2.173.1 (cun1p): [Politische Lage und Reparationsfrage]

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Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

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Text

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[Politische Lage und Reparationsfrage]

Der Reichskanzler leitete die Besprechung mit einer allgemeinen Darlegung der Situation ein und betonte mit besonderem Nachdruck die Notwendigkeit der festen Aufrechterhaltung der inneren Ordnung. Er bat die Vertreter der Länder, daß in dieser Richtung alles geschehen möge, was möglich sei. In der Erörterung der Vorarbeiten für die deutsche Antwort führte der Reichskanzler aus, daß das Reichskabinett ziffernmäßig über das Angebot vom 2. Mai nicht hinausgehen könnte, ohne sich dem Vorwurf der Unwahrhaftigkeit auszusetzen und seinen internationalen Verhandlungskredit zu verlieren. Dagegen seien Modifikationen unseres Angebotes möglich. Der Reichskanzler verwies, bevor er dem Minister des Äußern das Wort erteilte, darauf, daß die Verhandlungen vertraulich seien.

Eine kurze Geschäftsordnungsdebatte hatte das Ergebnis, daß am Schluß der Besprechung mitgeteilt werden sollte, was die anwesenden Herren etwa ihren Regierungen vertraulich würden mitteilen können.

[524] Der Reichsminister des Äußern gab einen Überblick über den augenblicklichen Stand der Arbeiten an der Antwort5. Wir befänden uns im Stadium der diplomatischen Unterhaltungen. In wenigen Tagen würden abschließende Berichte unserer diplomatischen Vertreter erwartet, und dann könne der Schritt der Regierung erfolgen. Er würde nicht die Form einer Note, sondern eines Memorandums haben. Über den Inhalt dieses Memorandums machte der Minister alsdann eingehende Ausführungen6.

5

Über die Ministerberatungen seit dem 19. 5. fehlen Aufzeichnungen in R 43 I. Zu den verschiedenen Notenentwürfen und Garantievorschlägen vgl. Anm. 15 zu Dok. Nr. 162.

6

Endgültiger Wortlaut des Memorandums, das am 7. 6. der frz., belg., brit., ital., amerik. und japanischen Reg. übergeben wird, in RT-Drucks. Nr. 6204, Bd. 379, S. 29  f. sowie in Ursachen und Folgen, Bd. V, S. 145 f. Entwürfe und Umdrucke im AA Büro RM 5, Reparationen, Bd. 12 und 13.

Der Preußische Ministerpräsident führte Klage darüber, daß die Beratungen über die deutsche Antwort sich so lange hingezogen hätten und erklärte, daß wir so schnell wie möglich zu Verhandlungen kommen müßten. Die Lage im besetzten Gebiet verschlechtere sich zusehends. Die Franzosen ermutigten dort die destruktiven Kräfte. Dazu komme eine verkehrte Lohnpolitik und die Preistreibereien. Im Ruhrgebiet sei zwar wieder Ruhe geschaffen, aber sie dauernd aufrechtzuerhalten würde nicht möglich sein, wenn man der Bevölkerung nicht Aussicht auf baldige Verhandlungen zur Lösung der Reparationsfrage machen könnte. Auch im unbesetzten Gebiete erschwere sich die Lage. Arbeitslosigkeit wachse. Er fragte alsdann, ob noch Sondierungen bei den fremden Regierungen abgewartet würden und wünschte, daß auf ihr Ergebnis besonderes Gewicht gelegt werde. Aus der englischen Antwortnote auf unseren Schritt vom 2. Mai klinge der Ärger darüber, daß die englischen Ratschläge auf deutsche Sondierungen nicht beachtet worden seien7.

7

S. Anm. 10 zu Dok. Nr. 162.

Der Reichskanzler wies diese Bemerkung zurück. Es hätten damals keine deutschen Sondierungen stattgefunden, und die angeblichen englischen Ratschläge seien überhaupt nicht erteilt worden8.

