2.107.1 (bru1p): Fortsetzung der Aussprache über Fragen des Finanzausgleichs und damit zusammenhängender finanzpolitischer Angelegenheiten.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 10). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Brüning I und II. Band 1 Das Kabinett Brüning I Bild 183-H29788NS-Wahlversammlung im Sportpalast Bild 102-10391Arbeitslose Hafenarbeiter Bild 102-11008Bankenkrise 1931 Bild 102-12023

Extras:

 

Text

RTF

Fortsetzung der Aussprache über Fragen des Finanzausgleichs und damit zusammenhängender finanzpolitischer Angelegenheiten.

Der Reichskanzler sprach in ernsten Worten sein Bedauern darüber aus, daß Einzelheiten aus den voraufgegangenen Beratungen in die Presse gelangt seien. Er richtete daher einen eindringlichen Appell zu absoluter Geheimhaltung des Beratungsgegenstandes an die Ressorts mit dem Hinzufügen, daß er sich zu einschneidenden Maßnahmen genötigt sehen werde, wenn seine Maßnahmen wirkungslos bleiben sollte.

Der Reichsverkehrsminister berichtete sodann im Rahmen der vom Reichsminister der Finanzen geforderten Abstriche am Etat über die Möglichkeiten einer Finanzierung der Bauarbeiten am Mittellandkanal durch Privatkapital1. Er teilte mit, daß ein amerikanisches Konsortium unter Führung des amerikanischen Bankhauses Harriman ihm schon vor einigen Monaten das Angebot gemacht habe, die zur Fertigstellung des Mittellandkanals erforderlichen Mittel aufzubringen2. Er habe hierüber auch schon unverbindliche Vorverhandlungen mit den Vertretern Harrimans geführt und bitte um die Ermächtigung des Reichskabinetts, diese Verhandlungen fortzusetzen. Wenn aus dem Geschäft etwas werden sollte, so werde dies eine erhebliche Entlastung der Haushaltspläne der nächsten Jahre bedeuten. In den Mittellandkanal seien bisher 200[399] Millionen RM hineingesteckt worden. Die Berechnungen über die zukünftige Rentabilität des fertiggestellten Kanals hätten ergeben, daß das Anlagekapital sich mindestens mit 6 v.H., höchstwahrscheinlich aber noch besser, verzinsen werde. Für das laufende Jahr sei die Finanzierung der vorgesehenen Bauabschnitte sichergestellt. Für die kommenden Jahre könne dies mit Sicherheit nicht gesagt werden, zumal da die an der Aufbringung der Kosten vertragsmäßig mitbeteiligten Länder Miene machten, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. Wenn die Fortsetzung des Kanalprojekts an den Finanzierungsschwierigkeiten scheitern sollte, seien auch die bereits aufgebrachten 200 Millionen RM im wesentlichen vergeblich verausgabt. Aus diesem Grunde glaube er dringend empfehlen zu müssen, das Harriman-Projekt weiterzuverfolgen. Selbstverständlich werde er mit dem Konsortium nur auf der Basis verhandeln, daß die Tarifhoheit des Reichs für den Kanal unangetastet bleibt.

1

Zu den Schwierigkeiten der öffentlichen Finanzierung des Mittellandkanals, die durch die Weigerung Preußens, den vertraglich festgesetzten Beitrag zu leisten, entstanden waren, s. Dok. Nr. 30, P. 4.

2

Der RVM hatte am 4.7.30 dem RK „persönlich und vertraulich“ eine Aufzeichnung über die erste Unterredung des MinDir. Stapenhorst mit Irving Rossi, dem Repräsentanten des New Yorker Bankhauses W. A. Harriman, zugesandt. Rossi hatte die Gründung einer Gesellschaft aus Reich und Ländern zum Bau des Mittellandkanals begrüßt. Die notwendigen Gelder sollten durch eine Anleihe auf dem amerik. Markt aufgebracht werden. Als Sicherheit für die Anleihe hatte Rossi vorgeschlagen, eine Kanalgesellschaft zu bilden „unter Belassung des Betriebes in Händen des Reiches. Dann würde das Reich einen Verkehrsvertrag mit der Gesellschaft abschließen, wonach das Reich der Gesellschaft gegenüber einen gewissen Verkehr zu einem gewissen Tarifsatz garantiere, um eine feste Einnahme für den Anleihedienst und für Betriebs- und Unterhaltungskosten zu gewährleisten“; diese Lösung sei einer allgemeinen Reichsgarantie für die Anleihe vorzuziehen (Aufzeichnung über die Besprechung vom 2.7.30 in R 43 I /2141 , Bl. 306–310; Zitat Bl. 307). Die Finanzierungsvorschläge des Bankhauses Harriman waren außerdem in einem Memorandum Rossis vom 9.7.30 zusammengefaßt, das der RVM dem RK am 12. 7. geschickt hatte (R 43 I /2141 , Bl. 311–317).

Der Reichsminister der Finanzen erklärte sich mit der Absicht des Reichsverkehrsministers ausdrücklich einverstanden und gab der Hoffnung Ausdruck, daß es gelingen möge, die Verhandlungen zu einem günstigen Abschluß zu bringen.

