1.2.2 (lut1p): Die Außenpolitik

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 1.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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[LVI] Die Außenpolitik

Im Frühjahr 1926 gewannen auf dem Felde der Außenpolitik drei Themenkreise erstrangige Bedeutung: das Bemühen um den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, der Abschluß eines deutsch-sowjetischen Neutralitäts- und Freundschaftsvertrages und die Bereinigung der Luftfahrtfrage. Von diesen Vorhaben wurden in der kurzen Zeitspanne der zweiten Regierung Luther nur die beiden letztgenannten durch vertragliche Vereinbarungen verwirklicht, das erstgenannte hingegen scheiterte an den vorerst unüberbrückbaren Gegensätzen, die im Völkerbund aus dem Problem der Ratserweiterung entstanden waren.

Als die Leitung der deutschen auswärtigen Politik zu Beginn des Jahres vorbereitende Schritte in Richtung auf den Völkerbund unternahm, hatten sich für eine krisenhafte Entwicklung in der Beitrittsfrage noch keine konkreten Anhaltspunkte ergeben. Deutschland konnte daher den kommenden Entscheidungen mit Zuversicht entgegensehen, zumal die wichtigen Voraussetzungen seiner reibungslosen Einbeziehung in den Völkerbund gesichert schienen: zum einen durch die positive Resonanz, welche die deutsche Forderung nach Einräumung eines ständigen Ratssitzes bei allen Mitgliedern des Rates gefunden hatte96, zum anderen durch die in London getroffene Vereinbarung der Locarnomächte, daß im März 1926 eine außerordentliche Völkerbundsversammlung allein zum Zweck der Aufnahme Deutschlands einberufen werden sollte97. Man war deshalb auf deutscher Seite in höchstem Maße unangenehm überrascht, als in den ersten Februartagen zwischen Briand und Chamberlain Übereinstimmung dahin erkennbar wurde, daß die vorgesehene Sonderversammlung auch über die Zuteilung eines ständigen Ratssitzes an Polen entscheiden müsse. Mit besonderer Empfindlichkeit reagierten Vertreter des Auswärtigen Amts vor allem auf die unerwartete Meinungsänderung des britischen Außenministers, der zur polnischen Ratskandidatur bis dahin eine teils ablehnende, teils unentschiedene Haltung eingenommen hatte. Es wurde von einem „schweren Schlag für die deutsche Politik“ gesprochen und die Befürchtung geäußert, daß der Einzug Polens in den Kreis der ständigen Ratsmitglieder zu einem unüberwindlichen Hindernis für die deutscherseits angestrebte Revision der Grenzen im Osten werden könnte.

96

Dok. Nr. 62, dort auch Anm. 18.

97

Vgl. Pol. Arch. des AA, Büro RM 18, Völkerbund, Bd. 7.

Nichtsdestoweniger befürwortete Stresemann die unverzügliche Absendung des deutschen Aufnahmegesuchs. Im Ministerrat am 8. Februar stellte er alle Bedenken zurück, einerseits wohl deshalb, weil er das Zustandekommen der Sondertagung nicht gefährden wollte, und andererseits, um weiteren unangenehmen Entwicklungen zuvorzukommen; denn er begründete die große Eilbedürftigkeit dieser Entscheidung vor allem damit, daß „allerlei Dunkles im Völkerbund vorgehe“ und das Streben nach allgemeiner Vermehrung der Ratssitze immer stärker zutage getreten sei. Er konnte sich damit auch mühelos durchsetzen, obwohl der Reichspräsident in einem Schreiben an den Kanzler[LVII] von übereilten Beschlüssen energisch abgeraten und zu berücksichtigen gebeten hatte, daß die alliierten Regierungen Deutschland in den Fragen der Besetzungsfristen und der Truppenreduzierung noch immer nicht zufriedenstellend entgegengekommen seien. Demgegenüber wurde im Kabinett der Standpunkt vertreten und im Antwortschreiben Luthers mit aller Entschiedenheit zum Ausdruck gebracht, daß Deutschland seinen Interessen nicht durch taktisches Zögern, sondern nur durch baldige Mitarbeit im Völkerbund am besten dienen könne.

