2.39.5 (bru1p): 5. Stand der deutsch-russischen Beziehungen.

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5. Stand der deutsch-russischen Beziehungen.

Der Reichsminister des Auswärtigen schilderte, aus welchen Gründen sich das deutsche Verhältnis zu Rußland schwierig gestaltet habe10. Nach seiner Meinung sei es Aufgabe der deutschen Außenpolitik, auch weiterhin Beziehungen zu Rußland zu unterhalten, die es verhinderten, daß Rußland sich von der europäischen Gemeinschaft ganz abwende. Er habe diesen Gesichtspunkt auch mit dem französischen Außenminister Briand besprochen und bei ihm viel Verständnis gefunden. Herr Briand habe erzählt, daß auch er in Frankreich bestürmt worden sei, sich an die Spitze einer antirussischen Bewegung zu stellen. Er werde sich hierfür nie gewinnen lassen; inzwischen habe er festgestellt, daß sich seit einiger Zeit die antirussische Bewegung abgeschwächt habe11. Auch die kirchlichen Kreise in Frankreich seien ruhiger geworden. Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß er das gleiche für Deutschland feststellen könne12. Herr Briand habe bei der obenerwähnten Unterredung auch den Gedanken der deutsch-französischen Kooperation in Rußland[156] wieder vorgebracht, dem gegenüber er, der Reichsminister des Auswärtigen, sich für den gegenwärtigen Zeitpunkt in vorsichtiger Form ablehnend verhalten habe.

10

Vgl. Dok. Nr. 20, P. 1. In einer Aufzeichnung vom 16.5.30 über die dt.-russ. Beziehungen hatte StS Pünder bemerkt, daß der Augenblick der Höchstanspannung im dt.-russ. Verhältnis jetzt überwunden sei. Stalin sei hauptsächlich aus Gründen der inneren und Wirtschaftspolitik gezwungen worden, eine, wenn auch vielleicht nur vorübergehende, so doch sehr fühlbare Milderung seiner radikalen Maßnahmen zu dekretieren. Die Vorstellungen des Botschafters v. Dirksen und des RAM in Moskau und Berlin hätten auf den Gebieten, die Dtld interessierten, fühlbare Erleichterungen gebracht: das russ. Osterfest habe von den Gläubigen ohne kirchenfeindliche Behinderungen gefeiert werden können, und der 1. Mai sei ohneg gegen die dt. Reg. grichtete Parolen verlaufen. Dirksen habe auf Grund eines ihm aus Berlin mitgegebenen Programms über drei Themen mit dem stellvertretenden Volkskommissar Litwinow Besprechungen aufgenommen:

1. politische Fragen;

2. Niederlassungsrecht (Meistbegünstigung); und

3. Wirtschaftsfragen.

Hinsichtlich der politischen Beschwerden (Feiern von Rotfrontleuten, Verherrlichung von Max Hölz, Rundfunkpropaganda u. a.) seien klare und bindende Zusicherungen notwendig. Dt. Staatsangehörige müßten in der UdSSR dieselben Vergünstigungen wie die Mitglieder der KPdSU erhalten, und den in Rußland tätigen Firmen müßten dieselben Rechte eingeräumt werden, die sie in einem kapitalistischen Staat genießen würden. Für die Wirtschaftsfragen werde Mitte Juni ein Schiedsgericht zusammentreten, an dem von dt. Seite Hans v. Raumer teilnehmen werde. Zum Abschluß der Verhandlungen wünschten die Russen ein gemeinsames Kommuniqué (Abschrift der Aufzeichnung in R 43 I /138 , Bl. 276–278; zur dt.-russ. Schlichtungskommission s. Schultheß 1930, S. 350/351).

11

Die frz.-russ. Beziehungen waren Anfang 1930 durch das plötzliche Verschwinden des russ. Generals Kutepow aus Paris belastet worden. Die frz. Presse hatte die sowjetische Botschaft der Entführung Kutepows beschuldigt (Telegramme Hoeschs: Nr. 140 vom 10.2.30 in R 43 I /138 , Bl. 164–165 und Nr. 174 vom 17. 2., Bl. 170–171).

