1.57.1 (bru2p): Agrar- und Konsumentenpolitik.

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Agrar- und Konsumentenpolitik.

Der Reichskanzler stellte die Fragen des Einsatzes der agrarischen Konsumkraft im handelspolitischen Verkehr, des Brotpreises, der außen- und innerpolitischen Lage, des Generalplanes der Landwirtschaft und der Zinsfrage der Genossenschaften in ihren großen Zusammenhängen zur Erörterung. Die genossenschaftlichen Verhältnisse würden in der bisherigen Weise nicht mehr lange zu halten sein. Es müsse durchgegriffen werden. Auch die Öffentlichkeit sei zur Kritik zu erziehen.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft gab eine eingehende Übersicht über den Stand der Brotpreisfrage. Am 15. April seien 1,3 Millionen Tonnen Roggen in den Händen der Landwirte gewesen. 140 000 Tonnen bei der Getreidehandelsgesellschaft und 150 000 Tonnen bei den Mühlen und Händlern. 31 000 Tonnen seien in Holland gekauft und verschiffsbereit. Mit weiteren etwa gleich hohen Käufen zu guten Bedingungen könne gerechnet werden.

[1123] Die Vorräte der Getreidehandelsgesellschaft würden dort eingesetzt, wo der Brotpreis gestiegen sei. Großberlin sei in Ordnung gebracht1. Das Mehl werde zu 27 RM für den dz geliefert, da der Roggen zu 200 RM je Tonne kahnfrei Mühle zur Verfügung gestellt werde. Der Reichsdurchschnitt des Brotpreises betrage 38½ Pfennig. Die Vorräte der Getreidehandelsgesellschaft würden weiter eingesetzt in Leipzig, in Mitteldeutschland, in Oberschlesien und im Rheinland und Westfalen.

1

Vgl. Dok. Nr. 302.

Am Weltmarkt werde mit einem Vorrat von 100 000 t Russenroggen gerechnet. Kanadischer Western-Roggen sei in 4–5 Wochen erhältlich; er sei geringwertiger als der russische. Immerhin sei vorsichtig Fühlung genommen. Beunruhigung des Weltmarktes müsse vermieden werden.

Die Versorgungslage sei demnach ohne Gefahr. Die Brotpreise würden gesenkt, wo sie gestiegen seien. Notwendig sei nun noch die Aufhebung des Nachtbackverbots und des Brotgesetzes bis auf die Zulassung der Verwendung von Kartoffelmehl.

Mit einer Verzögerung der Ernte werde nicht gerechnet. Die Dispositionen gingen bis 1. August, voraussichtlich werde dann noch ein Vorrat von 450 000 t vorhanden sein.

Der Reichsminister der Finanzen bezweifelte die Richtigkeit dieser Schätzungen.

Nach längeren Auseinandersetzungen hierüber machte der Reichsminister der Finanzen den Vorschlag, vorsorglich an die Krisenpunkte Berlin, Sachsen, Ruhr, Breslau, Waldenburg, Frankfurt Vorräte in Reserve zu legen, die auf alle Fälle ein weiteres Steigen der Preise in diesen Gegenden verhindern müßten.

Damit erklärte sich der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft einverstanden. Alles, was bisher geschehen sei, liege im Zuge dieses Planes. Wegen weiterer Einkäufe werde die Verbindung mit dem Reichsfinanzministerium aufrechterhalten werden. Die Entwicklung der Preise in den letzten Tagen zeige, daß zur Beunruhigung kein Grund vorliege. Die Landwirte würden durch die warme Witterung und durch den Einsatz der staatlichen Vorräte zum Verkauf gezwungen. In Berlin betrage die Roggenreserve 28 000 t, die Mühlen würden zur Hälfte aus der Provinz versorgt. Insgesamt sei über 90 000 t der Vorräte der Getreidehandelsgesellschaft disponiert.

Außer der Getreidehandelsgesellschaft sei kein Roggenkäufer am Markte. Der Kampffmeyer-Konzern habe 20% Nutzen bei seinen Manipulationen für die Getreidehandelsgesellschaft.

Der Reichskanzler sprach sich gegen die Aufhebung der Bestimmung im Brotgesetz aus, die den Verkauf nach Gewicht vorschreibt2. Der Unredlichkeit würde bei Aufhebung dieser Bestimmung wieder Tür und Tor geöffnet.