Volle Zustimmung fand bei den letzten Kabinettsberatungen vor der Genfer Zusammenkunft ferner die Auffassung Stresemanns, daß die Aufnahme Polens in den Völkerbundsrat unter allen Umständen verhindert und deshalb auch dem spanischen und brasilianischen Verlangen nach Einräumung ständiger Ratssitze entgegengetreten werden müsse. Da die Reichsregierung den antipolnischen Akzent ihrer Verhandlungsposition jedoch nicht offen darlegen konnte, wurde beschlossen, den „formalen Gesichtspunkt in den Vordergrund zu schieben“ und zu erklären, daß auf der bevorstehenden Tagung nur Deutschland einen ständigen Sitz erhalten, der Rat in seiner sonstigen Zusammensetzung aber nicht geändert werden dürfe. Man erhoffte sich hierfür starke Rückendeckung von der schwedischen Regierung, die seit langem entschlossen war, jede über die Aufnahme Deutschlands hinausgehende Erweiterung des Rates durch ihr Veto abzuwehren98.

98

Dok. Nr. 264; 273; 282; 283; 284; 288; 299, P. 2; 309, P. 2.

Schon die ersten Genfer Besprechungen zwischen deutschen und anglo-französischen Staatsmännern offenbarten die schroffe Gegensätzlichkeit der beiderseitigen Standpunkte. Während Briand und Chamberlain die unmittelbare Berücksichtigung der spanischen und polnischen Anwartschaften dringend befürworteten, beharrten Luther und Stresemann entschieden darauf, daß die vorgeschlagene Ratserweiterung, abgesehen von der Zuteilung eines ständigen Sitzes an das neueintretende Deutschland, keinesfalls schon während der Sondertagung zur Erledigung kommen dürfe und schlugen die Einsetzung einer Kommission des Rates vor, welche bis zur Septembertagung des Völkerbundes Vorschläge zur Lösung der Ratsprobleme erarbeiten sollte. Trotz dieser eindeutigen Stellungnahme und der kaum verhüllten Drohung Stresemanns, das Aufnahmegesuch zurückzuziehen, wenn die Ratserweiterung jetzt beschlossen würde, nahmen die alliierten Außenminister unverzüglich Verhandlungen mit den übrigen Ratsmitgliedern in der angedeuteten Richtung auf. Es wurden dabei verschiedene, von deutscher Seite allerdings sogleich zurückgewiesene Lösungsmöglichkeiten erörtert, die sämtlich den Eintritt Polens als nichtständiges Ratsmitglied vorsahen.

Die Ablehnung aller dieser Lösungsvorschläge führte die deutsche Delegation in eine äußerst schwierige Lage, die erst allmählich überwunden werden konnte, nachdem der schwedische Außenminister Undén, der von seinem Standpunkt in der Ratserweiterungsfrage bis dahin noch keinen Schritt abgewichen war, am 14. März überraschend bekanntgegeben hatte, daß seine Regierung,[LVIII] weil sie den Zusammenbruch des Völkerbundes verhindern wolle, entschlossen sei, ihren nichtständigen Sitz zugunsten Polens niederzulegen. Zwar wurde auch diese Anregung von Stresemann als unbefriedigend zurückgewiesen; als aber britische Delegierte wenig später ergänzend vorschlugen, daß gleichzeitig zwei der nichtständigen Ratsmitglieder, nämlich Schweden und die Tschechoslowakei, den Rat verlassen und dafür Holland und Polen eintreten sollten, stimmten die Deutschen endlich zu.

Der mühsam herausgearbeitete Kompromiß blieb jedoch Episode; denn als die Sonderversammlung am 17. März zur abschließenden Beratung zusammentrat, legte Brasilien, schwer enttäuscht über das Scheitern seiner Bemühungen um einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat, sein Veto gegen den deutschen Ratssitz ein. Die Versammlung konnte daher nur beschließen, daß über den deutschen Aufnahmeantrag erst auf der ordentlichen Septembertagung entschieden werden könne99.

