2.68.1 (bru1p): 1. Beantwortung des Briand’schen Memorandums, betreffend den europäischen Staatenbund.

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1. Beantwortung des Briand’schen Memorandums, betreffend den europäischen Staatenbund.

Der Reichskanzler erbat einleitend Stellungnahme der Mitglieder des Reichskabinetts zu dem inzwischen vom Auswärtigen Amt den Reichsministern zugeleiteten Antwortentwurf1.

1

P. 1 des Dok. ist bereits veröffentlicht von Ruge und Schumann in ZfG 20 (1972), S. 66–68. Der Entw. der dt. Antwortnote war in sieben Punkte gegliedert. In Punkt 1 wurde begrüßt, daß die frz. Reg. in ihrem Memorandum das Problem einer europäischen Bundesordnung in seinen Einzelheiten zur Diskussion gestellt hatte. Bereits in der Einleitung rückte der Entw. die wirtschaftliche Zusammenarbeit als wichtigste Frage in den Vordergrund. Punkt 2 unterschied zwischen Inhalt und Form, Aufgaben und Organisation. Inhalt und Aufgaben seien wichtiger als Form und Organisation. Es müsse mit größter Sorgfalt geprüft werden, bis zu welchem Grade es wirklich rein europäische Interessen gebe, damit jeder Gegensatz gegen andere Länder oder Kontinente vermieden werde. Die technische Entwicklung und die Überwindung von Zeit und Raum schritten in einem solchen Maße voran, daß Europa sich mehr als je vor einer materiellen und geistigen Abschnürung hüten müsse. In Punkt 3 betonte der Entw., daß alle Versuche einer Besserung der politischen Lage in Europa davon abhängen würden, daß von vornherein die Grundsätze der vollen Gleichberechtigung, der gleichen Sicherheit für alle, des friedlichen Ausgleichs der natürlichen Lebensgewohnheiten der Völker und der Toleranz gegenüber anderem Volkstum in den Vordergrund gestellt würden. Punkt 4 widersprach dem in dem Briandplan vorgeschlagenen Vorrang der politischen vor der wirtschaftlichen Einigung. Deshalb befürwortete der Entw. in Punkt 5 ein gemeinsames Vorgehen in der Zollpolitik, wobei ganz besonderer Wert auf eine Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf dem Gebiet der Landwirtschaft zu legen sei. Vor allem dürften drei Gesichtspunkte nicht außer acht gelassen werden: a) die unmittelbare Verständigung bestimmter Wirtschaftszweige müsse in der Neuorganisation des wirtschaftlichen Europas einen wichtigen Platz einnehmen; es werde Sache der Regierungen bleiben, das freie Spiel der Kräfte mit ihrer gemeinsamen Wirtschaftspolitik in Einklang zu bringen. b) Rein wirtschaftliche Fragen dürften nicht unter militärischen Gesichtspunkten betrachtet werden, sondern müßten rein wirtschaftlich gelöst werden. c) Es müßten alle Folgen in Betracht gezogen werden, die sich aus der besonderen Lage einzelner Länder, namentlich aus ihrer Belastung mit auswärtigen Kriegsschulden und Reparationen ergebe. Punkt 6 warnte vor einer europäischen Absonderung innerhalb des VB, die andere Gruppenbildungen nach sich ziehen könnten, und wies darauf hin, daß die meisten im Memorandum aufgeführten Fragen bereits vom VB behandelt worden seien und würden. In Punkt 7 schlug die dt. Reg. als nächste Aufgabe vor, einen Überblick über die Materien zu gewinnen, die in europäischer Gemeinschaftsarbeit behandelt werden könnten (R 43 I /616 , Bl. 265–273).

Der Reichsminister des Innern erklärte sich mit den Grundgedanken des Entwurfs einverstanden, vorbehaltlich folgender Abänderungswünsche:

In der Einleitung sei im Anschluß an die politischen Forderungen auf die Vordringlichkeit der wirtschaftlichen Fragen hingewiesen. Es sei zu befürchten, daß durch diesen Zusatz das Gewicht der deutschen politischen Thesen vermindert werde. Ferner sei am Ende des 3. Teils auf die Notwendigkeit[281] eines „Verfahrens“ zur Lösung der europäischen Schwierigkeiten hingewiesen. Es sei bedenklich, deutscherseits auf ein Verfahren abzuzielen, das unter Umständen gegen Deutschland schlagen könnte.

