1.203.1 (bru2p): 1. Genfer Tagung.

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1. Genfer Tagung.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete zunächst über die Beratungen in den verschiedenen Komitees, deren Tagung in Genf bevorstehe1.

1

Es handelt sich um die 64. und die 65. VB-Ratstagung vom 1.–14. 9. bzw. vom 19.– 30.9.31 sowie um die 12. VB-Versammlung vom 7.–29.9.31 in Genf (Schultheß 1931, S. 546–563).

[1613] Im Koordinationskomitee werde vor allem zu verhindern sein, daß die internationalen Anleiheverhandlungen grundsätzlich über Genf geleitet würden, weil sonst leicht eine Genfer Finanzkontrolle für Deutschland entstehen könne.

Im Europakomitee werde es sich hauptsächlich um die Abfassung des Berichts über die Verhandlungen des abgelaufenen Jahres handeln. Berichterstatter werde Briand sein. Die deutsche Vertretung werde es sich angelegen sein lassen, dem Prinzip der Präferenzverträge2 zur Anerkennung zu verhelfen. Auch die österreichische Zollunionsfrage3 werde zur Sprache kommen. Entscheidende Wichtigkeit hierfür werde dem Urteil des Haager Schiedshofs zukommen, dessen Zeitpunkt noch ungewiß sei4.

2

Vgl. dazu Dok. Nr. 293, P. 3, Dok. Nr. 294, P. 1, Dok. Nr. 296 und Dok. Nr. 306.

3

Vgl. Dok. Nr. 306.

4

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte vom 20. 7.–3.8.31 über das dt.- österreichische Projekt einer Zollunion verhandelt (WTB-Berichte in R 43 I /115 , Bl. 47–63). Am 5.9.31 erklärte der Haager Gerichtshof mit acht gegen sieben Stimmen die Zollunion für unvereinbar mit Art. 88 des Vertrages von St. Germain vom 10.9.19 und dem Genfer Protokoll Nr. 1 vom 4.10.22 (WTB, Nr. 1859 vom 5.9.31, R 43 I /115 , Bl. 65–67; Text des Gutachtens in englischer und frz. Sprache in R 43 I /115 , Bl. 85–150, dt. Übersetzung des Hauptteils, a.a.O., Bl. 151–188). S. auch Dok. Nr. 503.

Der Reichsminister des Auswärtigen erbat Ermächtigung vom Reichsminister der Finanzen, an Holland in der Kriegsschädenfrage die Auszahlung der vereinbarten 6½ Millionen RM in 4 Jahresraten ab 1932 zuzugestehen.

Der Reichsminister der Finanzen bat den Zahlungsbeginn nach Möglichkeit in das Jahr 1933 zu legen und erklärte sich mit der Maßgabe, daß nur äußerstenfalls auf 1932 als Termin für die erste Zahlungsrate zurückgegangen werden solle, mit dem Vorschlage des Reichsministers des Auswärtigen einverstanden.

Letzterer berichtete des weiteren über den voraussichtlichen Inhalt der Ratstagung. In den Streitfragen zwischen Danzig und Polen liege der Bericht Gravinas dem Rat zur Kenntnis vor, der weitgehend gegen Polen Stellung nehme5. Die Rechtsfrage hinsichtlich des Hafens Gdingen sei ebenfalls zugunsten Danzigs entschieden worden6. Falls der Reichskanzler mit Hugenberg verhandele7, werde sich eine Anregung empfehlen, daß bei dem bevorstehenden deutschnationalen Parteitag in Danzig die gegenwärtige, von einem[1614] deutschnationalen Senatspräsidenten8 geführte Danziger Regierung nicht durch heftige Angriffe dieses Parteitags gegen Polen gefährdet werde.

5

Der VB-Rat hatte am 22.5.31 den Völkerbundskommissar Graf Gravina aufgefordert, im September einen Bericht über das polnisch-danziger Verhältnis vorzulegen (Schultheß 1931, S. 544). Der Bericht, der am 6.9.31 veröffentlicht wurde, stellte fest, daß sich zwar die innenpolitische Lage Danzigs beruhigt hätte, dennoch aber recht scharfe Gegensätze zwischen den Parteien bestünden. Im einzelnen ging der Völkerbundskommissar sodann auf die Spannungen zwischen Danzig und Polen ein (WTB Nr. 1869 vom 7.9.31, R 43 I /377 , Bl. 60–61).

6

Am 26.10.31 entschied der VB-Kommissar endgültig, daß Polen unbeschadet des Rechts, andere Häfen zu eröffnen, verpflichtet sei, den Danziger Hafen voll auszunutzen (Schultheß 1931, S. 276).

7

Der RPräs. hatte nach einer Unterredung mit Hugenberg am 1.8.31 (s. Matthias-Morsey, Das Ende der Parteien, S. 623–625), den Wunsch geäußert, der RK möge Hugenberg „baldmöglichst“ empfangen (Schreiben des StS Meissner an StS Pünder vom 1.8.31, R 43 I /2655 , S. 43). Die Unterredung fand am 27.8.31 von 16.00 Uhr–19.30 Uhr unter Beteiligung der MdR Quaatz und Kaas statt (Nachl. Pünder Nr. 43, Bl. 72; Pressebericht in R 43 I /2655 , S. 67–73. Vgl. auch Brüning, Memoiren, S. 375–379).

