2.86.1 (bru1p): Notverordnungen.

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Notverordnungen.

Der Reichskanzler führte aus, daß das Reichskabinett sich über den materiellen Inhalt der dem Herrn Reichspräsidenten vorzuschlagenden Notverordnung schlüssig werden müsse. Nach seiner Meinung könne das Kabinett zwischen zwei Möglichkeiten wählen. Entweder wähle man einen sehr engen Rahmen, dann komme nur die Einbeziehung rein finanzieller Maßnahmen in Frage, oder man wähle einen weiteren Rahmen, in diesem Falle könne man im Verordnungswege sehr viel weitergehen. Er habe bereits eine Reihe von Einzelbesprechungen zur Sache geführt. Hierbei seien die Meinungen geteilt gewesen. In den Vorbesprechungen seien als Gegenstände, die zur Aufnahme in die Notverordnung geeignet seien, folgende genannt worden:

1.

Die ursprüngliche Deckungsvorlage der Reichsregierung, d. h. Reichshilfe der Personen im öffentlichen Dienst, Zuschlag zur Einkommensteuer für die Einkommen von mehr als 8000 RM, Zuschlag zur Einkommensteuer der Ledigen und Tabaksteuer.

2.

Bürgerabgabe und Schankverzehrsteuer als Einnahmequelle für die Gemeinden.

3.

Reform der Arbeitslosenversicherung.

4.

Reform der Krankenversicherung.

5.

Reform der Reichsversorgung.

6.

Maßnahme gegen die Preisbindung der Kartelle.

7.

Osthilfe.

Der Reichskanzler forderte zu einer allgemeinen Aussprache über die Frage der Verengung oder Erweiterung des Rahmens für die vorzuschlagende Notverordnung auf und bemerkte, daß er persönlich gegen eine allzu starke[334] Ausweitung des Rahmens Bedenken habe. Er befürchte nämlich, daß die Reichsregierung im Herbst nochmals in die Lage kommen werde, vom Art. 48 der Reichsverfassung Gebrauch zu machen, und daß sie daher im gegenwärtigen Augenblick diesen Artikel nicht zu stark abnutzen dürfe. Die Reichsregierung müsse bei der jetzt zu treffenden Entscheidung an die zukünftige Zusammensetzung des Reichstags denken und überlegen, ob es zweckmäßiger sei, die notwendigen Maßnahmen in eine Verordnung zusammenzufassen oder sie auf mehrere Einzelverordnungen zu verteilen. Wenn der Reichstag demnächst alle Notverordnungen ablehne, werde die Reichsregierung nur dann durchkommen können, wenn sie auf ein umfassendes Ermächtigungsgesetz ausgehe, das vom nächsten Reichstag mit 2/3 Mehrheit beschlossen werden müsse. Er denke daran, dieses Ermächtigungsgesetz sofort zu fordern, wenn sich aus der Haltung der Parteien demnächst ergeben sollte, daß die jetzt zu erlassenden Notverordnungen aufgehoben werden würden. Wenn auch das Ermächtigungsgesetz abgelehnt werden sollte, dann sei für ihn eine Regierungsmöglichkeit nicht mehr abzusehen.

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß die Reichsregierung nach seiner Meinung in die jetzt zu erlassende Notverordnung nur solche Dinge hereinnehmen dürfe, die nach außen hin beruhigend wirken. Zu diesem Zwecke dürfe die Reichsregierung sich nicht auf die behelfsmäßige Regelung der rein finanziellen Notwendigkeiten beschränken. Vielmehr müsse die Reichsregierung mit ihrer Notverordnung die Wahlen machen. Daher müsse sie nicht nur die Deckungsmaßnahmen in die Verordnung aufnehmen, sondern darüber hinaus auch weitere Angelegenheiten in der Verordnung regeln, und schließlich müsse sie über die Verordnung hinaus im Hinblick auf die Wahlen einige Materien in Form von Gesetzesvorschlägen an den Reichsrat bringen.

In die Verordnung herein gehöre:

1.

das Deckungsprogramm.

2.

Die Reform der Sozialversicherung.