8

Dem entspricht die Eintragung D’Abernons vom 1.5.23: „Die deutsche Regierung hat mich weder um meine Meinung über die Bedingungen des deutschen Angebotes gefragt, noch habe ich von selbst irgendeinen Rat gegeben.“ (Memoiren, Bd. II, S. 241). Ebenso die Eintragung vom 3.5.23: „Am 2. April [!] telegraphierte mir Curzon, ich sollte keinerlei Verantwortung für den deutschen Vorschlag übernehmen. Ich habe mich deshalb vollkommen ferngehalten.“ (ebd. S. 243). Bezeichnenderweise hatte D’Abernon am 22.4.23 Curzon aus Berlin berichtet: „Der Außenminister legt größten Wert darauf, genaue Informationen zu bekommen, welches Angebot es Ihrer Ansicht nach ratsam wäre zu unterbreiten, da die Zeitungsberichte widersprechend lauten.“ (Memoiren, Bd. II, S. 237).

Der Preußische Ministerpräsident erging sich alsdann in einer längeren Kritik unserer Note vom 2. Mai, die nur einen Gegenwartswert von 16 Milliarden dargestellt habe. Jetzt müsse namentlich die internationale Kommission in den Vordergrund gestellt werden, die in der damaligen Note keine Rolle gespielt habe.

Der Reichskanzler wies auf den tatsächlichen Inhalt der deutschen Note hin, die gerade die internationale Kommission als wesentlichen Punkt enthalten habe9.

9

Die deutsche Note vom 2.5.23 widmet der internationalen Kommission einen Satz: „Sollte diese Auffassung [die Auffassung der deutschen Regierung] von der anderen Seite nicht geteilt werden, so schlägt die deutsche Regierung vor, entsprechend der Anregung des StS Hughes, das gesamte Reparationsproblem einer von jeder politischen Einwirkung unabhängigen internationalen Kommission zu unterbreiten.“ (RT-Drucks. Nr. 6204, Bd. 379, S. 8 ).

[525] In der Frage der Garantien wünscht der Preußische Ministerpräsident weiter zu gehen. Er glaubt nicht, daß man mit dem Eisenbahnangebot den Eindruck einer greifbaren Leistung machen könne. Den Ansatz der zehn Milliarden für die Garantie der Wirtschaft bezeichnet er als zu niedrig. Die Wirtschaft müßte mindestens für 20 Milliarden einstehen10. Für die Landwirtschaft fordert er eine 20%ige Hypothek. Die Möglichkeit einer gleichen Belastung des städtischen Grundbesitzes bezweifelt er. Seine Gesamtausführungen laufen auf eine Erhöhung des deutschen Angebotes hinaus.

10

Vgl. Anm. 3 zu Dok. Nr. 177.

Der Reichskanzler führte demgegenüber aus, daß die Reichsregierung keinen Tag verloren habe. Wäre sie mit der Antwort bereits hervorgetreten, so hätte sie gar nichts gewonnen. Von Verzögerung kann umso weniger die Rede sein, als ja das englische Kabinett bisher noch nicht aktionsfähig gewesen sei11. Die innere Situation müsse von den Länderregierungen gehalten werden. Wenn wir jetzt um jeden Preis zu Verhandlungen drängten, würden wir dem Lande schaden. Hinsichtlich der Höhe des Angebots erklärte er erneut, daß das Reichskabinett ehrlich und aufrichtig genommen werden solle und deswegen über ein Angebot, das es als vertretbar ansehe, nicht hinausgehen könne. Die Bemängelung des Preußischen Ministerpräsidenten hinsichtlich der internationalen Kommission zur Feststellung unserer Leistungsfähigkeit weist er an der Hand der Note vom 2. Mai zurück. Wer meine, daß wir damals nicht bis an die Grenze des Möglichen gegangen seien, vergesse die Schwere der in unserm Angebot liegenden Leistungen. Er zeigt alsdann, wie unser Angebot in Annuitäten übertragen sich darstellt12. Für das Wirksamwerden der Eisenbahngarantie sei die Gewährung des Moratoriums Voraussetzung, nach dessen Ablauf aber seien Ergebnisse bis zu 500 Millionen jährlich möglich. Daß die Wirtschaft 20 Milliarden hergeben könne, sei unzutreffend. Sie würde dann nicht nur leidend, sondern völlig leistungsunfähig werden. Den Besitz der Länder zur Garantie heranzuziehen, sei nicht beabsichtigt. Der städtische Grundbesitz könne unter dem jetzigen Zwangsmietengesetz nichts leisten, aber man müsse allmählich dahin kommen, daß er leistungsfähig wird. Änderungen in dem Plane der neuen Antwort könnten sich vielleicht aus den diplomatischen Unterhaltungen ergeben. Die Reichsregierung habe, um alle Störungen zu vermeiden, sich jeder Kundgebung enthalten und deswegen auch unterlassen, auf die aggressiven Reden[526] Poincarés im gleichen Tone zu antworten13. Sie habe in täglicher schweigender Arbeit die deutsche Antwort vorbereitet. Notwendig für jeden Erfolg sei, wie er wiederholen müsse, die Wahrung der inneren Ruhe. Die Herde der Unruhen müßten gelöscht werden und dabei sei es gleichgültig, von welcher deutschen Seite die Hilfe kommt.

