2.235.1 (bru1p): Bekämpfung der Auswüchse der radikalen Agitation in Wort und Schrift.

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Bekämpfung der Auswüchse der radikalen Agitation in Wort und Schrift.

Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung und bat zunächst den Preußischen Minister des Innern, eine Darstellung der innenpolitischen Situation vom polizeilichen Standpunkt aus zu geben. Der Sitzung lag der beiliegende Referentenentwurf einer Verordnung des Herrn Reichspräsidenten auf Grund des Art. 48 der RV zugrunde1.

1

Der Entw. basierte auf einer unerledigten Vorlage des PrIMin. (Handschriftlicher Vermerk Pünders vom 7.1.31 auf einer Durchschrift des Entw. in R 43 I /2701 , Bl. 284–288). StS Abegg vom PrIMin. hatte Pünder gebeten, die RReg. möge eine NotVO „gegen die überhandnehmende radikale Agitation von Links und Rechts“ erlassen (Vermerk Pünders vom 25.1.31, R 43 I /2701 , Bl. 289). Pünder hatte am 31. 1. den pr. Entw. an StS Zweigert übersandt (R 43 I /2701 , Bl. 291). Der Entw. bestimmte u. a., daß öffentliche politische Versammlungen und sämtliche Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel spätestens 24 Stunden vorher bei der Polizei angemeldet werden mußten. Die Versammlungen konnten wegen Gefahr der öffentlichen Ruhe und Ordnung verboten oder aufgelöst werden. Die Polizei sollte Beauftragte in die Versammlung entsenden dürfen, die das Auflösungsrecht hatten. Der Entw. drohte einem Versammlungsleiter, der eine Versammlung nicht anmeldete oder einem erlassenen Verbot zuwider eine Versammlung veranstaltete, sowie jedem, der öffentlich zur Gewalt gegen Personen oder Sachen aufforderte, Gefängnisstrafen nicht unter drei Monaten und Geldbußen bis zu 10 000 RM an. Vereinigungen, die wiederholt gegen Versammlungsverbote verstießen, sollten aufgelöst werden können. Das Tragen von Uniformen oder Abzeichen sollte politischen Vereinigungen untersagt werden können. Plakate und Flugblätter, deren Inhalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdeten, konnten polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden. Abgeordnete, die wegen ihrer Immunität nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten, durften nicht gleichzeitig verantwortliche Redakteure von periodisch erscheinenden Druckschriften sein. Druckschriften, die zum Ungehorsam gegen Gesetze aufforderten oder in denen Organe oder Einrichtungen des Staates oder Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts, ihre Glaubenssätze oder Einrichtungen beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht wurden, konnten polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden (R 43 I /2701 , Bl. 299–304).

[843] Der Preußische Minister des Innern führte aus, daß jetzt fast täglich in Deutschland Menschen im politischen Kampfe verwundet oder getötet würden. Dieser Zustand sei naturgemäß unerträglich. Nach seiner Ansicht könne eine gewisse Beruhigung in der Öffentlichkeit eintreten, wenn im stärkeren Umfange als bisher die rechtlichen Möglichkeiten eines Versammlungsverbots und eines Zeitungsverbots geschaffen würden. Zur Zeit liege kein besonderer akuter Anlaß vor, eine Notverordnung dieses Inhaltes zu erlassen. Nach seiner Ansicht solle man jedoch nicht auf einen besonderen akuten Anlaß warten. Die neue Verordnung müsse erweiterte Möglichkeiten für Verbote von Versammlungen, erweiterte Möglichkeiten für Zeitungsverbote und stärkeren Strafen für verbotenen Waffenbesitz enthalten.

Der Preußische Ministerpräsident betonte, es müßten zunächst die grundsätzlichen Fragen erörtert werden. Nach seiner Auffassung seien vor allem die Strafbestimmungen für unbefugtes Waffentragen nicht zureichend2. Auch die Möglichkeiten des Verbots von Zeitungen müßten noch erweitert werden.

2

Vgl. die NotVO gegen Waffenmißbrauch vom 25.7.30, RGBl. I, S. 352 .

Darüber hinaus müßten die Nationalsozialisten auch geistig bekämpft werden. In diesem Zusammenhang bedauere er sehr die Entscheidung der Film-Oberprüfstelle, die ein Verbot des Filmes „Das Dritte Reich“ ausspreche3. Auch der Rundfunk müsse stärker als bisher für die Aufklärung der Öffentlichkeit benutzt werden.

3

Die Filmoberprüfstelle hatte am 29.1.31 den sozialdemokratischen Trickfilm „Ins Dritte Reich“ verboten. In dem Film wurden die Nationalsozialisten als Handlanger der Unternehmer dargestellt, deren Ziel die Unterdrückung der Arbeiter nach dem Vorbild des faschistischen Italiens sei (DAZ Nr. 49–50 vom 31.1.31; Vorwärts Nr. 52 vom 31.1.31 in R 43 I /2500 , Bl. 173).