Der Reichskanzler äußerte sich in gleichem Sinne und stellte die Zustimmung des Gesamtkabinetts zur Fortsetzung der Verhandlungen mit der Harriman-Gruppe durch den Reichsverkehrsminister fest. Er bat, die Verhandlungen nach Möglichkeit zu beschleunigen3.

3

Zum Fortgang der Verhandlungen s. Dok. Nr. 116, P. 2.

Der Reichsminister der Finanzen ging sodann in großen Zügen auf die <voraussichtliche>4 Gestaltung des Haushaltsplans 1931 ein. Er schätzte die Gesamtsumme der Einnahmeminderungen des Rechnungsjahres 1931 auf rund 1 Milliarde RM. Er nannte folgende Zahlen:

4

Berichtigt aus: „voraussetzliche Gestaltung“.

a)

Fortfall der Deckungsvorlagen vom 27.7.1930 . . .

322 000 000 RM

b)

Fortfall des Zuschusses aus dem außerordentlichen Haushalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 000 000 RM

c)

Senkung der Industriebelastung um . . . . . . . .

170 000 000 RM

d)

Mindereinnahmen aus Zinsen der Reichsbahnvorzugsaktien.. . . . . . . . . . . . . . . . .

56 000 000 RM

698 000 000 RM

Dazu rd. 300 Mill. Minderaufkommen an Steuern. Er erklärte weiter, daß diesen Ausfällen Ausgabekürzungen von nur 565 000 000 RM gegenüberstünden, nämlich

a)

Schuldentilgung. . . . . . . . . . . . . . . .

465 000 000 RM

b)

Besetzungskosten. . . . . . . . . . . . . . .

50 000 000 RM

c)

Reparationszahlungen. . . . . . . . . . . . .

20 000 000 RM

d)

Zahlung an Kriegsbeschädigte. . . . . . . . . .

30 000 000 RM

565 000 000 RM

[400] Angesichts dieses ungünstigen Bildes wies er eindringlichst darauf hin, daß die Ressorts die von ihnen in einem besonderen Rundschreiben verlangten Kürzungen ihrer Einzelpläne von insgesamt 160 Millionen RM unbedingt ermöglichen möchten5.

5

In dem Schnellbrief an alle Ressorts vom 9.7.30 hatte der RFM allerdings nur Etatsstreichungen in Höhe von 100 Mio RM verlangt (R 43 I /2365 , Bl. 194–197); vgl. Dok. Nr. 72, Anm. 1.

Die Aussprache wandte sich dann erneut den in den Ministerbesprechungen vom 19. und 22. August begonnenen Beratungen des Reformprogramms auf dem Gebiete der Finanzen zu6.

6

S. Dok. Nr. 103, P. 3 und Dok. Nr. 105, P. 3.

A. Der Reichsminister der Finanzen ließ erkennen, daß er bereit sei, für das Rechnungsjahr 1930 den noch entstehenden, bisher ungedeckten Finanzbedarf von schätzungsweise 400 Millionen RM für die Arbeitslosenversicherung nach den Grundsätzen der Notverordnung vom 26. Juli aufzubringen, d. h. ihn zur Hälfte mit 200.000.000 RM auf den Reichsetat zu übernehmen, während die andere Hälfte durch die Reichsanstalt aus Beitragserhöhungen usw. aufzubringen bliebe. Er wandte sich aber gegen die vom Reichsarbeitsminister vorgeschlagene Verschmelzung der Krisenfürsorge und Wohlfahrtsfürsorge zu einer neuen Form der Erwerbslosenunterstützung7. Den Finanzbedarf für die Krisenunterstützung im Rechnungsjahr 1931 bezifferte er auf 800.000.000 RM. Eine wirkliche Sanierung der Arbeitslosenfürsorge glaubte er nur von einer Abstufung der Beiträge und Leistungen der Versicherung erhoffen zu können.

7

Vgl. dazu Dok. Nr. 105, P. 3. In einem gemeinsamen Schreiben an den RK vom 27.8.30 forderten der DGB, der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Dtlds, der Gesamtverband Dt. Angestelltengewerkschaften und der Gesamtverband Dt. Verkehrs- und Staatsbediensteter ebenfalls eine Zusammenlegung von Krisenfürsorge und Wohlfahrtsunterstützung (R 43 I /2038 , Bl. 148–151).

B. Weiter führte er aus, daß es zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wesentlich darauf ankomme, die Privatwirtschaft zu beleben, und zwar

a)

sowohl durch größte Sparsamkeit bei der Bewirtschaftung öffentlicher Mittel wie auch

b)

durch Senkung der die Produktion hemmenden Steuern.

