1.1.3 (lut1p): Innenpolitik 1925

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 1.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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Innenpolitik 1925

Tiefgreifende Ereignisse und Veränderungen kennzeichnen das Jahr 1925 aber nicht nur im Bereich der auswärtigen, sondern auch der inneren Politik als eines der entscheidungsreichsten der Weimarer Republik. Zum ersten Male übernahmen jetzt deutschnationale Politiker Mitverantwortung in der Reichsregierung und zum ersten Male wurde – nach dem plötzlichen Tode Friedrich Eberts (28. 2.) – die Volkswahl des Reichspräsidenten abgehalten. Hinzu traten bemerkenswerte Leistungen auf dem Felde der Finanz- und Sozialpolitik: Beginnend mit der Steuerreform des Reichsfinanzministers v. Schlieben – neben der Erzbergerschen Finanzreform von[XLV] 1919 wichtigste Etappe in der Entwicklung des Steuerwesens jener Zeit – über die Regelung der Aufwertungsfragen bis hin zur Arbeitslosenversicherung wurden Neuordnungen in Angriff genommen, die lange Zeit fast unverändert bestehen blieben und in rechtlicher, begrifflicher und technischer Hinsicht noch nach 1945 wertvolle Grundlagen bildeten für neue Gesetzgebungs- und Organisationssysteme.

Während der langwierigen Auseinandersetzung um die Wahl des neuen Reichspräsidenten wurde auch die Reichsregierung erhöhten Belastungen ausgesetzt. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es jetzt, die kontinuierliche Mitarbeit der zunehmend im Wahlkampf engagierten Koalitionsfraktionen sicherzustellen72. Größere Unterbrechungen der laufenden Regierungsarbeiten traten allerdings nur in den unmittelbar nach dem Tode Eberts folgenden Tagen ein, in denen das Kabinett die Gestaltung der Trauerfeiern und die Frage der Stellvertretung des Reichspräsidenten erörterte. Dabei wurde zunächst die Auffassung vertreten, daß Reichskanzler Luther die Geschäfte des Staatsoberhaupts, die er gemäß Artikel 51 der Reichsverfassung bereits am Tage der Erkrankung Eberts übernommen hatte, bis auf weiteres fortführen sollte. Als aber wenig später führende Vertreter von SPD und DDP hiergegen unter Hinweis auf mögliche außenpolitische Komplikationen Bedenken erhoben, war der Kanzler sofort bereit, die Regelung der Stellvertreterfrage in das Ermessen des Reichstags zu stellen. Dieser bestimmte daraufhin durch Initiativgesetz vom 10. März den Reichsgerichtspräsidenten (Simons) zum Stellvertreter des Reichspräsidenten73.

72

Dok. Nr. 41, P. 3a; 42, P. 2; 51; 55; 60, dort bes. Anm. 7.

73

Dok. Nr. 28, P. 7; 32; 33; 34; 35; 36; 38, P. 15; 41, P. 3b; 42, P. 8.

In den Wochen des Wahlkampfes betonte Luther wiederholt mit besonderem Nachdruck, daß die Reichsregierung streng im Sinne der „verfassungsmäßig gebotenen Zurückhaltung“ verfahren werde. Er fügte aber stets einschränkend hinzu, daß er selber nicht darauf verzichten werde, in den Kandidatenstreit vermittelnd einzugreifen und gewissen Kandidaturen entgegenzuwirken, „die nach seiner amtlichen Überzeugung die Interessen des Reiches gefährden könnten“. Als dringende Verpflichtung erschien ihm solches Bemühen vor allem nach der überraschenden Nominierung des Feldmarschalls v. Hindenburg, die einen Teil der westlichen Auslandspresse zu überaus kritischen Stellungnahmen herausgefordert hatte. In der Überzeugung, daß die hier drohenden inneren und äußeren Gefahren nur durch Aufstellung eines von weiten Bevölkerungskreisen getragenen Kandidaten abzuwenden wären, bat er den Stellvertreter des Reichspräsidenten, an die Hauptkontrahenten des zweiten Wahlganges, Marx und Hindenburg, mit der Aufforderung zum freiwilligen Verzicht heranzutreten und sich selber als Sammelkandidaten zur Verfügung zu stellen. Simons reagierte jedoch mit äußerster Skepsis; er hielt es für ausgeschlossen, daß Hindenburg, der ihm einmal öffentlich Landesverrat vorgeworfen habe, zu seinen Gunsten auf die Kandidatur verzichten werde74.

