. 3; 504; 532, P. 2.

[LXXXIV] Im Dezember 1931, sechs Wochen vor der Eröffnung der Abrüstungskonferenz am 2. Februar 1932, sondierte die britische Regierung in Berlin, ob der Reichskanzler mit einer Verschiebung der Tagung bis zum Frühsommer 1932 einverstanden sei. Das Foreign Office fürchtete nämlich, daß vor den französischen Kammerwahlen im Mai 1932 die Abrüstungsgespräche keinen Schritt vorankommen würden. Brüning lehnte diese Anregung kategorisch ab, weil eine Verschiebung der Abrüstungskonferenz und ein eventuell gleichzeitiges Scheitern der Reparationsverhandlungen eine innenpolitische Katastrophe auslösen würden377.

377

Dok. Nr. 600; 603.

In der Ministerbesprechung vom 15. Januar 1932 trug Botschafter Nadolny, der Vorsitzende der deutschen Delegation, die Richtlinien für die Abrüstungskonferenz vor. An den Zielen der deutschen Politik hatte sich nichts geändert: Beseitigung der diskriminierenden Rüstungsbeschränkungen für Deutschland und eine Befriedigung des deutschen Sicherheitsbedürfnisses. Dabei wollte man die Aufrüstung Deutschlands und die Wehrfreiheit nicht erwähnen, sondern immer nur den deutschen Rechtsstandpunkt wiederholen. Für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen müsse sich das Reich alle Möglichkeiten offenhalten. Deutschland müsse eine breite Front gegen Frankreich und seine Vasallen schaffen; der Anfang dafür sei gemacht; Italien und die UdSSR stünden auf der deutschen Seite378.

378

Dok. Nr. 631, P. 1.

Über den Verlauf der Abrüstungskonferenz wurde das Kabinett, vermutlich aus Gründen der Geheimhaltung, vom Kanzler nicht informiert. Daher gab Brüning vor dem Kabinett auch keine Einzelheiten über das Gespräch in Bessinge am 26. April 1932 preis. Brüning hatte in dieser Unterredung dem britischen Premierminister MacDonald und dem amerikanischen Außenminister Stimson den deutschen Standpunkt erläutert. Er betonte seine ehrliche Abrüstungsabsicht und bot als Zeichen guten Willens an, daß für die Dauer der ersten Abrüstungskonvention die Reichswehr ihr Rüstungsniveau beibehalten sollte. Brüning wünschte lediglich die Herabsetzung der zwölfjährigen Dienstzeit und die Aufstellung einer Miliz nach Schweizer Vorbild. MacDonald und Stimson waren mit der Ablösung des Teils V des Versailler Vertrags durch die Abrüstungskonvention einverstanden und hielten die Forderungen des Reichskanzlers für vernünftig und berechtigt. Auf MacDonalds Bedenken, daß Deutschland nach dem Ablauf der Abrüstungskonvention die völlige Rüstungsfreiheit erlangen könnte, erwiderte Brüning, nur mit dem Druckmittel der Rüstungsfreiheit seien weitere Abrüstungsvereinbarungen zu erzwingen. Der Kanzler stimmte auch der Abschaffung der Angriffswaffen zu379. Brüning hatte in diesem Gespräch zweifellos einen Durchbruch in der Abrüstungsfrage erzielt, es fehlte aber die französische Zustimmung; vor seinem Rücktritt hat er sie nicht mehr erhalten.

379

Dok. Nr. 727. Diese Aktennotiz des StS v. Bülow enthält weniger Themenkomplexe als Brüning in seinen Memoiren, S. 558–563, darstellt. Vgl. auch Dok. Nr. 732, P. 1.

[LXXXV] Das Projekt der deutsch-österreichischen Zollunion und das Ende des Kabinetts Brüning I

 

Im Februar 1930 hatte der österreichische Bundeskanzler Schober mit dem Kabinett Müller II in Berlin Verhandlungen über die Verbesserungen der bilateralen Beziehungen geführt. Schober hatte den Gedanken einer deutsch-österreichischen Zollunion ventiliert, und seine deutschen Gesprächspartner hatten darauf durchaus positiv reagiert380. Curtius erwiderte Schobers Besuch im März 1931. Dem Kabinett hatte er vier Tage vor seiner Abreise nach Wien mitgeteilt, daß „Verhandlungen über die Zollannäherung aussichtsreich“ seien; eine Diskussion über dieses Thema fand anscheinend nicht statt381. Die Besprechungen über das Ergebnis der Wiener Reise erwecken nicht den Eindruck, als hätten die Mitglieder der Reichsregierung die Zollunion überschwänglich begrüßt. Trendelenburg und Schiele kritisierte, daß Österreich aus dem Projekt größere Vorteile als Deutschland ziehen werde. Vor allem lehnten die Minister die beabsichtigte Einschaltung des Haager Gerichtshofs als letzte Instanz bei Streitigkeiten ab, und Dietrich sprach in diesem Zusammenhang sogar von der Aufgabe der deutschen Souveränität. Brüning bedauerte zwar den Zeitpunkt für diese Vereinbarung, der nicht besonders glücklich gewählt sei. Deutschland hätte aber keinen anderen wählen können. Damit schnitt der Kanzler die Frage an, wie sich die Zollunion in die deutsche Außenpolitik einfügen sollte. Für Curtius war das Projekt der erste Schritt für den wirtschaftlichen Anschluß Österreichs, da die Zeit für den politischen Anschluß an das Deutsche Reich noch nicht reif sei. Den anderen Mächten wurde die Zollunion jedoch als Modell einer wirtschaftlichen Neuordnung Europas durch regionale Vereinbarungen empfohlen. Gleichwohl verhehlte der Außenminister seinen Kollegen nicht, daß das deutsche Vorgehen ein erhebliches politisches Risiko enthielt. Deshalb sei in Wien anstelle eines Vertrages lediglich ein Protokoll mit wenigen Richtlinien abgezeichnet worden, um die anderen europäischen Regierungen nicht von vornherein vor den Kopf zu stoßen. Trotzdem müsse mit einer erheblichen außenpolitischen Diskussion gerechnet werden. Innenpolitisch könne die Zollunion dagegen eine Entspannung und eine gemeinsame Front von den Sozialdemokraten bis zu den Nationalsozialisten herbeiführen382. Mit seiner ersten Prognose behielt Curtius recht, seine zweite Voraussage erwies sich als Fehlkalkulation.