11

Am 20. 5. war Bonar Law zurückgetreten, am 22. 5. Baldwin zum Premierminister ernannt worden. Die Kabinettsbildung dauerte bis zum 25. 5. und erbrachte nur geringe Veränderungen gegenüber dem Kabinett Law.

12

Nach einer Aufzeichnung vom 5.5.23 beziffert sich das dt. Angebot vom 2. 5. bei 5% Zins und 1% Amortisation in Jahresannuitäten wie folgt:

Bei dieser Berechnung sind die im deutschen Angebot nur unter Vorbehalten angebotenen 5 + 5 Mrd. GM mit auf die Annuitätenzahlungen umgerechnet worden. Legt man lediglich 20 Mrd. GM zu Grunde, so ergeben sich daraus für 37 Jahre Annuitäten in Höhe von 1,2 Mrd. GM, was einer Gesamtsumme von 44,4 Mrd. GM entspricht (R 43 I /36 , Bl. 364-366).

13

Bezieht sich wohl auf die Kammerreden Poincarés vom 24. 5. und 29.5.23 (Auszüge in Schultheß 1923, S. 303 f. bzw. S, 306). Möglicherweise spielt Cuno hier auch auf die in aggressivem Ton gehaltene frz. Note vom 6.5.23 an, deren Redaktion Poincaré persönlich zugeschrieben wurde (RT-Drucks. Nr. 6204, Bd. 379, S. 14  – 19).

Der Bayerische Ministerpräsident führte aus, daß der passive Widerstand brüchig zu werden beginne. Dies gelte auch in der Pfalz14. Wir müßten sehen, zu einem modus vivendi zu gelangen. An aktiven Widerstand könnten wir leider nicht denken. Er wies alsdann die in der Presse ohne Zutun der Bayerischen Regierung aufgetretene Fabel zurück, daß diese von der Reichsregierung abgerückt sei15. Daß wir mit der Note vom 2. Mai keinen Erfolg erzielt hätten, stehe ja fest, ob wir jetzt mit dem Memorandum weiterkommen würden, bezweifele er. Vielleicht würde es uns gelingen, bei der einen oder anderen Macht wenigstens soweit Erfolg zu haben, daß wir ein Zusammengehen mit den Franzosen verhindern könnten. Die Reichsbahnbelastung billigt er. Hinsichtlich der Wirtschaft warnt er davor, den Schnitt gar zu tief zu machen, und zwar gerade im Verbraucherinteresse. Bei der Landwirtschaft müsse der Verteilungsmodus sorgsam beachtet werden. (Der Reichskanzler bemerkt, daß die Verteilung noch offen sei und selbstverständlich die innere Frage behandelt werde). Den bayerischen Verhältnissen entsprechend sei namentlich die Rücksicht auf den kleinen Besitz dringend erwünscht. Den Weg des Memorandums billigt er. Wenn es sich auch um einen Sprung ins Dunkle handele, so sei der Plan der Regierung unter den gegebenen Verhältnissen der bestmögliche Weg. Hinsichtlich des Erfolges freilich könne er seine starken Befürchtungen nicht unterdrücken.

14

Vgl. dazu Dok. Nr. 163.

15

Vgl. dazu die Rede v. Knillings in der Besprechung vom 1. 5. (Dok. Nr. 146).

Der Württembergische Finanzminister wünscht möglichste Ausnutzung aller Anknüpfungsmöglichkeiten. Die Garantiepläne befriedigen ihn. Er wünscht, daß unser Angebot in eine möglichst konkrete Form gekleidet wird und zweifelt, ob unser Zahlungsplan in dieser Richtung ausreiche. Es würde schwer sein, aufgrund dieses Planes eine Anknüpfung zu finden. In längeren Ausführungen spricht er sich für den Übergang zu jährlichen Leistungen aus.