Der Reichsminister des Auswärtigen zerstreute diese letzteren Bedenken durch den Hinweis darauf, daß hier lediglich auf den Artikel 19 der Völkerbundssatzungen2, also das Revisionsverfahren, abgezielt sei. Das Auswärtige Amt werde diesen Passus der Antwort umarbeiten, nachdem sich herausgestellt habe, daß er mißverständlich sei.

2

S. Dok. Nr. 40, Anm. 13.

Ministerialdirektor Gaus wies anschließend nach, daß gerade dieser Passus der deutschen Antwort den schärfsten Hinweis auf die Notwendigkeit einer Revision der Verträge enthalte.

Der Reichskanzler bemerkte, daß die Antwort bisher vielleicht etwas zu vorsichtig gehalten sei. Den Absichten Briands, die jetzigen europäischen Zustände zu stabilisieren, müsse Deutschland eine Antwort geben, die als grundsätzliche Festlegung seiner Politik von geschichtlichem Wert sein könne. In deutlichen, wenn auch vorsichtig abgewogenen Worten müsse Deutschland gegenüber den französischen Aspirationen klare Grenzen aufzeichnen. Seine Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte Ordnung Europas, in dem Deutschland seinen ausreichenden natürlichen Lebensraum haben müsse, seien klarzulegen. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfe man sich auch nicht zu optimistisch äußern und dürfe man nicht unterlassen, die bevorstehenden Schwierigkeiten nachzuweisen. Man müsse bedenken, daß Deutschland weder landwirtschaftlich noch industriell konkurrenzfähig sein würde, sobald die europäischen Zollschranken fallen würden. Im ganzen werde es sich empfehlen, die deutsche Antwort kürzer zu halten.

Der Reichsminister des Auswärtigen bemerkte demgegenüber, daß nach seiner Meinung die Note, wenn auch in vorsichtigen Worten, sehr scharfe Formulierungen enthalte, die besonders im Teil 3 an die Grenze dessen gingen, was überhaupt gesagt werden könne. Unsere Erwiderung werde für Frankreich eine tiefe Enttäuschung bedeuten, und man dürfe dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß Deutschland es vermeiden müsse, durch seine Stellungnahme der Staat zu werden, der die Diskussion von vornherein abschneide.

Auf eine weitere Frage des Reichskanzlers ob nicht die Gefahr einer Verknüpfung der Saarverhandlungen3 mit der Pan-Europafrage im Herbst während der Genfer Verhandlungen bestehe, erwiderte der Reichsminister des Auswärtigen daß er dies nicht befürchte. Frankreich habe uns zur Zeit auf dem Gebiete der Saarverhandlungen zu wenig zu bieten, als daß es mit ihnen einen Handel machen könne.

3

Vgl. Dok. Nr. 10 und Dok. Nr. 61, P. 2.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete bat, der deutschen Note, deren Grundgedanken er billige, eine positivere Fassung zu geben, um ihren propagandistischen Wert zu erhöhen. Die politischen Fragen, also die deutschen Voraussetzungen, wie sie in der Note bereits zutreffend aufgezählt seien, müßten den Vorrang vor den wirtschaftlichen Fragen erhalten, die[282] deutscherseits kürzer und vorsichtiger zu behandeln seien. Auf Organisationsfragen dürfe sich Deutschland überhaupt noch nicht einlassen. Die deutsche Außenpolitik dürfe sich diesmal nicht in die Verteidigung drängen lassen, sondern müsse der Vorkämpfer einer aktiveren Völkerbundspolitik werden.

Der Reichsminister des Innern sprach sich ebenfalls gegen eineAushöhlung des Völkerbundsverfahrens durch ein neues europäisches Verfahren aus. Die Korridorfrage, die oberschlesische Frage und ähnliches könnten nicht in einem europäischen Gremium, sondern nur im Gesamtvölkerbund gefördert werden.

Der Reichsverkehrsminister bat, die Note erheblich zu kürzen. Um eine glückliche innerpolitische Wirkung zu haben, müsse sie klarer in der Diktion werden. Auch Briand habe sich klar ausgedrückt, wenn er von „den neuen Grenzen“ spreche, „die durch die Friedensverträge geschaffen werden müßten“4. Die politischen Forderungen des 3. Teils müßten zusammengefaßt und an die Spitze gestellt werden.

4

Der RVM bezog sich auf folgende Formulierung des Memorandums: „Die Gefahr einer solchen Zerstückelung [der Kräfte in Europa] wird noch vermehrt durch die große Ausdehnung der neuen Grenzen (mehr als 20 000 km Zollschranken), die durch die Friedensverträge geschaffen werden mußten, damit den nationalen Bestrebungen in Europa Genüge getan wurde“ (Schultheß 1930, S. 460 f.).