Der Reichsminister des Innern erklärte sich bereit, bezüglich stärkerer Ausnutzung des Rundfunks zur Abwehr von Entstellungen mit dem Preußischen Ministerpräsidenten und dem Preußischen Minister des Innern Fühlung zu nehmen.

Was die Rechtsprechung der Filmprüfstellen und der Oberprüfstelle anlange, so halte auch er die Rechtsprechung vielfach für verfehlt. Man müsse jedoch bedenken, daß, solange das Lichtspielgesetz4 gelte, der Reichsminister des Innern keine Möglichkeit habe, diese Entscheidungen zu beeinflussen. Der sozialdemokratische Trickfilm „Ins Dritte Reich“ hätte nach seiner Auffassung[844] nicht dauernd aufgeführt werden können, weil die staatliche Macht nicht ausgereicht hätte, Unruhen im Zusammenhang mit der Aufführung dieses Filmes zu beseitigen.

4

Lichtspielgesetz vom 12.5.20, RGBl., S. 953 .

Der Stellvertreter des Reichskanzlers und Reichsministers der Finanzen bat, in den Entwurf auch eine Bestimmung aufzunehmen, nach der die Druckmaschinen des Unternehmers, der bewußt verbotene Dinge druckt, verschrottet werden sollten.

Er regte ferner an, die Geldstrafen in der Verordnung ganz zu streichen, Bestimmungen zum Kampf gegen die Kreditschädigung des Reichs zu treffen und die Möglichkeit des Schadensersatzes in diesem Fall zu schaffen.

Der Preußische Ministerpräsident führte aus, daß die Möglichkeit, auf Geldstrafe zu erkennen, nach seinen eigenen Erfahrungen vielfach zu völlig unverständlichen Urteilen führe. Z. B. sei in Beleidigungsprozessen, die wegen Beleidigung seiner Person geführt worden seien, vielfach auf ganz geringe Geldstrafen erkannt worden. Da man in Weimar leider die Unabhängigkeit der Richter aufrechterhalten habe, sei es nicht möglich, gegen Richter vorzugehen, die derartige Urteile fällten.

Staatssekretär Dr. Joël betonte, daß der aufgestellte Entwurf einer Verordnung sich auf das Vereins-, das Versammlungs- und das Presserecht beziehe. Es sei nun auch an Beleidigungsprozessen Kritik geübt worden. Im allgemeinen sei die Rechtsprechung in Preußen nach seiner Überzeugung durchaus gut. Natürlich sei es unvermeidlich, daß bei den zahlreichen Urteilen auch Fehlurteile vorkämen. Vielleicht könne aus dem Entwurf des Strafgesetzbuches noch das sogenannte Indiskretionsdelikt (§ 317 letzter Absatz5) übernommen werden.

5

§ 317 (Üble Nachrede), StGB-Entw., letzter Absatz lautete: „Betrifft die Behauptung Angelegenheiten des Privat- oder Familienlebens, die das öffentliche Interesse nicht berühren, so ist es für die Strafbarkeit und die Strafbemessung unerheblich, ob ihr Inhalt erweisbar oder nicht erweisbar ist, wenn sie in der Absicht zu schmähen oder aus Gewinnsucht oder aus einem anderen niedrigen Beweggrund öffentlich aufgestellt oder verbreitet worden ist; eine Beweiserhebung über die Wahrheit des Inhalts einer solchen Behauptung ist unzulässig“ (Entw. eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches vom 14.5.27, RT-Bd. 415 , Drucks. Nr. 3390 , S. 33).

Der Preußische Justizminister betonte, daß er dem Grundgedanken des Entwurfs der Verordnung zustimme. Auch er bezeichnete die Rechtsprechung in Preußen im allgemeinen als gut. Im übrigen wies er auf das kürzlich von einem gewissen Gottfried Zarnow verfaßte Buch „Gefesselte Justiz“6 hin, das in unverantwortlicher Weise Verdächtigungen ausspreche. Der Verfasser sei Proviantamtsinspektor i. e. R. und unterstehe noch disziplinar dem Reichsminister des Innern, der nach seiner Ansicht gegen Zarnow vorgehen müsse.

6

Gottfried Zarnow, Gefesselte Justiz. Politische Bilder aus Deutscher Gegenwart Band 1, J. F. Lehmanns Verlag, München 1931. Das Buch beschrieb aus rechtsradikaler Sicht Prozesse mit politischem Hintergrund in der Weimarer Republik.

Der Reichsminister des Innern sagte eine Prüfung der Angelegenheit zu.