Der Sächsische Ministerpräsident macht Ausführungen darüber, daß das Plenäre [!] nicht die Erhaltung der Wirtschaft, sondern die Erhaltung des Reichsgebietes sei. Er glaubt, daß höhere wirtschaftliche Opfer möglich seien und meint, daß die einmalige Festlegung des Kabinetts in der Note vom 2. Mai nicht endgültig sein dürfe. Weiter spricht er sich für die Heranziehung des toten Besitzes und gegen die Form des Memorandums aus. Wenn wir bei der Antwort uns auf die alten Summen festlegten, so hätte der Schritt keinen Zweck und sei nur eine Verzögerung.

Der Reichskanzler legte dar, daß die wirtschaftlichen Garantien nicht in der zahlenmäßigen Höhe der Belastung sich ausdrückten, sondern ihre Auswirkungen weit darüber hinaus auf das ganze Volk üben würden.

[527] Der Bayerische Handelsminister ergänzte die Ausführungen des bayerischen Ministerpräsidenten nach der wirtschaftlichen Seite. Auf die Reichsbahn dürften wir eine Ingerenz der Gegner bei der Konstruktion der Garantien nicht zulassen. Er wendet sich gegen eine Überspannung der wirtschaftlichen Garantien, da jede weitere Steigerung unserer Leistungen letzten Endes auf die ärmeren Schichten drückt. Friedensgoldwerte beständen auch nicht bei der Landwirtschaft. Weder in der Zahl noch in der Garantie könnten wir höher gehen, als die Reichsregierung es vorschlage. Es handele sich um ein ernstes Angebot, das uns zu Verhandlungen führen würde, wenn Frankreich Verhandlungen überhaupt wolle.

Der Badische Staatspräsident führt aus, daß das Unheil im Zusammenbruch der Mark liege. Er bringe die Stimmung zu Wege, als ob die Reichsregierung zu langsam arbeite. Mit zwei Gefahren müsse man rechnen: mit weiteren französischen Vorstößen über das jetzt besetzte Gebiet hinaus und mit einem gemeinsamen Ultimatum der Alliierten. Damit würden schwere innere Schwierigkeiten hereinbrechen. Mit einer Entfremdung des linksrheinischen Gebietes sei alsdann zu rechnen. Über das Zahlenangebot möchte er nicht hinausgehen, die Garantien so stark wie möglich machen. Die innerpolitische Situation könne man nicht ernst genug nehmen.

Der Minister des Auswärtigen versichert, daß der Ernst der Lage von der Reichsregierung in jeder Weise anerkannt werde. Wenn Frankreich den Willen habe oder von seinen Alliierten durch leisen Zwang an den Verhandlungstisch gebracht werden solle, so sei die deutsche Offerte ernsthaft genug. Führe der neue Versuch nicht zum Ziele, so würde der Grund der sein, daß Frankreich eine an Vernichtung grenzende Unterwerfung Deutschlands wolle und daß die Alliierten zu feige seien, um Frankreich an seinem Plane zu hindern. Die Gefahr des Ultimatums liege im Bereich des Möglichen. Schlimmer aber als ein Diktat würde das Angebot unausführbarer Leistungen sein. Warum dränge man jetzt in England und in anderen Ländern darauf, daß wir unser Angebot erhöhen sollen? Deswegen, weil man uns nicht einmal das benifitium ultimati gönne. In unserm Plane dürfe die große Bedeutung des „Blanko-Schecks“ nicht übersehen werden. Es handele sich dabei um ein ungeheures Wagnis, aber dies Angebot sei durchaus ernsthaft gemacht. Der Reichsminister führte des Näheren den Unterschied zwischen einem unausführbaren Angebot und einer internationalen Entscheidung, die uns mehr auferlegen könnte, als wir für möglich halten, aus. Die Aussichten, an den Verhandlungstisch zu kommen, halte er nicht für groß und die Möglichkeit, auf unserer Basis zu Vereinbarungen zu gelangen für noch geringer. Es bleibe der wichtige politische Zweck, Frankreich zu isolieren.

Der Thüringische Ministerpräsident geht kritisch auf die Mai-Note ein, verbreitet sich über den Luxus der deutschen besitzenden Klasse, der stärker herabgedrückt werden müsse und geht des längeren auf das Angebot der Industrie ein16. Daß von dieser Seite jetzt gegen den Achtstundentag Sturm[528] gelaufen werde, bezeichnet er bei der gegenwärtigen inneren Situation als unverständlich.

16

Abgedruckt als Dok. Nr. 168.

