1.78.1 (bru2p): Politische Lage.

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Politische Lage.

Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung und führte aus, daß von den Parteien des Reichstags das Zentrum und die Staatspartei dem Wunsch der Reichsregierung keine Schwierigkeiten bereiteten, daß der Reichstag nicht zusammentreten solle1.

1

RT-Fraktion und Reichsparteivorstand der Zentrumspartei hatten auf einer gemeinsamen Sitzung – unter Teilnahme des RK – am 14.6.31 in Hildesheim der RReg. das Vertrauen ausgesprochen und eine Einberufung des RT abgelehnt (Morsey, Zentrumspotokolle, Dok. Nr. 677). Die RT-Fraktionsgemeinschaft der DStP hatte zwar am 9.6.31 eine RT-Sitzung abgelehnt, jedoch in Anwesenheit des RFM eine Entschließung gefaßt, in der wesentliche Teile der NotVO für verfehlt erklärt und Verhandlungen mit dem RK über Änderungen der NotVO gefordert worden waren (DAZ Nr. 257–258 vom 11.6.31).

Die Sozialdemokratische Partei bestehe zur Zeit auch nicht unbedingt auf einem Zusammentritt des Reichstags, wünsche aber unter allen Umständen die Wiedereinbeziehung der jugendlichen Erwerbslosen in die Erwerbslosenfürsorge2.

2

Der Vorstand der SPD-Fraktion hatte am 10. 6. beschlossen, wegen der Abänderung der NotVO mit dem RK in Verbindung zu treten (DAZ Nr. 257–258 vom 11.6.31). Die RT-Fraktion hatte am 12. 6. beschlossen, ihre Entscheidung über die Einberufung des RT vom Ergebnis der Verhandlungen mit der RReg. abhängig zu machen (DAZ Nr. 261–262 vom 13.6.31). In der NotVO vom 5.6.31 war die Versicherungspflicht vom 16. auf das 21. Lebensjahr heraufgesetzt worden (RGBl. I, S. 293 ).

Von der Deutschen Volkspartei habe er den Eindruck gewonnen, daß sie vor allem personelle Änderungen in der Zusammensetzung des Reichskabinetts erstrebe. Bei seiner Unterredung mit dem Parteiführer Dingeldey sei diesem ein Mißverständnis unterlaufen. Er, der Reichskanzler, habe bei der Unterredung erklärt, daß vielleicht später sich über eine Änderung der Zusammensetzung des Reichskabinetts werde reden lassen, daß jedoch im Augenblick eine derartige Änderung nicht in Frage kommen könne. Herr Dingeldey habe[1192] jedoch verstanden, daß er, der Reichskanzler, die Zusicherung abgegeben habe, die personelle Zusammensetzung des Kabinetts jetzt zu ändern3.

3

Der DVP-Vorsitzende Dingeldey hatte in der Fraktionssitzung vom 11.6.31 erklärt, man könne die Wege der jetzigen Regierung nicht mitgehen, und eine Umbildung des Kabinetts gefordert. Die DVP-Fraktion hatte mit 15 : 13 Stimmen die Einberufung des RT beschlossen (R 43 II /67 , S. 327–328). Dingeldey hatte den RK am 13.6.31 auf der Fahrt nach Hildesheim begleitet. Den Inhalt der Besprechung, an der auch Prälat Kaas und Vögler teilgenommen hatten, hat Dingeldey in einer Aktennotiz niedergelegt. Nach dieser Aufzeichnung hatte der DVP-Vorsitzende die Demission des gesamten Kabinetts gefordert. Als der RK dies wegen der ungeheuren Gefahr für die Devisenlage ablehnte, hatte Dingeldey den Rücktritt des RAM und des RFM verlangt. Dingeldey hatte die Taktik des RK in der Reparationsfrage kritisiert und Vorschläge über die Auflockerung des Tarifzwangs, u. a. Aufhebung der staatlichen Verbindlichkeitserklärungen und jederzeitige Kündigung laufender Tarifverträge, unterbreitet (Nachl. Dingeldey, Nr. 36, Bl. 79–85).

