1.101.1 (bru2p): Angelegenheit „Nordwolle“

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Angelegenheit „Nordwolle“

Nach Eröffnung der Sitzung legte Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther die Lage des Unternehmens „Nordwolle“, das seinen Sitz in Bremen hat, dar1. Er schilderte, daß bei der „Nordwolle“ erhebliche finanzielle Schwierigkeiten entstanden seien. Das Stammkapital beliefe sich auf 75 Millionen. Die Reserve betrage 25 Millionen. Demgegenüber ständen an Schulden 40 Millionen an Ausländer und 110 Millionen deutsche Bankkredite. Dazu käme noch ein Betrag von 15 Millionen für Warengläubiger. Man habe bis vor kurzem die Hoffnung gehabt, die Situation mit einer Aufbringung von 30 Millionen meistern zu können. Es habe sich aber nun gezeigt, daß das Problem mit diesem Betrage nicht bewältigt werden könne, da die Verluste sich zur Zeit auf 180–200 Millionen beliefen2. Diesem Betrage habe bisher auf der Aktivseite ein Betrag von 130 Millionen gegenübergestanden. Die „Nordwolle“ habe umfangreiche Bürgschaften für Tochtergesellschaften übernommen. Die aufgestellte Bilanz sei eine rein künstliche. Das Unglück sei bei der „Nordwolle“ hervorgerufen durch starke Unregelmäßigkeiten bei den leitenden Persönlichkeiten. Wenn man helfen wolle, so müsse man nach dem gegenwärtigen Status der „Nordwolle“ einen neuen Kredit von 50 Millionen zur Verfügung stellen. Die Möglichkeit, durch Eröffnung des Konkursverfahrens zu helfen, sei nicht gegeben. Ein solcher Weg werde aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern. Unter allen Umständen müsse man, um die Kredit- und Devisenlage nicht erneut wieder zu gefährden, darauf drängen, daß die Dinge von der Reichsbank bzw. von der Reichsregierung organisatorisch in die Hand genommen werden. Kreditmäßig würde es am besten sein, den Zusammenbruch der „Nordwolle“ auf[1265] irgendeine Weise aus der Welt zu schaffen. Er glaube, daß hierzu eine organisatorische Behandlung der Sache genügen werde.

1

Am 17.6.31 hatte die „Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei AG“ in Bremen einen Jahresabschluß vorgelegt, der einen Verlust von 24 053 034 RM (im Vorjahr 643 393 RM Verlust) auswies. Der Verlust sollte bis zu 22 500 000 RM aus dem Reservefonds abgedeckt, die Restsumme von 1 553 034 RM sollte auf das nächste Geschäftsjahr übertragen werden. Der Vorstandsvorsitzende Carl LahusenLahusen und seine Brüder, die Vorstandsmitglieder Heinz und Friedrich LahusenLahusen, hatten ihre Ämter dem Aufsichtsrat zur Verfügung gestellt. Die Beschäftigung der Arbeiter war nach Auskunft des Konzerns bis zum Herbst 1931 gesichert (DAZ Nr. 271–272 vom 19.6.31 und DAZ Nr. 277–278 vom 23.6.31). Laut Tagebucheintragung Luthers vom 13.6.31 hatte der RbkPräs. den RK an diesem Tage über die Situation der „Nordwolle“, allerdings „ohne Nennung von Namen“ informiert (Nachl. Luther, Nr. 365, Bl. 33; Luther, Vor dem Abgrund, S. 168). Vgl. dagegen die Darstellung Brünings, GehR Bücher (AEG) habe ihn am Morgen des 22. 6. auf die schwierige Lage der Nordwolle aufmerksam gemacht (Memoiren, S. 294; der Besuch Büchers ist vermerkt im Nachl. Pünder, Nr. 43, Bl. 148).

2

Die Verluste waren in Wirklichkeit höher als hier angegeben: s. Dok. Nr. 357.

Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg führte aus, daß er große Bedenken habe, von Reichs wegen einzugreifen, da der Fall „Nordwolle“ nicht vereinzelt dastehe. Es würden mit Bestimmtheit Berufungen zu erwarten sein. Er gebe zu, daß die Kreditlage und Kreditfähigkeit Deutschlands durch einen Zusammenbruch von „Nordwolle“ erheblich gefährdet werde, aber es handele sich hierbei um privatwirtschaftliche Erscheinungen. Derartige Zusammenbrüche würden jetzt vielfach in Erscheinung treten. Er bedauere, daß die von ihm angeregte Aktienreform im Rahmen der Notverordnung nicht Verwirklichung gefunden habe3.

3

Vgl. Dok. Nr. 319.

 

Der Reichskanzler bemerkte, daß er noch nicht klar sehe, in welcher Weise hier geholfen werden könne, da der erforderliche Betrag nicht ganz klein sei.

Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther ergänzte seine Ausführungen noch dahin, daß er ebenfalls große Schwierigkeiten sehe, weil andere Unternehmungen kommen werden, aber die „Nordwolle“ sei, außenpolitisch betrachtet, ein repräsentatives Unternehmen, das besondere Behandlung verdiene. Er habe folgenden Plan: Die beteiligten deutschen Banken müßten sich bereit erklären, auf die Hälfte ihrer Forderungen zu verzichten. Die andere Hälfte ihrer Forderungen müßten sie als Stammaktien übernehmen. Das gleiche werde auch für die ausländischen Gläubiger zu gelten haben, für die allerdings ein Abkauf der Aktien durch eine besondere Stelle zu schaffen sein werde. Man könne auch weiter daran denken, daß statt des Verzichts auf die Hälfte Genußscheine ausgegeben werden und hinsichtlich der ausländischen Gläubiger bevorzugte Aktien ausgestellt werden. Im übrigen müsse man einen Druck auf die beteiligten Banken, vor allem auf die Darmstädter und Dresdner ausüben, um ihre Hilfsbereitschaft sicherzustellen. Die Verhältnisse bei der „Nordwolle“ werden vielfach darauf zurückgeführt, daß das Unternehmen zu hohe Steuer zu Unrecht entrichtet habe. Vor allem komme es darauf an, dem Ausland gegenüber zu zeigen, daß man sich in die Dinge einschalte und versuche, einen Weg zu finden, der zur Sanierung des Unternehmens führe.

Der Reichskanzler bezeichnete es auch als bedauerlich, daß man die Aktienreform nicht im Wege der Notverordnung zur Durchführung gebracht habe.

Ministerialdirektor ZardenZarden legte an der Hand von Tabellen dar, daß die Steuererklärungen der „Nordwelle“ nicht im Einklang mit dem wirklichen Sachstand aufgestellt worden seien, Buchprüfer hätten festgestellt, daß im Jahre 1927 7¼ Millionen zur Steuer deklariert worden seien, obwohl Verluste in Höhe von 5,3 Millionen vorhanden gewesen seien. 1927 habe man 1,4 Millionen Steuern erhoben. 1928 seien 10 Millionen deklariert worden, während die Prüfer nur 6 Millionen festgestellt haben. Im ganzen seien also für 1927 und 1928 3,4 Millionen Steuern gezahlt worden. In den späteren Jahren seien Deklarationen nicht mehr erfolgt. Die Behauptungen, daß die Verhältnisse bei der „Nordwolle“ durch zu hohe Steuern hervorgerufen worden seien, könne er an[1266] der Hand der Unterlagen nicht teilen. In diesem Zusammenhang verwies Herr Ministerialdirektor Zarden auf die Verhältnisse bei der Favag4, die ähnlich gelagert gewesen seien.

4

S. Dok. Nr. 319, Anm. 8.

Herr Staatssekretär SchäfferSchäffer vertrat den Standpunkt, daß mit gewissen Gefahren vom Kreditstandpunkt aus zu rechnen sei. Er müsse aber der Meinung zuneigen, daß die Privatgläubiger grade zu stehen hätten. Allerdings werde man einen Modus finden müssen, um die Abwicklung zu erleichtern. Es gehe kaum an, den deutschen Banken den Verlust, den sie erleiden würden, zu ersetzen. In diesem Zusammenhang kam Herr Staatssekretär Schäffer auf die Verhältnisse und die Regelung des Falles Pleß5 zu sprechen.

