1.130.1 (bru3p): Senkung der Elektrizitätstarife.

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Senkung der Elektrizitätstarife.

Neuregelung der Erwerbslosenfürsorge.

Der Reichskanzler stellte fest, daß die Frage der Senkung der Elektrizitätstarife und deren Zusammenhang mit der Frage des Ausgleichs der Etats der Länder und Gemeinden1 zu einer Nachprüfung des ganzen Problems der Arbeitslosenunterstützung zwinge. Die Bedeutung der Arbeitslosenunterstützung für die öffentlichen Etats sei immer mehr gewachsen. Zur Zeit erfordere die Arbeitslosenversorgung den Gesamtbetrag von 3,3 Milliarden. Im Hinblick auf die Wirtschaftskrise und die[2221] öffentliche Finanzlage halte er es für ausgeschlossen, das jetzige System der Arbeitslosenunterstützung im Laufe des Jahres aufrecht zu erhalten. Er bitte daher um eine offene Aussprache über das Problem, erwarte aber, daß über die Maßnahmen, die erörtert werden müßten, strengste Vertraulichkeit gewahrt werde, damit nicht gegebenenfalls erforderliche Maßnahmen von vornherein Erschwerungen durch Gegenwirkungen der interessierten Kreise erführen.

1

Vgl. Dok. Nr. 640, P. 1.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte, die Ansicht des Reichskanzlers zu teilen, daß auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung grundlegende Änderungen erfolgen müßten. Die Arbeitslosenunterstützung müsse eingeschränkt werden, die Landarbeiter und Dienstboten müßten herausgenommen werden.

Auch die Form müsse geändert werden. Man müsse die Verteilung vielleicht den Gewerkschaften überlassen und diesen gewisse Beträge zur Verfügung stellen. Für die Durchführung der Arbeitslosenversorgung sei das besser.

Gleichzeitig müßten möglichst reichliche Mittel für die Wirtschaft und für Kredite gegeben werden, um die Arbeitslosigkeit soweit wie möglich einzuschränken.

Ferner müsse das Unterstützungssystem umgewandelt und produktive Arbeit beschafft werden. Die Arbeitsbeschaffung durch Reichsbahn2 oder Reichspost3 sei von geringem Nutzen. Die Gelder, die dafür zur Verfügung gestellt würden, würden verzettelt. Die verfügbaren Mittel dürften nur für wirklich produktive Arbeiten gegeben werden. Bisher habe man in zu weitem Umfange mit Arbeitsbeschaffungsmitteln Maschinen verwandt und nicht genügend Menschen. Es werde im wesentlichen auf die Handarbeit ankommen. Man müsse vielleicht Aufwendungen von 1 Milliarde machen, um genügend Arbeit beschaffen zu können.

2

Vgl. Dok. Nr. 37, P. 2 und Dok. Nr. 713, Anm. 13.

3

Vgl. Dok. Nr. 614, P. 3.

Auch der freiwillige Arbeitsdienst müsse unbedingt angewandt werden4.

4

Vgl. Dok. Nr. 272, P. 1, Dok. Nr. 319 und die Zweite NotVo. zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 5.6.31, Dritter Teil, Kapitel I, § 139a (RGBl. I, S. 279 , hier S. 295).

Schließlich müsse schon möglichst bald eine schärfere Kontrolle der Unterstützung durchgeführt werden. Es gehe nicht an, daß Berlin zum Beispiel 600 000 Unterstützte habe, von denen die Hälfte Schwarzarbeit leiste.

Der Reichskanzler bestätigte, daß die öffentliche Finanzlage nicht zu halten sei ohne eine strengere Kontrolle der Arbeitslosenunterstützung. Außerdem geschehe in der Devisenkontrolle offenbar nichts. Er habe Kenntnis erhalten von planmäßigen Verschiebungen nach der Schweiz, von denen die Reichsbank anscheinend noch nichts wisse.

Der Reichskommissar für Preisüberwachung ging ein auf den Zusammenhang der Strom- und Verkehrstarife mit den Gemeindefinanzen.

Er teilte mit, daß die Senkung dieser Tarife in Leipzig keine Erhöhung des Umsatzes gebracht habe. Der Umsatz sei trotzdem zurückgegangen. Er sei der Ansicht, daß bei rückläufiger Konjunktur eine Senkung der Tarife nicht zu einer Steigerung des Umsatzes führen werde.