74

Dok. Nr. 47; 64; 65; 69. Vgl. auch Luther, a.a.O., S. 331 f.

[XLVI] Der Amtsantritt des neugewählten Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg vollzog sich, soweit das Kabinett betroffen war, ganz ohne die erwarteten Schwierigkeiten. Nach ersten Kontaktgesprächen in Hannover, die den Formalitäten der Amtseinführung, der Frage einer politischen Amnestie75 und außenpolitischen Problemen gewidmet waren, konnte Luther in Berlin berichten, daß Hindenburg zwar gewisse Bedenken gegen die deutsche Sicherheitsinitiative erhoben habe, doch wolle er weder hieraus noch aus der Befugnis des Reichspräsidenten, den Kanzler zu entlassen, irgendwelche praktischen Konsequenzen ziehen. Er wolle „lediglich konstitutionell“ regieren und habe sich damit einverstanden erklärt, daß die Reichsregierung in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung unverändert bestehen bleibe76.

75

Zur diesbez. Kabinettsberatung s. Dok. Nr. 11; 15; 80, P. 1; 84; 97, P. 1; 100; 103, P. 1; 119, P. 1; 122, P. 8.

76

Dok. Nr. 77; 84.

Etwa in den gleichen Tagen fanden im Plenum des Reichstages erste Beratungen über die Steuervorlagen der Reichsregierung statt. Die wichtigsten dieser Entwürfe waren vom Finanzministerium kurz nach der Regierungsbildung im Januar 1925 fertiggestellt und wenige Wochen später von Kabinett und Reichsrat fast unverändert verabschiedet worden77. Ihre allgemeine Zielsetzung lag in der Ablösung der durch die Steuernotverordnungen 1923/24 geschaffenen provisorischen Regelungen und in der Anpassung der steuerlichen Belastung an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse. Es waren Reformen beabsichtigt, die, wie Luther und v. Schlieben bei verschiedener Gelegenheit im Reichstag betonten, eine „systematische, einheitliche, wirtschaftlich richtige und sozial gerechte Besteuerung“ ermöglichen78, steuerliche Belastungen für Produktion und Wirtschaft abbauen, die Kapitalbildung erleichtern und Deutschland instandsetzen sollten, die Reparationslasten besser tragen zu können79.

77

Dok. Nr. 7; 12, P. 4; 16, P. 1; 22, P. 3; 70, P. 1; 85, P. 1.

78

Luther in der Regierungserklärung am 19.1.25, s. RT-Bd. 384, S. 95 .

79

Schlieben vor dem RT am 30.4.25, s. RT-Bd. 385, S. 1486 .

Einer der problematischsten und in der Öffentlichkeit viel umstrittenen Vorschläge des Reichsfinanzministeriums war in dem sogenannten Steuerüberleitungsgesetz enthalten, welches Fragen der Einkommens- und Körperschaftsbesteuerung für 1924 und die Modalitäten der Vorauszahlung für 1925 bis zur erstmaligen Veranlagung nach den neuen Gesetzen regeln sollte. Da während des Jahres 1924 eine ordentliche Veranlagung für diese Steuern nicht stattgefunden hatte, die Vorauszahlungen vielmehr nach äußeren Merkmalen (Vermögen, Umsatz) grob bemessen worden waren, bestand nach Ansicht des Finanzministers die Gefahr, daß „eine größere Anzahl von hunderten von Millionen“ an Rückzahlungen fällig würden, sofern man – wie in der Zweiten Steuernotverordnung vorgesehen – die Veranlagung nachträglich durchführen würde. Unter Hinweis darauf, daß in erster Linie Länder und Gemeinden zu derartigen Rückzahlungen verpflichtet wären, da ihnen der weitaus größte Teil der 1924 eingegangenen Steuersummen zugeflossen sei, eine solche Verpflichtung aber zu unüberwindlichen[XLVII] Schwierigkeiten bei der Behandlung des Finanzausgleichs führen müsse, hatte v. Schlieben die Auffassung vertreten und im Kabinett auch ohne weiteres durchsetzen können, daß, abgesehen von besonderen Härtefällen, nachträgliche Veranlagungen und Rückerstattungen für 1924 unterbleiben sollten. Obwohl fast alle Koalitionsparteien noch zu Beginn des Jahres 1925 mehr oder weniger umfassende Nachveranlagungen gefordert hatten, stimmte der Reichstag diesen Vorschlägen bei Annahme des Steuerüberleitungsgesetzes in den letzten Maitagen mit großer Mehrheit zu80.

