2.177 (cun1p): Nr. 177 Die sozialistischen Gewerkschaften an den Reichskanzler. 1. Juni 1923

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Nr. 177
Die sozialistischen Gewerkschaften an den Reichskanzler. 1. Juni 1923

R 43 I /37 , Bl. 279-282; Anlage Bl. 283-289

[Betrifft: Reparationsgarantien der deutschen Industrie]

Herr Reichskanzler!

Der Reichsverband der deutschen Industrie hat, datiert vom 25. Mai 1923, der Reichsregierung ein Schreiben übermittelt, in dem er von Ihnen, Herr Reichskanzler, darum ersucht, sich erklärt, in welchem Umfange und in welcher Form er die Heranziehung der industriellen Wirtschaft als Garant für den Anleihedienst möglich und angängig erachtet1. Die unterzeichneten Gewerkschaften[538] sind nicht zu einer Äußerung aufgefordert worden. Da es sich jedoch um eine Frage allergrößter Bedeutung sowohl für das Reich wie auch für die deutsche Arbeitnehmerschaft handelt, besonders auch für den gewerkschaftlichen Abwehrkampf an der Ruhr, sehen sich die unterzeichneten Gewerkschaften veranlaßt, Ihnen, Herr Reichskanzler, ihre Meinung zu unterbreiten.

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Abgedruckt als Dok. Nr. 168.

Wir erkennen an, daß die Stellungnahme der Industrie endlich die grundsätzliche Zustimmung zum Gedanken der Sachwerterfassung bringt. Diese Zustimmung wird aber nahezu wirkungslos durch die außenpolitischen und innerpolitischen Voraussetzungen, die die Industrie daran knüpft. Auf die außenpolitischen Voraussetzungen versagen wir uns aus naheliegenden Gründen gegenwärtig einzugehen. Die innerpolitischen Voraussetzungen scheinen uns das Verhältnis der Wirtschaft zum Staate völlig zu verkehren. Die Industrie versucht hier mit dem Staate als unabhängige Macht zu verhandeln und stellt Forderungen, wo es sich darum handelt, die Bürgerpflichten gegen den Staat zu erfüllen. Die Haltung der Industrie läßt den Schluß zu, daß sie das Gesamtproblem der Reparation über den Staat hinweg von Industrie zu Industrie lösen will2. Die Staatsautorität müßte unerträglich geschwächt werden, wenn die Reichsregierung sich auf Bedingungen des Reichsverbandes einließe. Die Sachwerterfassung kann nur auf dem Wege der gesetzlichen Regelung verwirklicht werden. Die Beschreitung dieses Weges wird die uneingeschränkte Unterstützung der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerschaft finden. Die Forderung der grundsätzlichen Fernhaltung des Staates von der privaten Gütererzeugung und -verteilung würde Zustände wiederbringen, wie sie vor 80 Jahren in der Wirtschaft herrschten. Das heißt, es würde lediglich Profitstreben der Antriebsmotor der Wirtschaft sein und gemeinwirtschaftliches Denken vollständig ertötet werden. Es ist für uns unmöglich, über die Preisgabe des Achtstundentages, Aufhebung aller Entlassungsbeschränkungen und die anderen in dieser Richtung erhobenen Forderungen des Reichsverbandes zu verhandeln.

2

Am 4. 6. vermerkt Kempner für StS Hamm: „Die Tendenz des RdI, insbesondere von Geheimrat Bücher, geht dahin, unter allen Umständen an etwaigen internationalen Verhandlungen über die Reparation teilzunehmen. Wie mir erzählt wird, ist Bücher soweit gegangen, verschiedene Industrielle fremder Länder wissen zu lassen, am zweckmäßigsten sei es, die verschiedenen Regierungen bei den Verhandlungen auszuschalten und über Höhe und Sicherung der Forderungen von Industrie zu Industrie zu verhandeln. Ich kann die Richtigkeit dieser Angabe nicht nachprüfen.“ (R 43 I /37 , Bl. 290).

Das Verlangen, die Reichs- und Staatsbetriebe auf die Höhe der vollen Leistungsfähigkeit zu bringen, ist eine alte Forderung der Gewerkschaften, und wird daher von uns unterstützt. Es darf aber kein Zweifel daran bestehen, daß für die unterzeichneten Spitzenverbände eine Privatisierung dieser Betriebe ausgeschlossen ist. Aus diesem Verlangen der Industrie ergibt sich schließlich ihr Verzicht auf die bisherige Forderung, daß namentlich Reichsbahn und Post unter Außerachtlassung ihrer eigenen Rentabilität die Interessen der Privatwirtschaft berücksichtigen müssen. Auch das stellen wir fest. Selbst bei Verwirklichung jenes Verlangens der Industrie dürfte die Erzielung der von ihr angenommenen Erträgnisse der Reichs- und Staatsbetriebe für absehbare Zeit nicht möglich sein. Zudem geht dieser Überschätzung der Leistungsfähigkeit der Reichs- und Staatsbetriebe als Hilfsbetriebe der Wirtschaft eine auffallende[539] Unterschätzung der Leistungsfähigkeit der gesamten privaten deutschen Wirtschaft parallel3. Das Schreiben der Industrie läßt erkennen, daß sie den Blick vornehmlich auf die Schonung der Privatwirtschaft und des Privatvermögens richtet und daß sie unberücksichtigt läßt, daß die Erhaltung dieses Besitzes von der Erhaltung des Staates und seiner Wirtschaft abhängt. Nur so erklärt sich die Haltung der Industrie, die den Eindruck erweckt, als ob sie dem Reiche Bedingungen auferlegen könnte. Eine Herausforderung aber ist das Verlangen, daß „Regierung und Volk sich zu derartigen Grundsätzen“ sowie zu deren „sofortiger Verwirklichung“ bekennen sollen.