Während der Reichskanzler vorübergehend die Sitzung verließ5, machte der Reichsverkehrsminister verschiedene Vorschläge zur Arbeitsbeschaffung.

5

Der RK empfing um 12 Uhr für zehn Minuten den Gesandten von Siam zur Abschiedsaudienz (Nachl. Pünder  Nr. 44, Bl. 127).

[2222] Er erklärte, auch im Ruhrrevier die Ansicht allgemein gehört zu haben, daß das gegenwärtige System der Arbeitslosenunterstützung nicht weiter zu halten sei. Er begrüße deswegen den Vorschlag des Reichskanzlers und des Reichsministers der Finanzen zur Anwendung des freiwilligen Arbeitsdienstes, für den er schon früher eingetreten sei6. Es komme darauf an, vor allem der Jugend irgend eine Beschäftigung zu beschaffen, um ihr damit das Bewußtsein einer Leistung beizubringen. Auf die Art der Arbeit komme es nicht so sehr an. Notfalls gäbe es in genügendem Umfange schlechtes Kopfpflaster, das einfach umgesetzt werden könne.

6

Vgl. Dok. Nr. 272, P. 1 und Dok. Nr. 319.

Zudem müsse die Siedlung beschleunigt werden7. Dazu müßten vor allem im Osten die Güter verwandt werden, die nicht durchzuhalten seien.

7

Hierzu siehe auch die Beschwerden des RArbM und REM in Dok. Nr. 662, P. 6.

Man könne alle Werften beschäftigen, wenn die alten Schiffe abgewrackt und neue aufgelegt würden mit größerer Geschwindigkeit8. Die Erfahrung habe gezeigt, daß für Schiffe mit besonderer Leistungsfähigkeit auch heute noch hinreichende Transportmöglichkeiten beständen.

8

Vgl. auch Dok. Nr. 715, Anm. 7.

Weiter könnten auf den Landstraßen die Sommerwege beseitigt werden, die eine Ursache von zahlreichen Unfällen für den Kraftverkehr wären.

Auch er sei der Ansicht, daß möglichst die Spatenarbeit bevorzugt werden müsse. Die Verwendung von Baggern bei Erdarbeiten müsse grundsätzlich ausgeschaltet werden, selbst wenn Verträge abgeändert und vielleicht Abfindungen gezahlt werden müßten. Die psychologische Wirkung der Arbeitsbeschaffung auf die Bevölkerungskreise, die den Rechtsradikalen zuneigten, werde sehr günstig und für die innerpolitische Lage eine Erleichterung sein.

Nach Rückkehr des Reichskanzlers erklärte der Reichswirtschaftsminister mit einem solchen Wirtschaftsprogramm einverstanden zu sein. Die Vierte Notverordnung habe den Boden für ein solches Programm geschaffen. Früher, etwa Anfang 1931, wäre es noch nicht durchzuführen gewesen9. Die Mittel würden sonst verzettelt worden sein wie 1929 bei dem großen Wirtschaftsplan in den Vereinigten Staaten10.

9

Vgl. die Diskussion über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Dok. Nr. 167, P. 5.

10

Am 5.12.29 hatte Präs. Hoover eine Wirtschaftskonferenz eröffnet, die Vorschläge zur Ankurbelung der Wirtschaft ausarbeiten sollte (Schultheß 1929, S. 441–442).

Für das Arbeitsbeschaffungsprogramm müsse ausgenützt werden das Kreditvolumen, das bei der Akzeptbank und anderswo durch Rückzahlungen freigeworden sei. Die Sparkassen zum Beispiel hätten 100 Millionen zurückgezahlt. Auch sonst sei der Geldmarkt unter anderem durch die Erlöse aus den Inventur-Ausverkäufen verhältnismäßig erleichtert. Das freigewordene Volumen der Akzeptbank sei indes nicht ausreichend für die Maßnahmen, die zur Ankurbelung der Wirtschaft notwendig seien.

Auf dem Gebiet der Siedlungen seien Fehler gemacht worden, dadurch, daß man in zu weitem Umfange unproduktive Arbeiten geleistet habe.