3.

Die Erschließung von Einnahmequellen für die Gemeinden.

4.

Über das bisherige Programm hinaus Vorschriften zur Bekämpfung der ungesunden Kartellpolitik.

5.

Die Durchführung der Osthilfe, soweit hierfür Mittel im Etat vorgesehen seien.

Dieser ganze Verordnungsinhalt müsse gerechtfertigt werden mit der Devise: Aufrechterhaltung der Arbeitslosenversicherung und Maßnahmen zur Ermöglichung der Beschäftigung der Arbeitslosen.

Zu den Maßnahmen, die er zur Wahlbeeinflussung im Sinne einer starken Regierungspolitik für notwendig halte, rechne er die Einbringung des Gesetzentwurfs zur Wahlreform1, ferner die Einbringung eines Gesetzentwurfs zur Kürzung der Pensionsbezüge2 und schließlich Maßnahmen zur Vorbereitung einer Änderung des Finanzausgleichs3.

1

S. Dok. Nr. 102.

2

Vgl. Dok. Nr. 108, P. 1.

3

S. Dok. Nr. 103, P. 3.

[335] Wenn das Reichskabinett diesen Vorschlägen zustimme, sei er überzeugt, daß sie den Wahlkampf wirksam und mit Aussicht auf Erfolg führen könne.

Der Reichsverkehrsminister stimmte den Ausführungen des Reichsministers der Finanzen weitgehend zu. Auch er forderte, daß das Reichskabinett den Wahlkampf auf staatspolitischer Basis führen und daß die Notverordnung die Grundlage des Wahlkampfes bilden müsse. Er meinte, daß die zukünftigen Ansichten der Reichsregierung programmatisch in der zu erlassenden Verordnung erkennbar sein müßten. An den Vorschlägen des Reichsministers der Finanzen habe er nur die Einbeziehung der Bürgersteuer zu bemängeln, weil er befürchte, daß die Sozialdemokraten darauf ausgingen, im Wahlkampf mit der Bekämpfung gerade dieser Steuer besondere Geschäfte zu machen. Ferner äußerte er Bedenken gegen die vorgeschlagene Pensionskürzungsbestimmung.

Der Reichsminister des Innern stimmte dem grundsätzlich zu und machte nähere Ausführungen über die angeregte Wahlreform. Er sagte zu, daß er einen Gesetzentwurf vorbereiten wolle, der dem Reichsrat demnächst zugeleitet werden könne.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft billigte die Gedankengänge des Reichsministers der Finanzen und setzte sich insbesondere für die Aufnahme der Osthilfe in die Notverordnung ein.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete schloß sich den Ausführungen des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft an und betonte auch seinerseits die Notwendigkeit der Einbeziehung der Osthilfe in die Notverordnung.

Der Reichsarbeitsminister erklärte sich bereit, den vorgeschlagenen Weg der Einbeziehung der sozialpolitischen Maßnahmen mitzumachen und billigte ferner, daß alle die Maßnahmen, die der Reichstag nicht endgültig beschlossen habe, nunmehr auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung in die Tat umzusetzen seien.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg erklärte sich bereit, Bestimmungen ausarbeiten zu lassen, die als Druckmittel gegen die unwirtschaftlichen Preisbindungen der Kartelle in die Notverordnung mit aufgenommen werden könnten4. Im übrigen setzte er sich für eine Ausweitung der Exportkreditversicherung im Etat ein.

4

S. Dok. Nr. 87.

Staatssekretär Dr. Meissner brachte zum Ausdruck, daß der Herr Reichspräsident auf die Einbeziehung der Osthilfe besonderen Wert lege. Er glaube, daß der Herr Reichspräsident mit den zur Sprache gebrachten Maßnahmen einverstanden sein werde.

Der Reichsminister des Auswärtigen billigte die Gedankengänge des Reichsministers der Finanzen. Zur Frage des Vorgehens gegen die Kartelle führte er aus, daß er sich durchaus damit abfinden wolle, daß man mit drastischen Mitteln gegen die Kartelle vorgehe, sofern man eine richtige Formulierung finde.