2

S. Dok. Nr. 284, Anm. 10 und Dok. Nr. 302, Anm. 9.

Bedenklich sei es, wenn Berliner Bäcker die verbilligten Mehlmengen nicht abnehmen würden. Dann würde zweierlei Brot zum Verkauf kommen. Anscheinend hätten jetzt bereits die Bäcker eine Verminderung des Teiggewichtes vorgenommen. Das bedeute eine Steigerung des Wassergehalts.

[1124] Die Frage müßte im Gesamtrahmen der Agrarpolitik gesehen werden. Es bestehe die Gefahr, daß die Landwirte den Roggen verfüttern, wenn die Gerstenpreise auf der bisherigen Höhe bleiben.

Durch Senkung der Gestehungskosten müßte auch die landwirtschaftliche Produktion verbilligt werden; dies sei wichtiger als die Zölle. Eine bestimmte Höhe des Roggenpreises könne also noch nicht festgelegt werden. Mit einer Rückkehr des Weizenpreises auf den Friedensstand sei nicht zu rechnen.

Um die Kosten der landwirtschaftlichen Betriebe herabzudrücken, sei die Einkommensteuer um 40 Millionen ermäßigt3. Für die kleinen Landwirte sei die Umsatzsteuer tatsächlich beseitigt. Wenn die kleinen Unfallrenten wegfielen, würde sich diese Belastung besonders im Osten weiter verringern. Die Lasten der Landwirtschaft müßten weiter gesenkt, die Preise für beide Teile auf einer erträglichen Höhe gehalten werden. In der Futtermittelfrage sei eine mindestens psychologische Entlastung nötig. Der Einfuhrbedarf müsse nach Möglichkeit handelspolitisch ausgewertet werden. Es sei notwendig, in diesen Richtungen einen klaren Plan für ein ganzes Jahr aufzustellen.

3

Vgl. die NotVO vom 1.12.30, 3. Teil, Kap. IV, Art. 4 (RGBl. I, S. 575 ).

Der Reichsarbeitsminister gab einen Überblick über die Wirtschaftspolitik vom Standpunkt seines Ressorts. Der allgemeinen Aufhebung des Nachtbackverbots könne er keinesfalls zustimmen. Die Wirtschaft befinde sich in einem Schrumpfungsprozeß schlimmster Art. Die Löhne und Gehälter seien von 46 Milliarden M im Jahre 1929 auf 35 Milliarden M im Jahre 1931 zurückgegangen. Der Ausfall komme zur Hälfte auf Kurzarbeiter, zur anderen Hälfte auf Beamte, Pensionäre, Arbeiter und Angestellte.

Durch die Lohnsenkung seien die Sozialversicherungen in Gefahr gekommen. Im Jahre 1931 seien ihre Einnahmen um 1¼ bis 1½ Milliarden zurückgegangen. Die Senkung der Löhne sei im Gesamtvolumen wesentlich größer als nach den Tarifverträgen erkennbar und entspreche der Senkung der Preise.

Die Steuern und Sozialbeiträge könnten nicht gesenkt werden. Es sei nicht möglich, die gegenwärtigen Leistungen aufrechtzuerhalten. Auch eine Verbilligung der Transportmittel komme nicht in Frage wegen der schwierigen Lage der Reichsbahn, bei den Verkehrsmitteln der Gemeinden wegen der enormen Wohlfahrtslasten.

In der Zinsfrage müsse etwas geschehen. Wenn die Ermäßigung von einer Stärkung des Vertrauens erwartet würde, dann würde sich der Druck auf die Lohn- und Gehaltsempfänger verstärken.

Die Einnahmen der Arbeitslosenversicherung seien um 500 Millionen M gesunken, gleichwohl solle eine Sanierung ohne Beitragserhöhung durchgeführt werden.

Für die Krisenfürsorge sollen die Arbeitgeber und Arbeitnehmer 424 Millionen aufbringen, die Leistungen würden gleichzeitig um 60 Millionen ermäßigt. Bei den Kleinrentner-Bezügen würden 150 Millionen, bei den Kriegsbeschädigten 250 Millionen, bei der Lohnerstattungssteuer 60 Millionen gestrichen, auch die Tabaksteuerunterstützung solle wegfallen.