3

Am 2. 6. übermittelt Botschafter Lucius dem RK aus Den Haag ein Telegramm des Industriellen v. Thyssen-Bornemisza, in dem es u. a. heißt: „Das Angebot RdI halte ich innen- wie außenpolitisch für großen Fehler. Die Gründe habe ich Außenminister auseinandergesetzt. Als Mitbesitzer eines der großen Wirtschaftskonzerne Deutschlands abrate ich dringend, aufgrund dieses Vorschlags ein Angebot zu machen. Das Ausland wird niemals verstehen, daß der wirtschaftlich schwächere Teil, nämlich das Reich mit seinen Bahnen usw., mehr leisten soll als Industrie, Landwirtschaft, Schiffahrt, Handel usw. Wenn man sich auf Zahlen festlegen will, so würde ich das umgekehrte Verhältnis nehmen, ⅓ das Reich und 2/3 Industrie, Landwirtschaft usw.“ (AA Büro RM 5, Reparationen Bd. 13). Im dt. Memorandum vom 7. 6. werden Garantieleistungen der Reichsbahn und der privaten Wirtschaft in Höhe von je 10 Mrd. GM angeboten, die ab 1.7.27 mit 5% zu verzinsen sind, also eine Jahresleistung von je 500 Mio GM sicherstellen (Ursachen und Folgen, Bd. V, S. 146).

Wir vermissen in dem Schreiben des Reichsverbandes den Willen zu ausreichender Steuerleistung. Er wäre umso nötiger, als die Arbeitnehmerschaft es nicht verstehen kann, daß sie bei der Besteuerung mit dem vollen Geldwerte erfaßt wird, während Industrie, Handel und Landwirtschaft infolge der Geldentwertung nach wie vor nur geringe Bruchteile der vom Gesetzgeber beabsichtigten Steuerleistung aufbringen. Wir empfinden es als unerträglich, daß die Industrie ihre wirtschaftliche Macht durch Stellung von Bedingungen bei Erfüllung von Staatsnotwendigkeiten auszunutzen sucht. Die Volkskreise, die hinter den von den unterzeichneten Spitzenverbänden vertretenen Gewerkschaften stehen, erklären mit aller Deutlichkeit, daß sie von Regierung und Reichstag eine Verteilung der Reparationslasten erwarten, die vor allem die großen fundierten und unfundierten Vermögen zur Deckung heranzieht.

Wie die Spitzengewerkschaften zu den durch das Schreiben des Reichsverbandes aufgerollten Fragen im einzelnen stehen, ersehen Sie, Herr Reichskanzler, aus der beigefügten Anlage4.

4

In der siebenseitigen Anlage wird die Kritik der Gewerkschaften an den Forderungen der Industrie im einzelnen erläutert; resumierend heißt es: „Erwägt man diese Forderungen im Zusammenhange, so besagen sie nichts anderes als: staatlicher Zwang auf die Arbeitnehmer zur vollen Einsetzung der Arbeitskraft für quantitative und qualitative Hebung der Produktion durch gesetzliche Verpflichtung zu mehr als achtstündiger Tagesarbeit, unterstützt durch unbeschränktes Entlassungsrecht der Arbeitgeber, die dann durch Mehrarbeit und Hunger die Verzinsung der dem Ausland geschuldeten Milliarden aufzubringen hätten. Mit dem Versuch der Durchführung einer solchen Forderung müßten unabsehbare soziale und wirtschaftliche Kämpfe entbrennen. Denn die Gewerkschaften könnten eine solche Entrechtung der Arbeitnehmer niemals dulden! Die Lebenshaltung der arbeitenden Schichten ist schon heute um ein ganz beträchtliches unter den früheren Lebensstandard gesunken und bewegt sich mit wenigen Ausnahmen an der Grenze der nackten Existenzfristung. Dieser Zustand ist untragbar aus innerpolitischen wie auch aus außenpolitischen Gründen! Auch das Ausland kann es auf die Dauer nicht ertragen, daß im Herzen Europas ein 60-Millionen-Volk mit einer so tief stehenden Lebenshaltung seine Waren auf den Weltmarkt wirft. […] Zusammenfassend erklären wir, daß in dem Schreiben des Reichsverbandes die Grundlage für die Lösung des Gesamtproblems der Reparation nicht gegeben ist.“

Eine Hinzuziehung der Gewerkschaften zu den weiteren Beratungen des dt. Reparationsangebots erfolgt nicht. Am 7. 6. bestätigt der RK den Eingang des Schreibens und fährt fort: „Des näheren auf die verschiedenen in ihrem Schreiben wie im Schreiben des RdI geltend gemachten Gesichtspunkte einzugehen, darf ich mir in diesem Zeitpunkte versagen, da die Regierung hierzu bei der gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Durcharbeitung des Problems Stellung zu nehmen Gelegenheit haben wird.“ (R 43 I /37 , Bl. 292). Ähnlich unverbindlich antwortet der RK am 4. 7. auch dem RdI und betont dabei, daß die RReg. „von bestimmten Voraussetzungen, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Staat – Wirtschaft ausgehe, wie sie in der Pressemitteilung [Schluß von Anm. 3 zu Dok. Nr. 169] umschrieben sind.“ (R 43 I /37 , Bl. 306). Die beiden Antwortschreiben Cunos folgen einer Anregung Kempners vom 4. 6. (R 43 I /37 , Bl. 374).

Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund

Rud. Wissell

Allgemeiner freier Angestelltenbund

Aufhäuser

Süß

Allgemeiner Deutscher Beamtenbund

Falkenberg

Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-,

Angestellten- und Beamten-Verbände (H. D.)

Gustav Hartmann

 

Gustav Schneider

Hugo Scaruppe

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