12

Proteste aller Konfessionen gegen die sowjetische Kirchenpolitik in R 43 I /138 . Vgl. auch Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok.-Nr. 546. Eine Denkschrift des AA vom 4.4.30 über die Religoinsverfolgungen in Rußland befindet sich in R 43 I /138 , Bl. 221–257.

Bei den Verhandlungen mit Rußland müsse man in Rechnung stellen, daß das Verhältnis zwischen Regierung und Komintern tatsächlich recht gespannt zu sein scheine und daß die Regierung ihrerseits zur Abstellung mancher Schäden bereit sei. So sei z. B. der zweite Sekretär der hiesigen russischen Botschaft sogleich abgelöst worden, als ihm von deutscher Seite innenpolitische Propaganda nachgewiesen worden sei. Ebenso habe die russische Regierung die Erklärung abgegeben, daß politisch aktive Parteimitglieder nicht mehr in den Handelsvertretungen angestellt werden sollten. Von einem Rundschreiben an Rotfront-Mitglieder, in dem Einladungen zu den russischen Manövern verheißen worden seien, sei die russische Regierung abgerückt und habe zugesagt, daß derartiges nicht mehr vorkommen werde.

Bei den deutsch-russischen Verhandlungen sei Rußland zunächst auf ein neues Bekenntnis zum Rapallo-Vertrage ausgegangen, Deutschland seinerseits auf eine Klausel, die das Abstoppen jeglicher innerpolitischer Propaganda festlege. Bei den Verhandlungen habe sich herausgestellt, daß diese beiden Wünsche besser nicht erfüllt würden und durch eine gemeinsame öffentliche Erklärung ersetzt werden könnten. Diese Erklärung müsse zweckmäßigerweise vor dem 15. Juni, dem Termin des nächsten kommunistischen Parteitages in Rußland erfolgen13.

13

Der 16. Parteitag der KPdSU fand vom 26. 6.–13.7.30 in Moskau statt: Schultheß 1930, S. 351–354.

Der Reichsminister des Auswärtigen las darauf den beiliegenden deutschen Entwurf eines Kommuniqués vor, wobei er bemerkte, daß die Russen ihm noch nicht zugestimmt hätten14. Die russische Regierung wende sich bisher gegen die Berufung der Schlichtungskommission und gegen die Erwähnung von „Versuchen einer aktiven Beeinflussung“ (Seite 2 Zeile 12)15, wobei sie auf die katholische Aktion in Deutschland und anderen Ländern gegen die Kirchenverfolgungen hinwiese. Demgegenüber habe das Auswärtige Amt ausgeführt, daß nach offiziellen Mitteilungen des Vatikans nach Berlin und Moskau die Stellungnahme der Kirchen rein religiös und nicht politisch sei16.

14

Der Entw. des dt.-russ. Kommuniqués stellte fest, daß ein Teil der Einzelbeschwerden in den diplomatischen Besprechungen in Berlin und Moskau bereits befriedigend geklärt sei; die übrigen sollten einer Schlichtungskommission unterbreitet werden (R 43 I /138 , Bl. 287–288).

15

Die betreffende Passage des KommuniquéEntw. hatte folgenden Wortlaut: „In offener Aussprache sind sie [die beiden Regierungen] sich von neuem darüber klar geworden, daß die Gegensätzlichkeit (grundsätzliche Verschiedenheit) der beiden Staatssysteme kein Hindernis für die gedeihliche Weiterentwicklung ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu sein braucht, wenn in jedem der beiden Länder alle Versuche einer aktiven Beeinflussung der inneren Angelegenheiten des anderen Landes unterbleiben“ (R 43 I /138 , Bl. 288).

16

Nach einem Bericht des dt. Botschafters v. Bergen hatte der Vatikan betont, daß die Proteste gegen die sowjetischen Kirchenverfolgungen einen rein religiösen Charakter hätten (Telegramm Nr. 79 vom 21.3.30 in R 43 I /138 , Bl. 270–271).