80

Dok. Nr. 7; 12, P. 4.

Bedeutende rechtliche Neuerungen erstrebte der Entwurf eines Bewertungsgesetzes, der verschiedentlich als Kernstück der Steuerreform bezeichnet wurde. Er wollte für die Bewertung von Vermögensgegenständen, insbesondere von landwirtschaftlichen sowie gewerblichen Grund- und Betriebsvermögen neue und im ganzen Reiche einheitliche Normen setzen. Der Entwurf, der darüber hinaus die Einrichtung neuer Steuerorgane vorsah, die unter Mitwirkung von Beamten der Länder und Gemeinden die Bewertung durchführen sollten, fand im Reichstag allgemeine Zustimmung81.

81

Dok. Nr. 7.

Dagegen nahm die Legislative bei den übrigen Steuervorlagen – allerdings nur in der Tarifgestaltung – erhebliche Änderungen vor. So wurde die ursprünglich beabsichtigte Erhöhung der Bier- und Tabaksteuer (um 100 bzw. 25%), deren Notwendigkeit v. Schlieben im Kabinett mit größeren Defiziten in den kommenden Rechnungsjahren begründet hatte, zuerst auf Initiative des Zentrums, dann auf Drängen der BVP stufenweise herabgesetzt, so daß die endgültige Fassung nur noch Erhöhungen um 25 bzw. 20% vorsah. Sehr breiten Raum nahmen außerdem die Diskussionen über die neuen Lohn- und Einkommensteuersätze ein, wobei die Forderung von SPD und Zentrum nach starker Anhebung des lohnsteuerfreien Betrages, den die Reichsregierung in Höhe von monatlich 60 RM unbedingt beibehalten wollte, zunächst im Mittelpunkt stand. Da die Vorlage in dieser Beziehung auch von den übrigen Fraktionen als unsozial bezeichnet wurde, lenkte v. Schlieben nach längerem Zögern ein und stimmte der Erhöhung des Freibetrages auf 80 RM zu82.

82

Der lohnsteuerfreie Betrag wurde im Dezember 1925 auf monatlich 100 RM erhöht. Die RReg. entsprach damit einer Bestimmung des Gesetzes über die Beschränkung der Einnahmen aus der Lohnsteuer vom 3.9.25 (sogen. Lex Brüning). S. Dok. Nr. 229, P. 2.

Eine andere wesentliche Änderung betraf den Spitzensatz der progressiv gestalteten Einkommensteuer, der nach Ansicht des Reichsfinanzministeriums 33⅓% (gegenüber 60% im alten Reichseinkommensteuergesetz) nicht übersteigen sollte. Er wurde nach schwierigen Verhandlungen gemäß einem Antrag der Zentrumspartei auf 40% heraufgesetzt. Mit Hilfe der hieraus erwarteten Mehreinnahmen sollte eine gleichzeitig vorgenommene Milderung der Progression in den unteren und mittleren Einkommensstufen ausgeglichen werden.

[XLVIII] Besonders hart wurde schließlich um die Bemessung der Umsatzsteuer gerungen. Nachdem die Reichsregierung eine Senkung des geltenden Satzes (1½%) lange hartnäckig abgelehnt und die Fraktionen wiederholt darauf hingewiesen hatte, daß sie bindende Beschlüsse „nicht ertragen könne“, ehe nicht deutlich erkennbar geworden sei, wie sich Einnahme- und Ausgabeseite des Etats entwickeln würden, war sie angesichts des zunehmenden Drängens aller Parteien dennoch bald genötigt, die Steuer auf 1¼% herabzusetzen. Mit bemerkenswerter Schärfe lebte die Auseinandersetzung jedoch in den ersten Augusttagen wieder auf, als das Zentrum, von den Christlichen Gewerkschaften unter starken Druck gesetzt, den Kanzler vor die Alternative stellte, entweder einer nochmaligen Senkung zuzustimmen oder aber eine größere Anzahl von Lebensmitteln von der Umsatzsteuer völlig freizustellen. Luther, dem in diesen Tagen alles daran gelegen war, die parlamentarische Verabschiedung der Zoll- und Steuervorlagen vor Beginn der Sommerpause durchzusetzen, gab in eilends einberufenen Kabinetts- und Parteiführerbesprechungen wiederum nach, so daß unmittelbar vor den abschließenden Reichstagsberatungen die Ermäßigung der Steuer auf 1% beschlossen werden konnte83.