Der Reichskommissar für Preisüberwachung erklärte zu den aufgeworfenen Problemen, er halte für notwendig, daß die jetzige Arbeitslosenunterstützung suspendiert[2223] werde11. Zudem müsse sie sofort mehr kontrolliert werden. Die Bedürftigkeitsprüfung müsse überall eingeführt werden. Die Durchführung der Betreuung der Arbeitslosen solle in die Hand der Gemeinden gelegt werden. Eine Kontrolle des Reichs könne durch die Arbeitsämter ausgeübt werden. Diese müßten aber von ihrem aufgeblähten Betriebe entlastet werden. Die Gewerkschaften könnten in ein solches System eingebaut werden.

11

Vgl. auch Goerdelers Denkschrift vom 30.1.32 in Schulz, Politik und Wirtschaft in der Krise, Dok. Nr. 417.

Der jetzige Augenblick sei für eine solche Umorganisation geeignet12. Dafür seien auch die Gewerkschaften zu haben, die sich zum Teil offenbar gefährdet fühlten dadurch, daß von Erwerbslosenseite eine Organisation der Arbeitslosen betrieben werde. Die Gewerkschaften hätten zu fürchten, daß die Mitglieder einer solchen Organisation in natürlichem Gegensatz stehen würden zu denjenigen, die noch Arbeit hätten. Sie würden für ihre Mitglieder zu fürchten haben. Bei dem neuen Arbeitslosenbetreuungssystem könne man den Gewerkschaften Pflichtmitglieder zuführen.

12

Vgl. Dok. Nr. 682, P. 1.

Zusammen mit der Umänderung der Arbeitslosenunterstützung müsse eine Vereinfachung der öffentlichen Verwaltung gehen und zwar einschließlich des unhaltbar überorganisierten Schulwesens. Das „Abstempelungswesen“ müsse abgeschafft werden. Die Jugend müsse mehr vor praktische Aufgaben gestellt werden. Der freiwillige Arbeitsdienst werde dabei helfen. Auch er halte die psychologische Wirkung für sehr beachtlich.

Er halte einen freiwilligen Arbeitsdienst für möglich für etwa 500 000 Arbeiter. Dafür wären aufzuwenden pro Kopf etwa 50 RM ohne Gerätekosten. Die Durchführung müsse erleichtert werden durch Massenverpflegung, Einheitskleidung und dergleichen. Die Zahl von 500 000 wäre aber wohl der äußerste Umfang, der 1932 finanziell und verwaltungsmäßig zu bewältigen wäre.

Ein Wettbewerb mit bestehenden Wirtschaftsbetrieben müsse möglichst vermieden werden.

Bezüglich der Siedlung befinde er sich im Gegensatz zum Reichswirtschaftsminister. Er sehe den Erfolg hauptsächlich in der Beschäftigung des Siedlers. Die Siedlung müsse anders betrieben werden als es vielfach zur Zeit geschehe. Es dürfe möglichst wenig dazu aus Fabriken bezogen werden. Die Siedler müßten, wie es bei der Leipziger Vorstadtsiedlung geschehe, in möglichst weitem Umfange selbst ihr Haus und die einzelnen Teile zusammenbauen.

Straßenarbeiten halte er auch für angebracht, aber ohne Maschinen. Auch Meliorationen könnten in weitem Umfange gemacht werden. In Leipzig zum Beispiel seien der Lauf der Elster und der Pleiße mehr Jauchekanäle als Flußläufe.

Finanziell sehe er den Plan folgendermaßen:

Das Reich habe für die Gemeinden vorgesehen 50 Millionen. Das sei zu wenig. Die Zusammenlegung der drei Arten der Unterstützung sei notwendig. Durch Ausscheiden der Landwirtschaft und anderer Berufe aus der Unterstützung werde sich eine Ersparnis von 140 Millionen ergeben. Dazu möge das Reich 150 Millionen für produktive Arbeiten zur Verfügung stellen. Dann wären insgesamt rund 300 Millionen verfügbar.

[2224] Eine Notverordnung zu einer solchen Entlastung der Wirtschaft sei sehr dringlich. Die Preissenkung möchte er im Februar möglichst abschließen, damit in der Preisbewegung eine Beruhigung eintrete. Für lebenswichtige Betriebe müsse eine Preisüberwachung durch die ordentlichen Behörden aufrechterhalten werden.