Der Herr Reichspräsident sei im übrigen einer Änderung in der Zusammensetzung des Kabinetts nicht abgeneigt und habe ihm, dem Reichskanzler, bei der Unterredung in Neudeck eine diesbezügliche Vollmacht erteilt, von der er jedoch keinen Gebrauch machen wolle. Den Wünschen der Sozialdemokratie hinsichtlich der Wiedereinbeziehung der jugendlichen Erwerbslosen in die Erwerbslosenfürsorge stehe der Herr Reichspräsident nicht ganz ablehnend gegenüber.

Die Wirtschaftspartei habe bestimmte Wünsche wegen der Hauszinssteuer4.

4

Der Gesamtvorstand der WP hatte am 10. 6. beschlossen, die sofortige Einberufung des RT, die Aufhebung der NotVO und die Einstellung sämtlicher Reparationsleistungen zu verlangen (DAZ Nr. 259–260 vom 12.6.31).

Auch die Bayerische Volkspartei habe steuerliche Wünsche, die besonders den Interessen der Länder dienten. Der Abgeordnete Leicht habe ferner Bedenken gegen eine dauernde Ausschaltung des Reichstags geäußert.

Das Landvolk wünsche ein sofortiges Moratorium5.

5

Die RT-Fraktion der Landvolkpartei hatte am 10. 6. von der RReg. Auskunft auf drei Fragen verlangt: welche Absichten das Kabinett hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Reparationsfrage habe; ob die NotVO als unabänderlich betrachtet werde; ob eine Umbildung der Reg. geplant sei (DAZ Nr. 259–260 vom 12.6.31).

Wenn die Reichsregierung den Wünschen der Sozialdemokratie bezüglich der jugendlichen Erwerbslosen entgegenkomme, werde insofern eine schwierige Lage entstehen, als die Volkspartei auf einer Umgestaltung des Tarifrechts bestehen werde. Heute Vormittag (15. 6.) wolle er noch die Gewerkschaften empfangen6, am Nachmittage die Parteien des Reichstags7. Er wolle mit allem Nachdruck betonen, daß die Reichsregierung den Zusammentritt des Plenums und des Haushaltsausschusses des Reichstags im gegenwärtigen Moment ablehnen müsse.

6

S. Dok. Nr. 331.

7

S. Dok. Nr. 332.

Auf Wunsch des Reichskanzlers berichtete sodann der Reichsbankpräsident über die Finanzlage der Reichsbank. Er führte aus, daß die außerordentlich starken Devisenabzüge eine Diskonterhöhung der Reichsbank um 2% notwendig gemacht hätten8. Die erforderliche Deckungsgrenze von Devisen[1193] usw. für deutsche Reichsbanknoten in Höhe von 40% sei nur noch wenig überschritten9.

8

Der Zentralausschuß der Rbk hatte am 13.6.31 den Diskontsatz von 5% auf 7% und den Lombardsatz von 6% auf 8% erhöht (Abschrift des Sitzungsprotokolls in R 43 I /641 , Bl. 155–156).

9

Die Rbk hatte vom 1.–12.6.31 rd. 900 Mio RM an Gold und Devisen abgeben müssen. Dagegen hatte die Rbk während der Währungskrise im Herbst 1930 von Mitte September bis Ende Oktober nur 1,1 Mrd. RM in Gold und Devisen verloren (DAZ Nr. 265–266 vom 16.6.31). S. auch Dok. Nr. 332 und Schultheß 1931, S. 143.