83

Dok. Nr. 12, P. 4; 16, P. 1; 22, P. 3; 63; 99; 136; 137, P. b; 139, P. 1; 142, P. e.

Kaum minder schwierig gestalteten sich die parlamentarischen Beratungen über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Zwar wurde die Absicht der Regierung, das bestehende Finanzausgleichssystem der Dritten Steuernotverordnung (14. Februar 1924) grundsätzlich aufrechtzuerhalten und darüber hinaus den Ländern und Gemeinden schon im Rechnungsjahre 1926 das lange erstrebte Recht der selbständigen Erhebung von Anteilen an der Einkommen- und Körperschaftsteuer (Zuschlagsrecht) wieder einzuräumen, im Reichsrat durchaus begrüßt. Jedoch erhoben die Länder sogleich scharfen Widerspruch gegen die vorgeschlagene Reduzierung ihrer Gesamtbeteiligung an den großen Überweisungssteuern84 und erklärten, eine solche Regelung werde ihre Bewegungsfreiheit zur Erfüllung sozialer und kultureller Aufgaben erheblich einengen. Demgegenüber machte die Reichsregierung geltend, daß sie im Hinblick auf die wachsenden Reparationsverpflichtungen des Reiches zur Ausschöpfung aller möglichen Einnahmequellen gezwungen sei, und sah sich, als der Reichsrat auf seinem ablehnenden Standpunkt beharrte, zur Einbringung von Doppelvorlagen im Reichstag veranlaßt. Die Hoffnung der Regierung, auf diesem Wege eine den Reichsinteressen entgegenkommende Lösung rasch erzwingen zu können, wurde jedoch bald enttäuscht. Denn nachdem der Steuerausschuß des Reichstages den Regierungsvorschlägen hinsichtlich der neuen Länderbeteiligungen zugestimmt, zugleich aber beschlossen hatte, das Zuschlagsrecht der[XLIX] Länder und Gemeinden erst im Rechnungsjahre 1927 zuzulassen, begann sich angesichts sofortiger scharfer Gegenvorstellungen einiger Landesregierungen immer deutlicher die Gefahr eines Reichsratseinspruches abzuzeichnen. Kurz vor der abschließenden Beratung im Plenum des Reichstages entschloß sich daher Luther, einer Anregung des Zentrumsabgeordneten Brüning folgend, den Ländern Ausgleichszahlungen des Reiches für den Fall anzubieten, daß ihre Anteile an der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer sich auf insgesamt weniger als 2,1 Milliarden RM jährlich belaufen sollten. Die Landesregierungen sahen daraufhin von weiteren Protesten ab, dies offenbar nicht zuletzt deshalb, weil die Koalitionsparteien inzwischen übereingekommen waren, die Geltungsdauer des Finanzausgleichs nur bis 1927 zu befristen85.

84

Von der Einkommen- und Körperschaftsteuer sollten die Länder ab 1.10.25 75% (Dritte Steuernotverordnung: 90%) und von der Umsatzsteuer 30% (Dritte Steuernotverordnung: 20%), ab 1.4.26 20% erhalten. In der Endfassung des Finanzausgleichsgesetzes vom 10.8.25 (RGBl. I, S. 254 ) ist demgegenüber nur die Umsatzsteuerbeteiligung geringfügig angehoben, und zwar auf 35% für die Zeit ab 1.10.25 und auf 30% ab 1.4.26.

85

Dok. Nr. 28, P. 2; 41, P. 1b; 42, P. 13; 70, P. 1; 99; 124; 129, P. 2; 132; 136; 139, P. 1.