99

S. die Protokolle und Aufzeichnungen über die Genfer Verhandlungen der dt. Delegation während der außerordentlichen Tagung der Völkerbundsversammlung in: ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 145 ff. Vgl. auch Spenz, Die diplomatische Vorgeschichte des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund 1924–1926, S. 139 ff.

Die starken Sympathiekundgebungen der Bundesversammlung für Deutschland sowie das gemeinsame Schlußkommuniqué der Locarnomächte, in dem diese sich zur Fortführung der in Locarno begonnenen Verständigungspolitik verpflichtet hatten, machten es der Reichsregierung verhältnismäßig leicht, über das Genfer Fiasko zur Tagesordnung überzugehen. Nach kurzer Würdigung der Leistungen Luthers und Stresemanns, die in der Feststellung gipfelte, daß jetzt „eine Weltschuld gegen Deutschland“ bestehe, wandte das Kabinett sich der Frage zu, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen Deutschland an den Arbeiten der in Genf beschlossenen Kommission zum Studium der Ratsreform teilnehmen sollte. Es billigte einhellig den Vorschlag des Auswärtigen Amts, daß nur eine aktive und völlig gleichberechtigte, allerdings unter dem Vorbehalt der deutschen Entschließungsfreiheit anzukündigende Mitarbeit in Frage kommen könne. Als Richtlinie wurde der Delegation für die Studienkommission (v. Hoesch, Gaus) mitgegeben, den ständigen deutschen Sitz im Völkerbundsrat sicherzustellen und der Aufnahme Polens in den Kreis der ständigen Ratsmitglieder mit allem Nachdruck entgegenzuwirken. Die Kommission begann ihre Arbeiten Mitte Mai und legte dem Rat Empfehlungen vor, die den genannten deutschen Vorstellungen weitgehend Rechnung trugen. Sie bildeten im September 1926 eine wichtige Voraussetzung für den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund100.

100

Dok. Nr. 317; 326, P. 1; 330, P. 2; 333, P. 1 u. 2359.

 

Weit weniger problematisch gestalteten sich dagegen die Verhandlungen über den deutsch-sowjetischen Neutralitäts- und Freundschaftsvertrag. Sie waren Ende 1925 auf sowjetisches Drängen wiederaufgenommen worden und hatten seitdem drei Phasen durchlaufen, eine erste, die durch deutsche Versuche gekennzeichnet war, dem Vertrag die Form einer Präambel zu geben, weit konkreteren Inhalts freilich als diejenige, welche im Juni 1925 im Kabinett[LIX] zur Debatte gestanden hatte101, eine zweite Phase, in der über ein größeres Protokoll verhandelt wurde, und eine dritte Phase schließlich, in der die hartnäckige sowjetische Forderung nach vollständiger traditioneller Vertragsform sich allmählich durchsetzte und der Vertrag nach zähem Ringen Gestalt gewann. Seine „praktische Bedeutung“ im Rahmen der deutschen Gesamtpolitik wurde schon bei den ersten Kabinettsberatungen überraschend wenig positiv bewertet; während Geßler kritisch anmerkte, „daß militärisch hinter Rußland auf Jahre hinaus nichts stehe“, begründete Stresemann die eigene „mehr negative“ Einschätzung vor allem damit, daß die Vereinbarung nur geeignet sei, eine feindselige Einstellung Rußlands gegenüber Deutschland zu verhindern. Da die sowjetischen Unterhändler fast uneingeschränkte Neutralitätsverpflichtungen zu erreichen suchten, lag eines der Hauptprobleme der letzten Verhandlungsrunde darin, den Vertrag mit den Bestimmungen des Locarnoabkommens, insbesondere mit den in Anlage F dieses Abkommens umschriebenen deutschen Verpflichtungen aus Artikel 16 der Völkerbundssatzung in Einklang zu bringen. Mit besonderem Nachdruck beharrte daher Stresemann auf der von deutscher Seite vorgeschlagenen Formel, wonach die Neutralität nur im Falle „unprovozierter“ Angriffshandlungen dritter Mächte einzuhalten sei. Als aber in den ersten Apriltagen der sowjetische Widerstand gegen diese Formel sich als unüberwindlich herauszustellen begann, bot Stresemann hierfür die Kompromißformel „trotz friedlichen Verhaltens“ an und konnte dadurch alle Schwierigkeiten ausräumen. Der Vertrag wurde am 24. April 1926, nachdem es dem Auswärtigen Amt durch umfangreiche diplomatische Vorbereitungen gelungen war, unangenehmen westlichen Reaktionen vorzubeugen, von Krestinski und Stresemann in Berlin unterzeichnet102.