[336] Zur Frage der Pensionskürzungen meinte er, daß man sich darauf beschränken müsse, das Doppelverdienertum zu beschneiden.

Der Reichspostminister vertrat die Auffassung, daß die Reichsregierung in der Notverordnung nur ein möglichst eng begrenztes Programm bringen dürfe, damit die Verordnung nicht zum Gegenstand der Wahlpropaganda gemacht werde. Er empfahl auch, nicht alles auf eine Karte zu setzen und möglichst viele Einzelverordnungen zu erlassen. Nach seiner Meinung liege kein Anlaß vor, mehr zu bringen, wie die ursprüngliche Deckungsvorlage. Ferner unterstütze er die Durchführung der Osthilfe. Er begrüße die Wahlreform und werde auch mit Maßnahmen gegen die Kartelle einverstanden sein.

Der Reichswehrminister widersprach nachdrücklichst den Auffassungen des Reichspostministers und stimmte seinerseits der programmatischen Erklärung des Reichsministers der Finanzen zu. Von der zu erlassenden Notverordnung sagte er, daß sie einen Operationsplan mit weitem Ziele zur politischen und wirtschaftlichen Sanierung der Verhältnisse in Deutschland bringen müsse. Eine Wirkung im Volk werde mit der Verordnung nur dann erzielt werden, wenn sie das ganze vom Reichsminister der Finanzen umschriebene Gebiet umfasse. Er sei bereit, alles mitzumachen, was das Reichskabinett auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung erlasse. Die Hauptaufgabe der Reichsregierung bestehe darin, die Wahlen zu führen. Hierbei komme es auf die Mitwirkung jedes einzelnen Kabinettsmitgliedes an. Kein Kabinettsmitglied dürfe irgendwie zu erkennen geben, daß es sich unter Umständen mit dem Gedanken trage, zu kapitulieren. Von dem Herrn Reichspräsidenten wisse er, daß dieser in erster Linie auf die Osthilfe Wert lege. Ohne die Osthilfe sei dessen Neigung für eine Notverordnung nicht allzu groß.

Der Reichsminister der Justiz sah von grundsätzlichen Ausführungen ab.

Nach dieser allgemeinen Aussprache stellte der Reichskanzler die einzelnen Materien zur Beratung. Auf Grund der Aussprache billigte das Kabinett den Abschnitt Deckungsmaßnahmen für den Reichshaushalt 1930 und den Abschnitt Erschließung von Einnahmen für die Gemeinden. Der Abschnitt Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung und Reichsversorgung wurde nicht zu Ende beraten. Ebenso führte die Aussprache über den Abschnitt Osthilfe nicht zu abschließenden Ergebnissen.

Der Reichssparkommissar brachte zur Sprache, daß einzelne leitende Beamte des Rechnungshofs Bedenken dagegen geäußert hätten, einen auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung zustande gekommenen Haushaltsplan als verbindliche Grundlage für die Prüfung des Rechnungshofs anzuerkennen. Jedenfalls glaube ein Teil der Beamten des Rechnungshofs für sich das Recht in Anspruch nehmen zu können, demnächst zu prüfen, ob die Verabschiedung des Etats auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung verfassungsrechtlich zulässig gewesen sei. Die Frage sei für ihn persönlich unbedingt zu bejahen. Er glaube aber auch die ihm bekannt gewordenen Bedenken einzelner seiner Herren jetzt nicht verschweigen zu dürfen.

Das Kabinett übte an der vom Reichssparkommissar vorgetragenen Auffassung eines Teils der Beamten des Rechnungshofs scharfe Kritik. Es wurde[337] in Aussicht genommen, mit den Beamten des Rechnungshofs vor Erlaß der Notverordnung unter Zuziehung der Staatssekretäre Dr. Joël und Zweigert im Reichsfinanzministerium eine Vorbesprechung stattfinden zu lassen, um eine Einigung über die aufgeworfenen staatsrechtlichen Fragen zu versuchen.

Die Weiterberatung wurde daraufhin auf den kommenden Tag vertagt5.

5

S. Dok. Nr. 87.

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