Ein anderer höchst komplizierter Gegenstand der Kabinettsberatung im ersten Halbjahr 1925 war die Aufwertungsfrage. Sie hatte nach dem Inkrafttreten der provisorischen und weithin als unzulänglich empfundenen Bestimmungen der Dritten Steuernotverordnung (Aufwertung von Hypotheken, Industrieobligationen und ähnlichen Vermögensanlagen, welche durch die Inflation entwertet waren, auf 15% des Goldmarkbetrages) lange im Mittelpunkt einer scharfen öffentlichen Kontroverse gestanden, in der die Meinungen insbesondere über den Umfang einer künftig vorzunehmenden Höherauswertung weit auseinandergegangen waren. Darin allerdings stimmten die Verbände der Aufwertungsgeschädigten und fast alle Fraktionen zu Beginn des Jahres 1925 weitgehend überein, daß im Zuge einer umfassenden Neuordnung der Aufwertungsgesetzgebung auch die Ablösung der Anleihen des Reiches und der Länder (u. a. Kriegsanleihen) geregelt werden müsse.

 

Als die neugebildete Reichsregierung – dem beharrlichen Drängen des Aufwertungsausschusses nachgebend – Mitte Februar in die Beratung über den Hypothekenaufwertungsentwurf des Reichsjustizministers eintrat, prallten auch hier die Gegensätze hart aufeinander. Schwere Bedenken gegen jede über den Rahmen der Dritten Steuernotverordnung hinausgehende Aufwertungsbelastung der Wirtschaft äußerten sogleich Ernährungsminister Graf v. Kanitz, der die Entscheidung dieser Frage ganz dem Reichstag überlassen wollte, sowie Wirtschaftsminister Neuhaus und Reichsbankpräsident Schacht, beide mit dem Hinweis darauf, daß eine höhere Aufwertung die Leistungs- und Kreditfähigkeit der durch den Dawesplan erheblich vorbelasteten Industrieunternehmen stark gefährden müsse. Demgegenüber erklärte Frenken, der in seiner Vorlage einen Aufwertungssatz für erststellige Hypotheken von 25% des Goldmarkbetrages, für Industrieobligationen die Beibehaltung der geltenden Regelung (15%) vorgeschlagen hatte, daß die Parteien nach seiner Überzeugung ein nicht wesentlich über den alten Sätzen liegendes Angebot der Regierung schroff zurückweisen würden, und Luther fügte hinzu, man werde ohne echte Zugeständnisse nicht in der Lage sein, „dem gegenwärtig sehr starken Streben nach Individualaufwertung“[L] mit größerem Nachdruck entgegenzutreten. Diesen politischen und taktischen Überlegungen konnten sich die Wirtschaftsressorts angesichts der immer deutlicher werdenden und allzuhoch gespannten Erwartungen der Fraktionen nicht lange entziehen und so wurde Mitte März beschlossen, alsbald Koalitionsverhandlungen auf der Grundlage der Frenkenschen Vorschläge aufzunehmen.

Weit weniger kontrovers verliefen dagegen die Kabinettsberatungen über die Behandlung der öffentlichen Anleihen. Dabei wurde unter fast völliger Aufrechterhaltung der diesbezüglichen Vorlage des Reichsfinanzministers in Aussicht genommen, die alten Reichsanleihen gegen sogenannte „Anleiheablösungsschuld des Deutschen Reiches“ im Nennwertverhältnis von 1000 : 50 umzutauschen und den Besitzern von „Alten Reichsanleihen dauernden Besitzes“ bestimmte Vergünstigungen (Tilgung durch Prämienauslosung, Rente) einzuräumen86.

86

Dok. Nr. 5, P. 1 u. 26; 18; 24, P. 8; 41, P. 3a; 46, P. 1; 48, P. 1.