Eine Senkung einzelner Steuern durch verschärfte Anpassung anderer Steuern sei unter den gegenwärtigen Verhältnissen unmöglich. Die Entlastung der Realsteuern sei nach seiner Auffassung nur durch Umstellung der öffentlichen Bautätigkeit zu erreichen, indem ein Teil des bisher für Bauzwecke verwendeten Aufkommens aus der Hauszinssteuer zur Realsteuersenkung freigemacht werde. Er meinte, daß die öffentliche Bautätigkeit sich in Zukunft darauf beschränken müsse, etwa 160 000 bis 165 000 Kleinwohnungen mit der Hälfte der bisher aufgewandten Mittel zu finanzieren. Dadurch werde ein Betrag von 400.000.000 RM für Realsteuersenkungen frei werden. Eine allzu starke Arbeitslosigkeit bei den Bauhandwerkern glaubte er nicht befürchten zu müssen, da die private Bautätigkeit mindestens teilweise an die Stelle der verminderten öffentlichen Bautätigkeit treten werde. Die Hauszinssteuer selbst müsse allmählich in den Rahmen einer wirklichen Realsteuer überführt werden.

[401] C. Zur Frage einer Neugestaltung des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden wiederholte er seine früheren Vorschläge, die im wesentlichen darauf hinauslaufen, den Ländern die Biersteuer ganz oder zum Teil zu überweisen8. Schließlich setzte sich der Reichsminister der Finanzen für eine beschleunigte Verabschiedung des im Entwurf vorliegenden Pensionskürzungsgesetzes ein9.

8

S. Dok. Nr. 103, P. 3.

9

Vgl. Dok. Nr. 108, P. 3.

Der Reichsarbeitsminister befaßte sich in einer Erwiderung auf die Darlegungen des Reichsministers der Finanzen mit der Frage der Arbeitslosenfürsorge und der zukünftigen Gestaltung der öffentlichen Bautätigkeit.

Beim Thema Arbeitslosigkeit unterschied er folgende zwei Fragen:

a) Wie kann der Winter 1930/1931 überstanden werden?

b) Welche Maßnahmen sind für 1931 vorzusehen?

Er schätzte den für den kommenden Winter noch aufzubringenden Finanzbedarf für die Arbeitslosenfürsorge in Übereinstimmung mit dem Reichsminister der Finanzen auf 400.000.000 RM und stellt fest, daß der Reichsminister der Finanzen sich bereit erklärt habe, hiervon 200 Millionen RM auf den Reichsetat zu übernehmen. Bezüglich der restlichen 200 Millionen erklärte er, daß er sich ihre Aufbringung wie folgt denke:

100 Millionen RM durch eine nach den Wahlen zu beschließende Beitragserhöhung von 1 v.H. und weitere 100 Millionen durch Verkürzung der Unterstützungsfristen von bisher 26 Wochen auf 18 Wochen. Er wiederholte seine früheren Forderungen, daß mit dieser Verkürzung der Unterstützungsfrist ein Umbau der Krisenunterstützung und Wohlfahrtsunterstützung verbunden werden müsse.

Zur Frage der Einschränkung der Bautätigkeit durch die öffentliche Hand setzte er auseinander, daß die öffentliche Bautätigkeit bereits seit zwei Jahren stark zurückgegangen sei. Im übrigen erklärte er, daß er die Vorschläge des Reichsministers der Finanzen nicht ohne weiteres gutheißen könne und daß es noch weiterer sorgfältig vorbereiteter Beratungen des Reichskabinetts über die künftig zu befolgende Wohnungspolitik bedürfen werde, bis man zu einer Verständigung über die Einzelheiten kommen könne. Er sei aber einverstanden, daß der Öffentlichkeit gegenüber schon jetzt bekanntgegeben werde, daß das Reichskabinett an eine Reform des Bauprogramms denke, wobei jedoch die Mitteilung von Einzelheiten möglichst vermieden werden müsse.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg sprach sich bezüglich der Finanzierung der Arbeitslosenfürsorge im bevorstehenden Winter für ein Festhalten an den Grundsätzen der Notverordnung aus. Gegen den angeregten Umbau der Krisenunterstützung und die Verkürzung der Unterstützungsfristen in der Arbeitslosenversicherung äußerte er Bedenken. Er begrüßte die Anregung, 400 Millionen RM aus dem Aufkommen an Hauszinssteuer für die Senkung der Realsteuern freizumachen, hielt es aber für richtig, die Realsteuern erst dann zu senken, wenn die Einschränkungen des öffentlichen Bauprogramms wirklich gelungen seien und warnte davor, der Wirtschaft Versprechungen über Steuersenkungen[402] zu machen, bevor man die unbedingte Gewißheit habe, daß diese Versprechungen in die Tat umgesetzt werden könnten.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft brachte zur Sprache, daß er bemüht sei, zu seinem Teil an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dadurch mitzuwirken, daß in der Landwirtschaft die Heranziehung ausländischer Arbeitskräfte zugunsten deutscher Arbeiter stark eingeschränkt werde. Im übrigen regte er zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verstärkte Meliorations- und Siedlungstätigkeit an. Die Fortsetzung der Beratung wurde auf Mittwoch, den 27. August 1930, vertagt10.

10

S. hierzu Dok. Nr. 108, P. 3.

Extras (Fußzeile):