Der Reichskanzler erklärte sich mit den letzten Ausführungen einverstanden.

Der Reichsarbeitsminister legte, vom Reichskanzler um seine Stellungnahme gebeten, dar, von den für die Arbeitslosenunterstützung aufgebrachten Mitteln trügen zur Zeit Arbeitgeber und Arbeitnehmer 1300 Millionen, das Reich 1100 Millionen. Wenn das System geändert werden solle, sei diese Art der Verteilung nicht aufrecht zu erhalten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber würden ihre Beiträge sonst als Lohnsteuer ansehen. Eine Verminderung der Arbeitslosenzahl durch eine Änderung des Systems dürfe nicht in zu weitem Umfange erwartet werden. Er bedauere, daß sein früherer Plan aus politischen Gründen nicht durchgeführt worden sei, die Krisensätze auf die Arbeitslosenunterstützung auszudehnen13. Auch die Kohlen- und Fleischverbilligung, die das Reich belaste, habe er nicht vorgeschlagen14. Er sei einverstanden mit einer Beseitigung der Auswüchse der Arbeitslosenunterstützung. Unproduktive Ausgaben müßten vermieden werden und in möglichst weitem Umfange produktive Arbeiten beschafft werden. Die Kernfrage sei aber, wie die Mittel aufzubringen wären, um die Ausgaben des Reichs für die Arbeitslosen produktiv zu machen. Es handele sich um ein paar Millionen. Bisher seien die Mittel nicht ausreichend gewesen, um sie produktiv zu gestalten.

13

Vgl. Dok. Nr. 460.

14

Vgl. Dok. Nr. 571, P. 5.

Der Reichskanzler erklärte, auch seinerseits den Eindruck zu haben, daß die Gewerkschaften eine Systemänderung jetzt mitmachen würden. Der Grund scheine die Arbeitslosenorganisierung zu sein. Für eine Änderung des Arbeitslosenunterstützungssystems scheine ihm der Zeitpunkt gekommen zu sein, nachdem die Vierte Notverordnung gemacht und eine Preissenkung durchgeführt sei. Das Problem sehe er in den zwei Fragen, welche Arbeiten möglich und welche Mittel zur Durchführung verfügbar seien.

Von den Vorschlägen zur Arbeitsbeschaffung seien eine Reihe sicherlich brauchbar. Den Plan, Schiffe abzuwracken und neue zu bauen, halte er jedoch aus internationalen Rücksichten für bedenklich.

Der Reichskanzler bat sodann den Reichsarbeits- und Reichswirtschaftsminister sich in den nächsten Tagen mit den Problemen näher zu befassen15.

15

Vgl. Dok. Nr. 670 und Dok. Nr. 682.

Der Reichswirtschaftsminister teilte noch mit, daß der Reichswirtschaftsrat einen Ausschuß eingesetzt habe, um ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aufzustellen. Der Ausschuß glaube, daß für eine Million Menschen Arbeit zu beschaffen sei. (Der Reichsarbeitsminister meinte dazu, der Reichswirtschaftsrat kümmere sich aber nicht um die Mittelbeschaffung.)

Er, der Reichswirtschaftsminister, sehe folgende Aufgaben, die miteinander zusammenhingen:

1.)

die Bankenfrage,

2.)

die Frage der Industrie-Subventionen,

3.)

[2225]die Umlagerung des freiwerdenden Kreditvolumens der Akzeptbank,

4.)

die Umwandlung der eingefrorenen Kommunalkredite,

5.)

die Ordnung der öffentlichen Etats16.

16

Vgl. hierzu auch Warmbolds Äußerungen in Dok. Nr. 697, P. 9.

Der Reichskanzler bestätigte, daß man nicht auf einem Gebiet allein vorgehen könne, ohne die anderen zu berücksichtigen.

Der Reichskommissar für Preisüberwachung meinte, auf dem Gebiet der Arbeitslosenfrage müsse aber schnell gehandelt werden. Im März müßten mit dem beginnenden Frühjahr die Arbeiten aufgenommen werden. Die Bevölkerung warte und die Zeit sei für die Änderung reif.

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