Bei den wenig später eingeleiteten Parteiführerbesprechungen war es das Bestreben des Kanzlers, einen möglichst weitgehenden Konsensus für die kommenden Reichstagsverhandlungen herbeizuführen. Welch große Schwierigkeiten dem aber noch entgegenstanden, zeigte schon die erste Zusammenkunft, als die Fraktionen derart einschneidende Änderungen an den Aufwertungsentwürfen vorzunehmen wünschten, daß Luther betroffen feststellen mußte, die Erfüllung aller dieser Wünsche werde das „ganze Regierungsgebäude“ vollkommen umwerfen. Mit besonderer Schärfe wandte er sich unter anderem gegen die Forderung von DNVP und DVP nach Anhebung des Aufwertungssatzes der Obligationen und bezeichnete die überraschende Anregung der DVP, anstelle der schematischen Hypothekenregelung im Interesse der Übersichtlichkeit des Grundbuches „eine gewisse Individualaufwertung“87 vorzusehen, als völlig unerträglich, weil ein solches Vorgehen „Millionen von richterlichen Entscheidungen“ erforderlich machen und alle Möglichkeiten der Kreditaufnahme auf Jahre hinaus blockieren würde. Das aber bedeute den „Selbstmord des deutschen Volkes“ und könne nur ohne ihn als Reichskanzler verwirklicht werden. Die Rücktrittsdrohung als Disziplinierungsmittel – im Verlauf der wochenlangen Auseinandersetzungen mehrfach wiederholt – hatte zunächst allerdings noch keinen durchschlagenden Erfolg. Denn obwohl die Parteien nun die beiden Aufwertungsentwürfe als „geeignete Grundlage“ akzeptierten und darüber hinaus erklärten, in Zukunft keine Anträge stellen zu wollen, ohne sich untereinander und mit der Regierung restlos abgestimmt zu haben, wurde die Vereinbarung in der Folgezeit durch selbständiges Vorgehen einzelner Abgeordneter immer wieder in Frage gestellt. Kurz nach Beginn der Reichstagsberatungen strebte Luther[LI] daher ein neues und noch verbindlicheres Übereinkommen mit den Fraktionen an. In den ersten Maitagen forderte er sie in ultimativer Weise auf, mit ihm alle Änderungswünsche nochmals durchzusprechen und sich dann unterschriftlich auf das erreichte Ergebnis zu verpflichten. Zwar mußte das Kabinett den Parteien hierbei weit entgegenkommen (u. a. Anhebung des Aufwertungssatzes der Obligationen und aller Hypothekenarten auf 25%, Erhöhung der jährlichen Tilgungsprämie bei „Alten Reichsanleihen dauernden Besitzes“), doch konnte der endgültigen Kompromißvereinbarung schließlich eine derart bindende Form gegeben werden, daß bis zur parlamentarischen Verabschiedung der beiden Aufwertungsgesetze (15./16. Juli 1925) keine vergleichbaren Widerstände mehr zu überwinden waren88.

87

Es waren dies Gedanken, wie sie im gleichen Zeitraum – allerdings in viel schärferer Form – von dem DNVP-Abg. Best vertreten wurden (Dok. Nr. 24, Anm. 21). Sie hatten in der deutschnationalen Reichstagsfraktion schon Ende März 1925 fast ganz an Boden verloren. Vgl. die Mitteilungen Schieles in der Parteiführerbesprechung am 18. 3. (Dok. Nr. 51).

88

Dok. Nr. 51; 53; 55; 57, P. 3; 61; 73; 76, P. 1 u. 2; 80, P. 3; 82; 83; 86; 109, P. 4; 117, P. 1.

Einen wesentlich geringeren Teil seiner Arbeitskraft widmete das Kabinett den sozialpolitischen Angelegenheiten. Im Vordergrund standen hier Bemühungen um den Aufbau einer reichsgesetzlichen Arbeitslosenversicherung und das vielumstrittene Problem der Arbeitszeit. Sozialpolitisch weniger bedeutungsvoll waren demgegenüber verschiedene Verbesserungen der Erwerbslosenfürsorge, die das Kabinett in enger, aber nicht immer konfliktloser Zusammenarbeit mit den Koalitionsparteien vornahm89. Abgesehen von der im Januar 1925 angeordneten Gleichstellung der weiblichen und männlichen Unterstützungsberechtigten dienten sie fast ausschließlich der Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse.

89

Dok. Nr. 5, P. 3; 236, P. 4; 245; 247, P. 1; 248.

In der Arbeitszeitfrage konnte das Kabinett an die Vorarbeiten der vorangegangenen Reichsregierung unmittelbar anknüpfen. Seit dem Herbst 1924 war im Arbeitsministerium eine Verordnung vorbereitet worden, die in Erfüllung einer in der Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923 gegebenen Zusicherung den Schwerstarbeitern in Hochofenbetrieben und Kokereien, deren tägliche Arbeitszeit im bestehenden Zweischichtensystem 12 Stunden betrug, den Achtstundentag garantieren sollte. Die geschäftsführende Regierung Marx hatte sich zur sofortigen Inkraftsetzung einer solchen Bestimmung jedoch nicht durchringen können, sondern beschlossen, zunächst die Stellungnahme des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats einzuholen. Obwohl dieser sich auf seiner Januartagung nur mit äußerst knapper Mehrheit für den Vorschlag des Arbeitsministeriums aussprach und zur gleichen Zeit die Arbeitgeberverbände scharfen Widerspruch gegen die Verordnung und die mit ihr verbundene Einführung des Dreischichtensystems zum Ausdruck brachten, entschloß sich Brauns, die Frage schon Mitte Januar 1925 der neugebildeten Reichsregierung vorzulegen.