8

Ernst Ziehm (DNVP).

Der Reichskanzler sagte zu, nach Möglichkeit Herrn Hugenberg hierauf aufmerksam zu machen.

Für Danzig sei es von besonderer Wichtigkeit, daß auch in diesem Jahre der Danziger Landwirtschaft durch Gewährung von Einfuhrkontingenten nach Deutschland geholfen werde. Gleichzeitig werde auch die Landwirtschaft des Korridors wie im vorigen Jahr durch ein Kontingent zu unterstützen sein9. Zum Schutze der deutschen Landwirtschaft werde dabei allerdings berücksichtigt werden müssen, daß von der Danziger Zentralstelle der Zeitpunkt für die Einfuhr dieser Kontingente nach Deutschland nur im Einvernehmen mit dem Reichsfinanz- und dem Reichsernährungsministerium bestimmt werde.

9

Vgl. Dok. Nr. 252, P. 5. Am 9.7.31 hatte der Danziger SenatsPräs. Ziehm den RK um die Gewährung weitgehender Kontingente für die zollermäßigte oder zollfreie Einfuhr von Danziger Agrarprodukten nach Dtld gebeten. Zur Begründung hatte Ziehm in seinem Schreiben u. a. ausgeführt: „Die Landwirtschaft der Freien Stadt ist hineingezwungen in das polnische Wirtschaftsgebiet und in die Zolleinheit mit Polen. Sie erhält daher hier im Gebiet für alle ihre Produkte im wesentlichen nur die polnischen Marktpreise, während die Gestehungskosten, insbesondere die Löhne, wegen der völlig anderen sozialen und kulturellen Verhältnisse im Gebiet der Freien Stadt in ganz erheblichem Umfange höher liegen als in den benachbarten polnischen Gebieten. Der schwere Druck, der in dieser Hinsicht auf der Landwirtschaft der Freien Stadt Danzig ruht und ihre Rentabilität erschüttert, ist auch in wissenschaftlichen Erörterungen stets in vollem Umfang anerkannt worden. Die Lebensfähigkeit der hiesigen Landwirtschaft hängt daher tatsächlich von der Gewährung von weitgehenden Kontingenten für die zollermäßigte Einfuhr von Agrarprodukten nach Deutschland ab, weil es keine andere Möglichkeit gibt, sie wenigstens in gewissem Umfang von der Konkurrenz der polnischen Landwirtschaft zu entlasten. Bei der Bedeutung, welche die Landwirtschaft aber für die Freie Stadt besonders auch in politischer Hinsicht hat, ist es deshalb von unbedingt entscheidender Wichtigkeit für den Freistaat als Ganzes, daß die erbetenen Agrarkontingente in ausreichender Höhe und rechtzeitig bewilligt werden“ (R 43 I /550 , Bl. 388–389, Zitat Bl. 388). In seiner Antwort vom 6.8.31 hatte StS Pünder dem SenatsPräs. versichert, „daß auch von seiten der Reichskanzlei die Hilfsaktion für die Freie Stadt Danzig und die bedrohten Deutschtumsgebiete im Osten nach Kräften gefördert wird“ (Entw. in R 43 I /550 , Bl. 390).

Unter Zustimmung des Reichsministers der Finanzen und des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft erklärte sich das Reichskabinett grundsätzlich mit der Gewährung landwirtschaftlicher Einfuhr-Kontingente nach Deutschland an Danzig und Pommerellen einverstanden unter dem Vorbehalt, daß durch rechtzeitige Einflußnahme Deutschlands10 der Zeitpunkt der Einfuhr so gewählt werden müsse, daß nicht Marktstörungen in Deutschland durch sie hervorgerufen würden.

10

Laut Vermerk des ORegR Pukaß vom 7.9.31 wurden auf Wunsch des REM die Werte „durch rechtzeitige Einflußnahme Deutschlands“ nachträglich in das Protokoll eingefügt (R 43 I /550 , Bl. 400).

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete weiter über die Behandlung der oberschlesischen Minderheitsfrage im Völkerbundsrat11. Zwar sei das Verhalten des Woiwoden12 gebessert, von einem grundlegenden Wandel könne man aber noch nicht sprechen. Der japanische Botschafter in Paris13 sei[1615] daher davon unterrichtet, daß sein Bericht an den Völkerbundsrat, in dem von einem solchen Wandel gesprochen wurde, die Zustimmung Deutschlands nicht finden würde. Infolgedessen habe der japanische Botschafter in Paris zugesagt, den Bericht neu abzufassen. Dieser neue Bericht werde von Deutschland zunächst dem Deutschen Volksbunde14 zur Stellungnahme zugehen.

11

Vgl. Dok. Nr. 306.

12

Michael Grazynski.

13

Kenkichi Yoshisawa.