Staatssekretär Dr. Trendelenburg wies darauf hin, daß Deutschland allen Grund habe, die wirtschaftlichen Fragen als wichtig zu behandeln. Frankreich benutze die paneuropäische Idee 1. als Trumpf gegen die amerikanische Konkurrenz, 2. zur Abwehr einer unmittelbaren kapitalistischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Amerika, die es besonders fürchte. Nicht eine freie wirtschaftliche Vereinigung Europas wünsche Frankreich, sondern nur eine von Frankreich kontrollierte europäische Wirtschaft. Wir würden daher Frankreichs Spiel durchkreuzen, wenn wir in unserer Außenpolitik, etwa im Sinne des englischen Zollfriedengedankens, auf eine freie europäische Organisation des Marktes hinwiesen.

Der Reichsminister der Finanzen schloß sich dieser Stellungnahme an. Eine agrarische Kooperation mit den Franzosen sei abzulehnen. Deutschland sollte durch sie zum Abnehmer des europäischen Ostens durch Vermittlung Frankreichs werden und würde damit einen Trumpf aus der Hand geben, durch den wir bei selbständiger Politik wertvolle Gegenleistungen erzielen könnten. Viele der durch den Friedensvertrag geschaffenen Staaten seien wirtschaftlich nicht lebensfähig. Sie seien z. B. teilweise zu klein, um eine Basis für große Industrien, wie die Autoindustrie und die chemische Industrie, abzugeben. Dem wolle Frankreich durch eine ihm genehme europäische Konstruktion abhelfen.

Der Reichsarbeitsminister bat um Kürzung der Note. Sachlich sei er im wesentlichen einverstanden.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erklärte sich mit den wirtschaftspolitischen Ausführungen des Reichsministers der Finanzen und des Staatssekretärs Dr. Trendelenburg einverstanden. Er bat, den landwirtschaftlichen Teil der Note ganz wegzulassen.

[283] Es folgte eine Diskussion über einzelne Formulierungen des 5. Teils, wobei der Reichsminister des Auswärtigen die Wünsche der verschiedenen Ressorts zur Kenntnis nahm.

Abschließend erklärte der Reichsminister des Auswärtigen:

Nachdem er festgestellt habe, daß die Grundgedanken der Note vom Reichskabinett gebilligt würden, sei er bereit, eine Neubearbeitung der Note nach den im Kabinett geäußerten Wünschen vornehmen zu lassen. Die politischen Grundgedanken würden im ersten Teil in möglichst volkstümlicher Fassung Erwähnung finden. Der Versuch einer wesentlichen Kürzung solle gemacht werden. Die Erwähnung der Agrarfragen könne ganz wegfallen. In den deutschen Ausführungen werde zum Ausdruck gebracht werden, daß Deutschland von der Notwendigkeit einer überkontinentalen Behandlung vieler politischer und wirtschaftlicher Fragen überzeugt sei und daß es keine gegen Amerika gerichteten Tendenzen dulden werde. Deutschland werde für die kommende politische Diskussion seine Forderungen anmelden. Es werde in den wirtschaftlichen Fragen große Skepsis äußern, entgegen der französischen Absicht aber für eine freie europäische Lösung der Wirtschaftsfragen eintreten. Die deutsche Note müsse ein warmes Eintreten für den Völkerbundsgedanken enthalten. Sie werde für die Aktion Briands ein Begräbnis erster Klasse werden, müsse andererseits der deutschen Außenpolitik als Plattform für die weitere Verfolgung ihrer politischen und wirtschaftlichen Ziele dienen. Deutschland habe daher ein Interesse daran, daß in Genf über diese Fragen verhandelt werde. Auf organisatorischem Gebiet könne Deutschland keine Vorschläge machen, insbesondere nicht etwa die Bildung eines Studienkomitees anregen.

Es wurde vereinbart, am Mittwoch abend in einer neuen Ministerbesprechung die Beratung des neuen Entwurfs vorzunehmen5.

5

Die endgültige Fassung der dt. Antwortnote wurde in der Chefbesprechung vom 10.7.30, 16.30 Uhr, verabschiedet (R 43 I /616 , Bl. 286). Der abgeänderte Entw. des AA mit Unterstreichungen und Änderungen von der Hand Plancks befindet sich in R 43 I /616 , Bl. 304 bis 310. Der Text der dt. Note ist abgedruckt in: Schultheß 1930, S. 469–472.

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