Bei den sogleich aufgenommenen Kabinettsberatungen konnte Brauns seinen Standpunkt gegen die starken Bedenken des Wirtschaftsministers, der die Vorlage wegen der schlechten Ertragslage sämtlicher Hochofenwerke als „nicht erträglich“ bezeichnete, ohne besondere Schwierigkeiten durchsetzen. Nachdem er dem Kabinett versichert hatte, daß eine Ausdehnung der neuen[LII] Regelung auf andere Industriezweige nicht beabsichtigt sei, wurde die Verordnung mit Rücksicht auf die innenpolitische Lage als unumgänglich angesehen und daraufhin einstimmig angenommen90.

90

Dok. Nr. 2, P. 1; 31.

Erheblich schärferen Einwänden begegnete der vom Arbeitsministerium im Juni 1925 fertiggestellte Entwurf einer Arbeitslosenversicherung, der in enger Anlehnung an eine im ersten Reichstag nicht abschließend behandelte Gesetzesvorlage der Regierung Wirth beträchtliche organisatorische Änderungen vorsah. Im Unterschied zur geltenden Regelung der Erwerbslosenfürsorge, nach der die Fürsorgepflicht den Gemeinden übertragen war, sollten Träger der Versicherung nun die Landesarbeitslosenkassen werden. Als oberstes Aufsichtsorgan wurde das Reichsamt für Arbeitsvermittlung in Aussicht genommen. Eine bei diesem einzurichtende Reichsausgleichskasse sollte durch einen „Notstock“ und (nach dessen Erschöpfung) mit Hilfe von Reichsdarlehen den Spitzenausgleich im ganzen Reiche sicherstellen. Der Höchstsatz der von Arbeitnehmern und Arbeitgebern einzuzahlenden Beiträge war zunächst mit 3% des Grundlohnes vorgeschlagen, wurde aber auf Drängen des Wirtschaftsministers, der die lastensteigernde Wirkung besonders dieser Bestimmung scharf kritisierte, auf 2% herabgesetzt. Dagegen gründeten die Bedenken des Innenministers in erster Linie darauf, daß eine „Schwächung des Arbeitswillens“ eintreten müsse, wenn man, wie im Entwurf beabsichtigt, auf die Bedürftigkeitsprüfung des Arbeitslosen verzichten und diesen berechtigen würde, den Antritt einer nachgewiesenen, seiner Vorbildung und bisherigen Tätigkeit nicht entsprechenden Arbeit innerhalb eines Zeitraumes von acht Wochen nach Beginn der Unterstützung zu verweigern. Schiele stellte seine Bedenken offenbar zurück, nachdem ihm Brauns erwidert hatte, daß die Zahl der Unterstützungsempfänger sich nach den Erfahrungen der Erwerbslosenfürsorge stets in Übereinstimmung mit der Entwicklung des Arbeitsmarktes befunden habe, und nachdem beschlossen worden war, das Verweigerungsrecht auf sechs Wochen zu befristen. Wesentlich erleichtert wurde dem Kabinett die endgültige Zustimmung vermutlich auch durch die Versicherung des Arbeitsministers, daß die parlamentarische Erledigung der Vorlage nicht vor dem Frühjahr 1926 erwartet werden könne. Tatsächlich zogen sich die Verhandlungen in den gesetzgebenden Körperschaften noch viel länger hin, so daß die Arbeitslosenversicherung erst im Herbst 1927 zur Einführung kommen konnte91.

91

Dok. Nr. 126, P. 2; 147, P. 2.