Vielleicht gäbe es noch andere Möglichkeiten als die Diskonterhöhung, um die Lage der Reichsbank zu erleichtern. Man könne einmal an Restriktionen von Krediten denken. Die wirtschaftlichen Folgen einer derartigen Maßnahme würden aber so katastrophal sein, daß man von dieser Maßnahme unbedingt Abstand nehmen müsse. Möglich sei auch eine Unterschreitung der Deckungsgrenze von 40% gemäß § 29 des Reichsbankgesetzes, d. h. auf Vorschlag des Direktoriums durch einstimmigen Beschluß des Generalrats bis auf eine Stimme10. Er glaube, daß der Generalrat der Reichsbank einer Unterschreitung der Deckungsgrenze zustimmen werde, wenn er, der Reichsbankpräsident. sie vorschlage. Jedoch würde die psychologische Wirkung einer derartigen Maßnahme ganz furchtbar sein. Das Ausland würde diese Maßnahme außerordentlich kritisch betrachten. Es komme hinzu, daß der Diskont dann wahrscheinlich noch weiter heraufgesetzt werden müsse. Schließlich komme noch eine Kreditgewährung der BIZ in Basel an die Reichsbank in Frage. Auch diesen Schritt würde er für außerordentlich bedenklich ansehen müssen, denn Deutschland würde dadurch in eine ähnliche Abhängigkeit vom Auslande geraten wie Österreich.

10

§ 29 des Bankgesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 242 ).

Der Reichsarbeitsminister führte aus, daß die Deutsche Volkspartei eine Abänderung der gesetzlichen Bestimmungen über das Schlichtungswesen verlangen würde, wenn die Reichsregierung der SPD Konzessionen in bezug auf die jugendlichen Erwerbslosen machen sollte. Was im übrigen das Schlichtungswesen anlange, so sei die ganze übrige Welt auf dem Wege, unsere Vorschriften nachzubilden. Bei dieser Situation sei es kaum möglich, die deutschen Bestimmungen über das Schlichtungswesen jetzt abzuändern. Bei den jugendlichen Erwerbslosen könne man vielleicht eine Bedürftigkeitsprüfung wie bei den verheirateten Frauen einschalten11, wenn man sie wieder in die Erwerbslosenfürsorge einbeziehe. Das Reichsarbeitsministerium vertrete die Auffassung, daß die Wiedereinbeziehung durch einen Erlaß an die Arbeitsämter erfolgen könne.

11

Vgl. den 3. Teil, Kap. I, Art. 1, Nr. 15 der NotVO vom 5.6.31 (RGBl. I, S. 294 ).

Staatssekretär Dr. JoëlJoël führte aus, daß diese Auffassung des Reichsarbeitsministeriums rechtlich tragbar sei. Allerdings würden die jugendlichen Erwerbslosen bei Wiedereinbeziehung in die Erwerbslosenfürsorge durch Erlaß keinen Rechtsanspruch auf Leistungen erwerben. Einen Rechtsanspruch würden sie nur durch Abänderung der Notverordnung vom 5. Juni – sei es durch neue Notverordnung, sei es durch Gesetz – erwerben.

Staatssekretär ZweigertZweigert vertrat dieselbe Auffassung.

Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg führte aus, daß eine gewisse Auflockerung des Tarifrechts vielleicht doch möglich sei. Die Löhne der Transportarbeiter[1194] könnten wohl noch herabgesetzt werden. Es sei notwendig, die Löhne noch mehr regional zu differenzieren. Eine Aufhebung der rechtlichen Einrichtung der Verbindlichkeitserklärungen von Schiedssprüchen halte er nicht für möglich.

Der Reichsminister des Auswärtigen betonte die Notwendigkeit, die Verbindlichkeitserklärungen zu entpolitisieren.

Der Reichsarbeitsminister teilte mit, daß er den Schlichtern sagen wolle, sie sollten künftig unbedingt zu Vereinbarungen zwischen den beiden Parteien, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern, kommen. Zweifelhafte Schiedssprüche werde er keinesfalls für verbindlich erklären.

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