[1125] Die Opfer, die den weitesten Kreisen so auferlegt werden, seien in keiner Weise im Einklang mit den hohen Agrarzöllen und Lebensmittelpreisen. Bei dieser Sachlage müsse er die Aufhebung des Nachtbackverbots ablehnen, ebenso die Beseitigung der kleinen Renten bei der Unfallversicherung.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte zur Frage des Gerstenpreises aus:

Der Gerstenpreis betrage auf dem Weltmarkt 90,– RM, in Deutschland mit dem Zoll von 60,– RM 150,– RM. Gerste mit Kartoffelflocken gemischt würden auf 167,– RM kommen. Auch unter Beimischung von Mais sollte der Durchschnittspreis 170,– RM betragen. Auf dem Mischfutter lagen noch 10,– RM Spesen. Zum Roggenpreis bestehe noch ein Abstand von 30,– RM.

Mais koste draußen 75,– RM, mit Zoll von 25,– RM also 100,– RM. Mais müsse in verständigem Abstand zum Roggen verkauft werden.

Zucker werde in Zukunft nicht mehr im Übermaße erzeugt werden4.

4

S. Dok. Nr. 302, Anm. 3.

Der Butterzoll müsse in absehbarer Zeit geregelt werden.

Die Waren, die der Landwirt benötigt, würden zu 54% überteuert verkauft. Durch die Futtermittelpolitik sei der Schweinebestand im Osten um 2 Millionen Stück gewachsen. Die betriebseigenen Futtermittel müßten die Basis der Zucht bleiben.

Über die Kosten der Mast und der Futtermittel kam es zu einer längeren Auseinandersetzung. Die Frage soll in einer Sonderbesprechung behandelt werden.

Der Reichsminister der Finanzen trat dafür ein, daß der Weizenzoll in seiner gegenwärtigen Höhe aufrechterhalten wird. Bei einem Preise von 40,– RM für Weizenmehl würde der Roggen auf die Dauer als Brotgetreide zu erträglichem Preise Verwendung finden.

Die Futtermittel müßten verbilligt und der Mais ohne Aufschlag verkauft werden. Der Roggenpreis dürfe nicht weiter steigen, weil das Einkommen der Bevölkerung in der Stadt um 20% ermäßigt worden sei.

Der Veredelungserzeugung könne nicht durch Zölle geholfen werden. Sonst würde ein Kampf um die Agrarpolitik entfesselt, in dem die Produzenten unterliegen würden. Billiges Futter müsse helfen.

Die Erregung in der Öffentlichkeit sei sehr groß, der Ausgang der Krise nicht abzusehen.

Der Reichsarbeitsminister hielt die Butterzollfrage dann für erwägenswert, wenn Deutschland dadurch nicht weiter politisch isoliert werde. Die Gefahr dürfe aber nicht überschätzt werden.

Gegen das Kohlensyndikat müsse vorgegangen werden. In manchen Städten habe der Mittelstand in wenigen Jahren sein Vorkriegsvermögen wieder verdient. Trotzdem klage er in der Stadtvertretung über seine schlechte Lage.

Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg meinte, die Landwirtschaft müsse von den hohen Zöllen abgedrängt werden. Keine Versorgung sei so schlecht organisiert, wie die Landwirtschaft.

[1126] Staatssekretär Dr. PünderPünder schlug vor, mit der Notverordnung eine Erklärung der Reichsregierung zu veröffentlichen, in der die Grundzüge der Agrarpolitik, der Konsumentenpolitik und der Handelspolitik klargelegt werden sollten.

Diesem Vorschlage wurde zugestimmt5.

5

Diese Erklärung wurde in Form eines offiziösen WTB-Kommentars über die Bedeutung und den Inhalt der NotVO vom 5.6.31 veröffentlicht (Text in R 43 I /2369 , Bl. 270–276; auch in Schultheß 1931, S. 121–131).

Der Reichskanzler bat die Ressorts um praktische Vorschläge. Insbesondere solle die Frage eines Druckes auf die Preise der industriellen Fertigwaren geprüft werden. Das Unwesen bei den Genossenschaften sei nicht länger zu ertragen. Die Revisionsfrage müsse bei den Genossenschaften in Angriff genommen werden. Die Organisation, die in 50 Jahren aufgebaut worden sei, sei in 10 Jahren in schlimmste Zustände gekommen. Um wieder auf die alte Höhe zu kommen, bedürfe es langer Zeiträume. Sie müßten aber abgekürzt werden. Auch die Genossenschaften hielten beispielsweise die Maschinen künstlich hoch.

Die Verhandlungen sollen am Abend im kleinen Kreise der beteiligten Ressorts weitergeführt werden6.

6

S. Dok. Nr. 310.

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