380

Diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 453.

381

Dok. Nr. 252, P. 3.

382

Dok. Nr. 263; 267, P. 1.

Großbritannien und Frankreich legten gegen die Zollunion scharfen Protest ein; das Foreign Office erklärte, daß die Wiener Vereinbarung ein Schlag gegen Briand sei, dessen Sturz eine große Gefahr für den Frieden Europas bedeuten würde. Botschafter v. Hoesch bestätigte, daß die Stellung des französischen Außenministers Briand stark erschüttert sei; Hoesch kam in seiner Analyse zu dem Ergebnis, daß Frankreich keine andere Wahl bleibe, als Widerstand gegen die Zollunion zu leisten; lasse es die Zollunion zu, so werde damit der Auftakt[LXXXVI] zum Anschluß gegeben; würden andere südosteuropäische Staaten sich anschließen, entstünde das von Paris perhorreszierte Mitteleuropa unter deutscher Führung; würde Frankreich sich zu einem Beitritt entschließen, geriete es in eine Kombination unter deutscher Ägide383.

383

Dok. Nr. 271, Anm. 4.

Mit dem Zollunionsplan hatte sich, wie Curtius zugeben mußte, Deutschland im Völkerbund isoliert. Verschärft hatte sich die Situation durch den Zusammenbruch der Österreichischen Kreditanstalt im Mai 1931, der Frankreich die Gelegenheit gab, den finanziellen Druck auf Wien zu verstärken384. Der Außenminister mußte sich damit abfinden, daß der Haager Gerichtshof wegen der Zollunion angerufen wurde385. Die Finanzkrise des Sommers 1931 zwang Österreich zum Rückzug von dem gemeinsamen Projekt. Wien beantragte im August 1931 beim Völkerbund eine Anleihe, was einer Aufgabe der Zollunion gleichkam. Am 3. September 1931, zwei Tage vor der Publikation des Haager Urteils, zogen Deutschland und Österreich vor dem Völkerbund die Zollunion zurück386. Obwohl die Haager Entscheidung nur mit einer Stimme Mehrheit gegen Deutschland ausfiel, bedeutete sie dennoch für die Reichsregierung eine schwere diplomatische Niederlage.

384

Dok. Nr. 298.

385

Dok. Nr. 306.

386

Dok. Nr. 461.

In den Beratungen des Frühjahrs 1931 hatte die Reichsregierung drei außenpolitische Ziele formuliert: die Beseitigung der Reparationen, die Befreiung von den Rüstungsbeschränkungen und den wirtschaftlichen Anschluß Österreichs, drei Ziele also, die das Versailler System in seiner Substanz angriffen. Vor allem das Projekt der Zollunion erwies sich als verhängnisvoller diplomatischer Fehler, der aus der Überschätzung der außenpolitischen Bewegungsfreiheit des Reichs und der Fehlbeurteilung der britischen und französischen Reaktionen entstanden war. Die Zollunion erschütterte das Vertrauen des Auslands in die deutsche Zuverlässigkeit und schwächte die deutsche Position in der Banken- und Kreditkrise.

Innenpolitisch hat die Zollunion die Reichsregierung auch nicht stabilisieren können, im Gegenteil: bereits während der Frühjahrstagung des Völkerbundes forderte die deutsche Presse den Rücktritt des deutschen Außenministers387. Für das Scheitern der Zollunion übernahm Curtius die Verantwortung und reichte am 3. Oktober 1931 sein Rücktrittsgesuch ein, das der Kanzler zum Anlaß für die Gesamtdemission des Kabinetts nahm. Damit wollte Brüning der Forderung des Reichspräsidenten nachkommen, die Regierung nach rechts zu erweitern388. Doch dies gelang Brüning nicht; zwar wurde der als „links“ geltende Wirth entlassen, aber der Kanzler konnte außer Schlange-Schöningen keine profilierte konservative Persönlichkeit für das Kabinett gewinnen389. Das[LXXXVII] 2. Kabinett Brüning hatte zwar an personeller Konzentration gewonnen, an parlamentarischem Rückhalt aber verloren, weil die DVP in der Regierung nicht mehr vertreten war.

387

Dok. Nr. 306, Anm. 19; zu den Gegnern des DVP-Mitgliedes Curtius gehörte auch dessen Parteivorsitzender Dingeldey: s. Dok. Nr. 329, Anm. 12 und Dok. Nr. 330, Anm. 3. Vgl. Dok. Nr. 330, Anm. 5 sowie Dok. Nr. 404.

388

Dok. Nr. 461; 511, P. 1 und Brüning, Memoiren, S. 421–425.

389

Dok. Nr. 514; 517; zur Neubesetzung der Ministerien Dok. Nr. 515, Anm. 1.

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