5

Vgl. Dok. Nr. 25, P. 1.

Ministerialdirektor ZardenZarden setzte noch auseinander, daß die ausländischen Beziehungen des Unternehmens „Nordwolle“ sehr dunkel seien. Über die Verhältnisse zu „Ultra Mare“6 sowie über die Geschäftsbeziehungen nach Buenos Aires sei keine Klarheit zu bekommen7. Die Hauptaktionäre Lahusen hätten in dieser Beziehung wohl kein reines Gewissen.

6

Die N. V. Handel Mij. Ultra Mare war von G. LahusenLahusen aus steuertechnischen Gründen in den Niederlanden gegründet worden; vgl. die Darstellung bei Bonn, Die dt. Bankenkrise 1931, S. 75 f.

7

In Argentinien lebten Mitglieder der Familie Lahusen (DAZ Nr. 323–324 vom 19.7.31).

Herr Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther wies noch einmal darauf hin, daß der Fall „Nordwolle“ gegenüber dem Ausland stark repräsentativ wirke. „Nordwolle“ stelle einen Gefahrenpunkt für die Wirtschaft dar. Die Dinge müßten durch Hilfestellung des Reichs oder der öffentlichen Verbände organisatorisch in die Hand genommen werden. Um Berufungen zu vermeiden, wäre es vielleicht möglich, mit einem versteckten Vorschuß zu arbeiten.

Staatssekretär Dr. SchäfferSchäffer legte dar, daß man vor dem Kriege nie mit solchen Dingen an den Staat herangetreten sein würde. Es würde sich ein Konsortium gebildet haben, das von sich aus die Angelegenheit geregelt haben würde. Namhafte Beträge könnten bei der heutigen Finanzlage des Reichs nicht ohne weiteres à fonds perdu gegeben werden.

Der Reichskanzler warf die Frage auf, woher das Geld zur Sanierung des Unternehmens genommen werden solle.

Der Reichsminister der Finanzen legte dar, daß, wenn der Staat dauernd einspringe, dies zu einer Verstaatlichung des Bankwesens bei den gegenwärtigen Zuständen führen müsse.

Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther bemerkte, daß wir Verhandlungen aufnehmen müßten. Es sei erforderlich, den Banken konkrete und positive Vorschläge zu machen. Die Deutsche Bank hat schon seit längerer Zeit für größere Zusammenbrüche eine Reservestellung eingenommen, um einzuspringen. Sie habe vielleicht auch mit dem Fall „Nordwolle“ (Danatbank)8 gerechnet. Er hielte es jedenfalls für eine falsche Politik, wenn man von Reichs wegen einfach[1267] zusieht. Die ausländischen Gläubiger würden morgen in London zusammentreten, um sich mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Um von dieser Seite her keine Unruhe in die Devisenseite des Reichs zu bringen, müsse nach außen hin gezeigt werden, daß man gewillt sei, das Problem energisch anzupacken.

8

Die Darmstädter und Nationalbank, seit 1927 Hausbank der „Nordwolle“, war Hauptgläubigerin des Konzerns und besaß überdies ein großes Paket „Nordwolle“-Aktien: Born, Die deutsche Bankenkrise 1931, S. 74 und 76.

Der Reichsbankvizepräsident legte die Leistungsfähigkeit der deutschen Banken dar und betonte, daß die Leistungsfähigkeit dieser Banken wieder abhänge von der Leistungsfähigkeit der Reichsbank. Wenn weiterhin starke Devisenbestände abflössen, könne leicht ein besorgniserregender Zustand eintreten. Ob die Reichsbank dann gradestehen kann, müsse bei der Knappheit der Devisenbestände zweifelhaft erscheinen.

Auf die Frage, welche Summe zur Sanierung der „Nordwolle“ erforderlich sei, bemerkte Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther, daß nach seinen Schätzungen ein Betrag von 24 Millionen ausreichen werde. Dieser Betrag müsse allerdings als Barsumme hingegeben werden.

Der Reichskanzler warf die Frage auf, ob die „Nordwolle“ heute noch rentabel arbeiten könne.

Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther meinte dazu, daß man das nicht genau sagen könne. Wenn natürlich die Rohstoffe ausgehen, werde der Betrieb nicht weiterzuführen sein. Im Laufe der weiteren Aussprache wurde festgestellt, daß die „Nordwolle“ sich beinahe auf sämtliche deutschen Länder mit ihren Unternehmungen, Betriebsstellen und Fabrikanlagen erstrecke.

Reichsbankpräsident Dr. Luther stellte am Schluß der Besprechung fest, daß nach seiner Meinung die Hauptsache sei, daß man einmal mit den Bankiers über die Hilfestellung, die gewährt werden könne, spreche. Es sei erforderlich, daß von irgendeiner Stelle die Angelegenheit in die Hand genommen werde. Ihm sei es gleich, ob die Reichsbank oder das Reichswirtschaftsministerium dies mache.

Der Reichsminister der Finanzen stellte sich auf den Standpunkt, daß der Weiterbetrieb des Unternehmens nötig sei. Es sei aber, bevor man eine endgültige Entscheidung treffe, erforderlich, daß man einen klaren Einblick in das Geschäftsgebaren gewinne. Bisher könne er nur feststellen, daß die Verpflichtungen etwa 165 Millionen seien.

Reichsbankpräsident Dr. LutherLuther glaubte als Endergebnis der Aussprache feststellen zu können, daß es notwendig sei, zu verhindern, daß bei der Versammlung in London irgend welche unangenehmen Dinge entstehen könnten. Es sei vielleicht zweckmäßig, nach England eine Nachricht herauszugeben, daß ein Plan für die Sanierung des Unternehmens in Angriff genommen sei. Vielleicht sei es zweckmäßig, wenn Herr Staatssekretär Dr. Schäffer mit Herrn Otto Wolff die Fühlung aufnehme, um ihm eine solche Erklärung zu übermitteln9.

9

Otto Wolff hatte StS Schäffer am 1. 7. aufgesucht und ihm die Lage der „Nordwolle“ dargelegt. „Es seien große ausländische, insbesondere englische Forderungen dabei beteiligt. […] Er sei […] davon benachrichtigt worden, daß sich noch heute nachmittag ein Gläubigerausschuß in London bilden wolle. Er habe veranlaßt, daß dies bis heute abend unterbleibe. Er bitte aber dringend, daß etwas geschehe, weil das den ganzen Kredit gefährden könnte. Auf meinen Einwurf, das Reich könne doch nicht die verfehlten Spekulationen der Privaten mit Steuergeldern, die anderen weggenommen werden, ausgleichen, das sei doch Sache der Banken, gibt er an sich die Richtigkeit zu, sagt aber, daß keine Zeit sei, um jetzt große Konsortien zusammen zu stellen“ (IfZ, ED 93, Tagebuch Schäffer, Eintragung vom 1.7.31, Bd. 11, Bl. 288 f.).

[1268] Staatssekretär Dr. SchäfferSchäffer erklärte sich bereit, Herrn Otto Wolff von der Reichskanzlei aus sofort anzuläuten und ihm mitzuteilen, daß in der Angelegenheit hier ernsthaft und schnell gearbeitet werde. Er müsse zusehen, die Leute in London zu beruhigen.

Staatssekretär Dr. Schäffer begab sich sodann an den Telephonapparat, um mit Herrn Otto Wolff zu sprechen. Auf Grund dieser Besprechung teilte Staatssekretär Dr. Schäffer sodann mit, daß Otto Wolff von der Erklärung Kenntnis genommen und erwidert habe, daß die Parole sein müsse, diskret und schnell zu arbeiten10.

10

Vgl. IfZ, ED 93, Tagebuch Schäffer, Eintragung vom 1.7.31, Bd. 11, Bl. 290.

Der Reichskanzler warf noch die Frage auf, ob es möglich sein werde, über die Angelegenheit ohne Ministerbesprechung eine Entscheidung zu fällen. Er behielt sich hierzu seine endgültige Stellungnahme vor11.

11

Zur weiteren Behandlung dieser Angelegenheit s. Dok. Nr. 359 und Dok. Nr. 360.

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