14

Volksbund für das Deutschtum im Ausland.

Ein Antrag Österreichs auf Finanzhilfe werde dem Finanz-Komitee überwiesen werden, das dann Bericht erstatten würde. Vorläufig habe die Nachprüfung durch Beauftragte des Völkerbunds noch nicht die sofortige Notwendigkeit einer Anleihe ergeben. Die Beratung dieser Angelegenheit berge für Deutschland und Österreich gewisse Gefahren15.

15

Vgl. Dok. Nr. 503.

Zur Tagung der Bundesversammlung in Genf berichtete der Reichsminister des Auswärtigen zunächst über die Zusammensetzung der deutschen Delegation, die diesmal, entsprechend der französischen Delegation, ganz ohne Parlamentarier, nur aus Beamten und Sachverständigen bestehen werde16.

16

S. auch Dok. Nr. 451.

Zur allgemeinen politischen Lage äußerte der Reichsminister des Auswärtigen die Ansicht, daß die Versammlung wohl stark unter dem Eindruck stehen werde, wie sehr das Schwergewicht der internationalen Politik sich in letzter Zeit außerhalb des Völkerbunds befunden habe. Amerika und Rußland seien beide stärker auch in die europäische Politik hineingezogen. Beides seien außerhalb des Völkerbunds stehende Mächte.

Für das Zustandekommen des russisch-französischen Nichtangriffspakts sah der Reichsminister des Auswärtigen noch erhebliche Schwierigkeiten voraus, wenngleich der Pakt schon paraphiert sei17. Einen russisch-polnischen Nichtangriffspakt18 brauche man wegen der Verbindung dieser Frage mit dem polnisch-rumänischen Bündnis19 und der Randstaatenfrage sowie wegen seiner Verknüpfung mit dem Völkerbunde vorläufig wohl nicht zu befürchten20.

17

Der frz.-russ. Nichtangriffs- und Neutralitätsvertrag war am 24.8.31 paraphiert worden (Schultheß 1931, S. 377).

18

Polen hatte der Sowjetunion am 23.8.31 einen Nichtangriffspakt angeboten (Schultheß 1931, S. 420).

19

Das polnisch-rumänische Defensivabkommen vom 3.3.21 (Schultheß 1921 II, S. 183) war im Januar 1931 verlängert worden (Schultheß 1931, S. 436).

20

Über die frz.-russ. Verhandlungen und das poln. Vertragsangebot vgl. die Materialien, die MinDir. Meyer ORegR Planck am 27.8.31 übersandte, in R 43 I /140 , Bl. 107–120).

Des weiteren werde wohl in Genf viel von der Reparations- und Kriegsschuldenfrage sowie von der Abrüstung gesprochen werden, welche letztere eine besonders entscheidende Probe für die Leistungsfähigkeit des Völkerbunds sein werde und daher schon jetzt die Gemüter stark beschäftige.

Bei Behandlung des Minderheitenproblems werde sorgfältig zu vermeiden sein, daß die Vollversammlung sich nicht für unzuständig erkläre und die Sache an den Rat zurückverweise.

In den Verhandlungen über die Angleichung des Kelloggpakts an die Völkerbundssatzung21 werde sich Deutschland zurückhalten und in erster[1616] Linie darauf achten, daß hierbei nicht den Sanktionen erhöhte Bedeutung zugewiesen werde.

21

S. Dok. Nr. 111, Anm. 7.

Zur Frage der Verstärkung der Kriegsverhütungsmittel liege ein deutscher Paktentwurf vor22, über den Einvernehmen zwischen Auswärtigem Amt und Reichswehrministerium erzielt sei und der dem Herrn Reichspräsidenten zur Genehmigung vorgelegt werden soll.

22

In den Akten der Rkei nicht ermittelt.

Bei den Budgetberatungen werde die deutsche Delegation starke Kritiken an den zu hohen Ausgaben des Völkerbunds üben, wobei insbesondere auf die Überschreitung der Baukosten für den Völkerbundspalast hingewiesen werden soll23.

23

Der PrMinPräs. Braun hatte unter Berufung auf den Artikel „Die teuerste Behörde der Welt“ in der Kölnischen Volkszeitung Nr. 349 vom 27.7.31 in einem Schreiben an den RK vom 29.7.31 angeregt, den dt. finanziellen Jahresbeitrag von 1 806 700 RM an den VB zu kürzen (R 43 I /496 , Bl. 2–3). Am 28.8.31 antwortete Brüning, das AA habe dem VB-Sekretariat bereits Ende Juni 1931 mitgeteilt, daß die dt. Beiträge nicht fristgemäß gezahlt werden könnten. Außerdem sollte der dt. Vertreter im VB-Haushaltsausschuß instruiert werden, für Sparmaßnahmen und Abbau des VB-Haushalts einzutreten (Entw. in R 43 I /496 , Bl. 6). S. auch Dok. Nr. 503.

Der Reichskanzler stellte abschließend fest, daß weitere Anregungen für die Genfer Tagung vom Reichskabinett nicht gemacht würden.

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