Der Hessische Staatspräsident meint, daß die Alliierten eine höhere Belastung der Industrie verlangen würden. Durch die Requisitionen in den Fabriken hätten die Franzosen ein Bild davon erhalten, über welche Reichtümer die Industrie verfüge. Komme es zum Ultimatum, so würden diese Reichtümer einfach weggenommen werden. Wir sollten uns die englischen Ziffern ansehen und prüfen, ob wir uns diesen Ziffern (Bonar Law) nähern können. Kommen wir nicht bald zur Verhandlung, so werde die Widerstandsaktion versanden. Die Franzosen arbeiteten aus allen Kräften und bezahlten kommunistische Flugblätter. Wenn wir zu Verhandlungen bereit sind, so müssen wir auch einen Pflock dabei zurückstecken können, wenn er auch nicht sagen wolle, daß wir um jeden Preis zu Verhandlungen kommen müßten. Daß die Stimmung im besetzten Gebiet bedeutend nachgelassen habe, müsse man in Rechnung ziehen. Schwere Befürchtungen beständen, was geschehen solle, wenn es nicht zu Verhandlungen komme. Die Eisenbahner führten einen heroischen Kampf. Die französischen Raubfahrten brächten Milliarden in französische Hand, und man müsse sich fragen, ob man mit gleichen Summen die Höhe der englischen Ziffern nicht auf lange Zeit hinaus hätte decken können.

Der Reichsminister des Äußern (Der Reichsfinanzminister zieht sich aus dem Saale zurück, als er seine Ausführungen beginnt) beleuchtete den Bonar Lawschen Plan, mit dem das Kabinett sich sehr ernst beschäftigt habe17. Dieser Plan sehe ungleich höhere Annuitäten vor, als sie in dem deutschen Angebot steckten18. Wenn die Reichsregierung zögere, Bonar Law anzubieten, so handele es sich nicht um Eigensinn, sondern um politische Überzeugung. Ginge sie zu einem derartigen Angebot über, so würde sie damit ihre Verhandlungsfähigkeit unendlich verringern. Ein verstärkter französischer Druck würde auf ein derartiges Angebot erwidern mit dem Hinweis darauf, daß der bisherige Druck ja nun den Erfolg gehabt habe, Deutschland zu höheren Angeboten zu treiben. Die Schätzung unserer Leistungsfähigkeit könne nicht höher gehen, unser Angebot aber gehe über diese Schätzung hinaus, da wir ja eine Entscheidung des Schiedsgerichtes in jeder Höhe zulassen wollen. Übrigens sei der Bonar Law-Plan nicht besser weggekommen als der deutsche und alle anderen Vorschläge. Er sei bekanntlich auch abgelehnt worden.

17

S. Dok. Nr. 159, 161 und 162.

18

Die Annuitäten des Bonar Law-Plans (in Weißbuch des AA „Die Pariser Konferenz 2. – 4. Jan. 23“, S. 12) betragen in den ersten vier Jahren nichts, vom 5. – 8. Jahr 2 Mrd. GM, vom 9. – 31. Jahr 2,5 Mrd. min., 3⅓ Mrd. maximal.

Der Sächsische Ministerpräsident wendet sich gegen die Ausführungen des Ministers des Äußern und faßt seine Ansichten dahin zusammen, daß die Note eine reine Geste werden würde, die wir uns ersparen sollten.

Der Preußische Ministerpräsident spricht sich gleichfalls für eine Anlehnung an den Bonar Lawschen Plan aus und schildert die Gefahren der inneren Lage.

Der Minister des Äußern legt erneut den Unterschied zwischen der deutschen Offerte, die ehrlich und ausführbar bleiben müsse, und einer Entscheidung des Schiedsgerichts dar, von dem wir auch höhere Zahlen annehmen[529] müßten. Das Reichskabinett sehe durchaus die Gefahr, fürchte aber, daß sie nicht vermindert, sondern höchstens für kurze Zeit verschleiert werden könnte, wenn wir Unerfüllbares anbieten wollten.

Die Debatte ist damit erschöpft. Der Reichskanzler dankt den Erschienenen. Die vielfachen Anregungen würden geprüft werden. Hauptaufgabe der Länder, die er nochmals ans Herz lege, sei, für Ruhe im Innern zu sorgen. Was unser neues Angebot betreffe, so könne er sich eventuell entschließen, ein Schema der Annuitäten einzubauen, aber nur mit dem Zusatz, daß die Regierung berechtigt sei, jedesmal sechs Monate vor dem Termin, wo nach dem Schema eine Erhöhung der Annuitäten einsetzen würde, das Urteil eines Schiedsgerichtes über die deutsche Leistungsfähigkeit anzurufen19.