101

Dok. Nr. 110, dort auch Anm. 19.

102

Dok. Nr. 299, P. 1; 326, P. 2; 330, P. 2; 333, P. 3; 343, P. 1; 346, P. 5. Vgl. auch Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, S. 157 ff.

Etwa in den gleichen Tagen traten auch die deutsch-alliierten Pariser Luftfahrtverhandlungen in ihren entscheidenden Abschnitt ein. Sie waren nach ergebnislosen deutschen Versuchen, schon in Locarno eine klärende alliierte Stellungnahme herbeizuführen103, erst in den letzten Novembertagen 1925 allmählich in Gang gekommen und zunächst unerwartet günstig verlaufen. Überraschend schnell hatte damals die Botschafterkonferenz der deutschen Auffassung zugestimmt, daß die deutsche Verkehrsfliegerei im Interesse des wachsenden internationalen Luftverkehrs von allen bestehenden Hemmnissen befreit werden müsse und es daher unumgänglich sei, die seit 1922 geltenden alliierten „Begriffsbestimmungen zur Unterscheidung der zivilen von der militärischen Luftfahrt“104 so rasch wie möglich aufzuheben. Um aber gegen etwaige geheime deutsche Rüstungen auch weiterhin gesichert zu sein, hatten die alliierten Sachverständigen als Gegenleistung verlangt, daß Deutschland jede militärische Betätigung deutscher Luftsportvereine, ihre Zusammenarbeit[LX] mit Reichswehrdienststellen und den Bau von Kriegsflugzeugen unter hohe Strafen stelle. Nachdem dies von deutscher Seite zugesichert und bei den Pariser Verhandlungen über entsprechende reichsgesetzliche Bestimmungen Einigung erzielt worden war, blieb um die Jahreswende 1925/26 im wesentlichen nur noch die Frage der Pilotenausbildung von Reichswehrangehörigen ungeklärt. Da die Alliierten diese Ausbildung und überhaupt jede flugsportliche Betätigung von Militärpersonen nach Möglichkeit unterbunden sehen wollten, das Reichskabinett ein solches Verlangen aber als unzumutbar und mit den Entwaffnungsbestimmungen des Friedensvertrages unvereinbar erklärte, entstand eine mehrere Wochen andauernde Verhandlungskrise, die erst bereinigt werden konnte, als die Reichsregierung in den letzten Apriltagen einer Kompromißlösung zustimmte, welche die Zulassung von insgesamt 72 flugberechtigten Reichswehrangehörigen vorsah. Schon im Mai 1926 konnte daraufhin eine deutsch-alliierte Vereinbarung über die Befreiung der deutschen Zivilluftfahrt von allen technischen Beschränkungen und über den baldigen Abschluß verschiedener internationaler Luftverkehrsabkommen unterzeichnet werden105.

103

Dok. Nr. 184, Anm. 1.

104

Dok. Nr. 170, Anm. 18.

105

Dok. Nr. 219, P. 4; 253; 254; 255; 260, P. 1; 284; 301; 307; 309, P. 1; 320; 321; 349, P. 6.

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