Der Reichsminister des Innern führte aus, daß die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen in den augenblicklichen unruhigen Zeiten jedenfalls nicht[845] ausreichten. Den § 127, der eine territoriale Begrenzung für die Anwendung der Verordnung vorsieht, halte er für unmöglich. Setze man jedoch die Verordnung für das ganze Reichsgebiet in Kraft, so müsse man natürlich stark mit der Möglichkeit rechnen, daß Länder wie Braunschweig und Thüringen den Sinn der Verordnung ins Gegenteil umkehrten.

7

§ 12 des Entw. lautete: „Diese Verordnung tritt mit ihrer Verkündung in Kraft. Die Vorschriften der § 1 [Versammlungsverbot], § 2 Abs. 2 [Versammlungsauflösung durch Polizeibeauftragte], § 3 Abs. 1 Nr. 1 [Gefängnis- und Geldstrafe für das Abhalten verbotener Versammlungen] und § 7 [Beschlagnahme von Flugblättern] dieser Verordnung gelten zunächst nur für die Länder Preußen, Sachsen, Baden, Hamburg und Hessen; eine Ausdehnung auf weitere Gebietsteile des Reichs bleibt vorbehalten. Die in Artikel 48 Absatz 2 der Reichsverfassung genannten Grundrechte werden für die Geltungsdauer dieser Verordnung in dem zu ihrer Durchführung erforderlichen Umfange außer Kraft gesetzt. […]“ (R 43 I /2701 , Bl. 304).

Staatssekretär Zweigert betonte, daß es in der heutigen Besprechung noch nicht zweckmäßig sein werde, über Einzelheiten des Entwurfs zu sprechen, da der Entwurf den meisten Herren erst heute zugegangen sei. Er dürfe jedoch vielleicht darauf hinweisen, daß der Entwurf vor allem prohibitive Maßnahmen für Versammlungen und erweiterte Möglichkeiten für ein Presseverbot enthalte.

Die im Zusammenhang mit § 12 des Entwurfs geäußerten Bedenken könne man vielleicht dadurch beseitigen, daß die Verordnung zunächst für das ganze Reich in Kraft gesetzt, jedoch ausdrücklich vorbehalten werde, die Verordnung in einzelnen Ländern wieder außer Kraft zu setzen.

Der Reichskanzler äußerte starke Bedenken gegen den § 12 des Entwurfs. Gegen die Überwachung von Versammlungen äußerte er außenpolitische Bedenken. Das Ausland werde aus derartigen Maßnahmen schließen, daß die Zustände in Deutschland außerordentlich unsicher seien. Für sehr zweckmäßig halte er die Vorschrift des § 7 des Entwurfs8.

8

§ 7 des Entw. lautete: „Plakate und Flugblätter, deren Inhalt geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden, können polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden. Plakate und Flugblätter politischen Inhalts sind mindestens 24 Stunden, ehe sie an und auf öffentlichen Wegen, Straßen und Plätzen angeschlagen, ausgestellt, verbreitet oder sonst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, der Ortspolizeibehörde zur Kenntnisnahme vorzulegen. Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft. Die Ankündigung erlaubter Versammlungen und die Einladung dazu darf nur die zur Bekanntgabe der Versammlung erforderlichen sachlichen Angaben über Ort und Zeit der Versammlung, Veranstalter, Redner, Vortragsgegenstand, Aussprache, Eintrittsgeld usw. enthalten. Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft. Plakate und Flugblätter, in denen dieser Vorschrift zuwidergehandelt wird, können polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden“ (R 43 I /2701 , Bl. 302).

In diesem Zusammenhang müsse er darauf hinweisen, daß das Verfahren in Beleidigungssachen nach seiner Ansicht falsch sei. Vielleicht könne die Gelegenheit benutzt werden, auch hierin einen Wandel eintreten zu lassen. Dem Preußischen Ministerpräsidenten stimme er darin zu, daß der Rundfunk weit mehr als bisher zur Abwehr von Entstellungen und zur Aufklärung der Öffentlichkeit benutzt werden müsse.

Der Preußische Minister des Innern wies darauf hin, daß zur Zeit bei den Nationalsozialisten, insbesondere bei ihren Sturmabteilungen, viele ehemalige Anhänger der Roten Front seien. Wenn jetzt eine Notverordnung erlassen[846] werde, so müsse sie vor allem Präventivmaßnahmen für Versammlungen enthalten.

Der Reichskanzler stellte fest, daß die zuständigen Ressorts des Reichs und Preußens unverzüglich erneut einen Entwurf aufstellen werden. In dem Entwurf soll insbesondere auch eine Verschärfung der Strafbestimmungen für unerlaubtes Waffentragen vorgesehen werden.

Eine erneute Chefbesprechung gemeinsam mit Preußen und eine abschließende Sitzung des Reichskabinetts bleibt vorbehalten9.

9

Zum Fortgang der Beratung über den NotVOEntw. s. Dok. Nr. 257. Vgl. auch das folgende Dok. Nr. 236.

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