19

Tatsächlich werden in der endgültigen Fassung der dt. Note keinerlei Angaben über die Höhe der Gesamtsumme oder etwaiger Annuitätenzahlungen gemacht. Stattdessen betont die RReg. ihre Bereitschaft, „die Entscheidung einer unparteiischen internationalen Instanz über Höhe und Art der Zahlungen anzunehmen. Ein stärkerer Beweis für den Reparationswillen Deutschlands ist nicht denkbar.“ Und weiter heißt es: „Die Deutsche Regierung hatte die Ausgabe großer Anleihen in Aussicht genommen, um den reparationsberechtigten Mächten baldmöglichst erhebliche Kapitalbeträge zuzuführen. Solange sich die Ausgabe von Anleihen in großen Beträgen als undurchführbar erweist, ist die Deutsche Regierung auch damit einverstanden, daß an Stelle der Kapitalsummen ein System von Jahresleistungen tritt.“ (Ursachen und Folgen, Bd. V, S. 145). Den Hauptteil des Angebots nimmt die konkrete Ausgestaltung der Garantien ein. Am 4. und 5. 6. wird den dt. Botschaftern in den Hauptstädten der Alliierten der Text des Memorandums übersandt mit der Weisung, dieses am 7. 6. zu übergeben. An Botschafter Sthamer in London gibt der RAM am 5. 6. noch eine längere Anweisung zur Erläuterung des Memorandums. Darin heißt es u. a.: „Auf den Versuch, ein konkretes Beispiel für die Umwandlung des Kapitalsystems in ein Annuitätensystem zu geben, haben wir verzichtet, weil je nach der Berechnungsmethode eine große Anzahl von Möglichkeiten vorhanden sind und nach unseren bisherigen Erfahrungen nicht darauf gerechnet werden kann, daß wir mit einem herausgegriffenen Beispiel gerade diejenige Lösung treffen, die der Gegenseite noch am ehesten konvenieren würde. […] Die britische Note [vom 13. 5.] empfiehlt der Deutschen Regierung, alle unerheblichen und strittigen Punkte auszuschalten. Wir fürchten, daß hiermit insbesondere die von uns behauptete Unrechtmäßigkeit der Ruhrbesetzung und die von Frankreich behauptete Unzulässigkeit des passiven Widerstandes gemeint sind. Obwohl diese beiden Punkte für uns nicht unerheblich sind, sondern eine Lebensfrage darstellen, haben wir dem englischen Rate dadurch Rechnung getragen, daß wir sie in dem Memorandum nicht ausdrücklich erwähnten. Wir halten es aber für eine Pflicht der Loyalität gegenüber Lord Curzon, ihn persönlich und vertraulich davon zu unterrichten, daß wir weder auf das französische Verlangen einer Beseitigung des passiven Widerstandes vor Eintritt in Verhandlungen eingehen noch uns mit dem von Frankreich propagierten Gedanken einer nur etappenweisen Räumung des Ruhrgebiets abfinden können. […] Überdies hätte die Deutsche Regierung, selbst wenn sie es wollte, gar nicht die Macht, den passiven Widerstand, der als Abwehr gegen das Vorgehen Frankreichs spontan aus der Bevölkerung herausgewachsen ist, durch behördliche Anordnungen zu beseitigen.“ (AA Büro RM 5, Reparationen Bd. 13). In einem weiteren Telegramm vom 5. 6. teilt v. Rosenberg Sthamer mit, daß die engl. Übersetzung des dt. Memorandums von dem engl. Nationalökonomen Keynes vorgenommen wurde, der zur Beratung der RReg. in Berlin weilte (AA ebd.). Zu den Reaktionen der Alliierten auf das dt. Memorandum s. Weißbuch des AA „Notenwechsel der Alliierten im Anschluß an die deutschen Noten vom 2. Mai und 7. Juni 1923“, RT-Drucks. Nr. 6204, Bd. 379 . Wegen der grundsätzlichen und tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten, insbesondere zwischen England und Frankreich, bleibt die RReg. auf ihr Memorandum ohne Antwort.

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