In der zweiten Jahreshälfte 1925 bestimmten die außenpolitischen Entscheidungen in zunehmendem Maße das Bild der inneren Politik. Sie verdrängten trotz sich mehrender Anzeichen einer rasch heraufziehenden allgemeinen Wirtschaftskrise (Arbeitslosigkeit, Kapitalmangel, Firmenzusammenbrüche) schon ab Mitte September die wirtschafts- und finanzpolitischen Angelegenheiten nahezu völlig von den Tagesordnungen der Reichsregierung. Zu den wenigen Ausnahmen dieser Entwicklung gehörten verschiedene Bemühungen[LIII] des Kabinetts, die durch Preisverfall und hohe kurzfristige Verschuldung äußerst angespannte Lage der deutschen Landwirtschaft durch Kredite und Ausfallbürgschaften des Reiches zu erleichtern92, und die unmittelbar nach Verabschiedung der Zoll- und Steuergesetze begonnene Aktion zur Senkung der Verbraucherpreise.

92

Dok. Nr. 227; 229, P. 3; 247, P. 2; 244; 275.

Die Gründe, welche das Kabinett zur Einleitung von Preissenkungsmaßnahmen bewogen hatten, lagen einerseits in der Befürchtung, daß die Preise sich den neubeschlossenen Zollsätzen sofort anpassen würden, und andererseits in dem Bestreben, den im Verlauf der zollpolitischen Auseinandersetzungen zusehends nachdrücklicher gewordenen Lohnforderungen der Gewerkschaften entgegenzuwirken. Richtungweisend für das sogleich aufgestellte Aktionsprogramm war die Forderung des Kanzlers, daß die bevorstehende Senkung der Umsatzsteuer (1. 10.) in größtmöglichem Maße dem Verbraucher zugute kommen müsse. Letzteres und darüber hinausgehende weitere Preisermäßigungen glaubte man in erster Linie durch Verhandlungen mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft, durch schärfere Handhabung der Kartellbestimmungen, durch Verbilligung der Kredite aus öffentlichen Geldern und durch Ermäßigung der Bahn- und Posttarife erreichen zu können. Jedoch erwiesen sich alle diese Bemühungen bald als wenig wirkungsvoll. Zwar konnte der Wirtschaftsminister schon Ende September in öffentlichen Erfolgsberichten auf einige inzwischen eingetretene Verbilligungen (u. a. bei Textilien; Brot, Kartoffeln) hinweisen, der seit längerem andauernde starke Anstieg der Lebenshaltungskosten wurde dadurch aber nur vorübergehend aufgehalten. Als dann im Oktober und November deutlich wurde, daß in den Vereinigungen von Handel und Handwerk wenig Neigung bestand, den Absichten der Regierung entgegenzukommen, zahlreiche Verbände vielmehr fortfuhren, ihren Mitgliedern Geschäftsbedingungen und Preise vorzuschreiben, schien ein schärfer durchgreifendes Vorgehen unumgänglich geworden. Am 5. Dezember verabschiedete das Kabinett deshalb eine umfangreiche Gesetzesvorlage „zur Förderung des Preisabbaus“, die ihm (u. a. durch Änderung der Gewerbeordnung) wirksamere Eingriffsmöglichkeiten gegen Ringbildungen und Preisabreden geben sollte. Aber auch diese Initiative mußte nach langen und schwierigen Verhandlungen schließlich ergebnislos abgebrochen werden. Sie wurde von den parlamentarischen Vertretern des Handwerks, welche größere Teile der Vorlage als verfassungsändernd und als „Ausnahmegesetz gegen das Handwerk“ bezeichneten, entschieden abgelehnt und fand auch nicht die Zustimmung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats, der in einem Gutachten erklärte, daß den zweifellos großen Mißständen auf dem Gebiet des Submissionswesens und der Ringbildung „nur im Rahmen der allgemeinen Kartellgesetzgebung und in Übereinstimmung mit dieser entgegengewirkt werden“ dürfe. Angesichts solchen Widerstandes und offenbar auch deshalb, weil die Konjunktur- und Wirtschaftslage sich inzwischen wesentlich geändert hatte, zog das Kabinett die[LIV] Vorlage im Mai 1926 stillschweigend zurück und beschränkte sich darauf, den Ländern die Einrichtung von Preisprüfungsstellen bei den Handwerkskammern vorzuschlagen93.

93

Dok. Nr. 145 (Chefbesprechung); 146; 150, P. 1; 151; 154, P. 4; 163; 169; 219, P. 1; 233; 236, P. 2; 242, P. 1 u. 2244; 267; 294; 352.

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