Der Reichskanzler stellte zur Erwägung, auf Seite 2, Zeile 10 des Entwurfs statt „freundschaftliche Beziehungen“ zu setzen „vertragliche Beziehungen“17.[157] Demgegenüber bemerkte der Reichsminister des Auswärtigen, daß es schwer sein werde, den Russen eine Abänderung vorzuschlagen, nachdem sie den Wortlaut des Entwurfs schon zur Kenntnis genommen hätten. Er werde aber in Erwägung ziehen, ob ein Versuch in dieser Richtung gemacht werden könne.

17

Vgl. Anm. 15.

Der Reichsminister des Innern gab dem Wunsch Ausdruck, daß die Fassung des zweiten Satzes auf Seite 2 des Kommuniqués nicht die freie Stellungnahme der christlichen Kreise in Deutschland ausschließen dürfe18.

18

Vgl. Anm. 15.

Im übrigen stellte der Reichskanzler Einvernehmen des Reichskabinetts mit den Vorschlägen des Reichsministers des Auswärtigen fest19.

19

Das gemeinsame dt.-russ. Kommuniqué wurde vom WTB Nr. 1174 am 13.6.30 veröffentlicht (R 43 I /138 , Bl. 309; Berichte Dirksens über die Verhandlungen vom 3. 5.–11.6.30: a.a.O., Bl. 289–308).

Der Reichsminister des Innern teilte im Anschluß hieran mit, daß ihm Nachrichten über eine sehr ausgedehnte Handelsspionage des bolschewistischen Rußland in Deutschland zugegangen seien, er habe daher die Überwachung der russischen Umtriebe durch eine besondere Stelle im Reichsministerium des Innern in Erwägung gezogen.

Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte, daß er die Einrichtung einer solchen Stelle sehr begrüßen würde.

Staatssekretär Dr. Weismann führte aus, daß die Preußische Staatsregierung die Abteilung Ia des Polizeipräsidiums angewiesen habe, politischen Umtrieben von russischer Seite verschärft nachzugehen. Staatssekretär Weismann warnte davor, das Reichskommissariat für öffentliche Ordnung wieder aufleben zu lassen, das sehr unzuverlässige Nachrichten geliefert habe20.

20

Das Reichskommissariat für Überwachung der öffentlichen Ordnung war mit Wirkung vom 1.4.29 in ein Referat im RIMin. umgewandelt worden: RT-Bd. 424, S. 1515 .

Der Reichspostminister berichtete, daß eine vierwöchentliche Überwachung des Moskausenders erhebliches Material über die russische Propaganda geliefert habe, das er dem Reichsminister des Auswärtigen zustellen werde21. Bedenklich sei ferner, daß neuerdings ein Netz kommunistischer Kurzwellensender entstanden sei, gegen das man durch Einführung des Konzessionszwanges vorgehen müsse22. Auch sei die Flugschriftenagitation und Zellenbildung beim technischen Personal der Reichspost sehr lebhaft23.

21

Vgl. RPM vom 30.5.30: Mitschnitte von Sendungen des Moskauer Gewerkschaftsrundfunks in R 43 I /139 , Bl. 29–81.

22

Vgl. hierzu das auf der dt. Nachrichtenkonferenz vom 28./29.4.30 in Berlin gehaltene Referat von Polizeihauptmann v. Asmuth: „Über die Möglichkeiten der Kurzwellenverwendung bei Unruhen durch staatsfeindliche Elemente, Kontrollmöglichkeit und vorbereitende Maßnahmen der Behörden“ (R 134 /58 , Bl. 127–140).

23

Unter Bezug auf die Kabinettsberatung sandte der RPM dem RK ein Exemplar der kommunistischen Betriebszeitung „Das Mikrophon“ zu (Schreiben vom 7.7.30 in R 43 I /139 , Bl. 21–23).

Der Reichsminister des Innern erklärte, daß er über die Gesamtfrage der innerpolitischen Agitation des russischen Bolschewismus in Deutschland demnächst dem Reichskabinett referieren werde, denn die russische Propaganda auf kulturellem wie auf wirtschaftlichem Gebiet sei zu einer beachtlichen Gefahr geworden.

[158] Der Herr Reichskanzler stellte fest, daß zu geeigneter Zeit in einer Ministerbesprechung ein Vortrag des Reichsministers des Innern über diese Fragen entgegengenommen werden soll.

Die Ministerbesprechung wurde hierauf geschlossen.

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