2.160.1 (lut1p): [Annahme der Einladung zur Locarno-Konferenz; Kriegsschuldfrage]

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 1.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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[Annahme der Einladung zur Locarno-Konferenz; Kriegsschuldfrage]

Reichsminister Dr. Stresemann verliest eingangs den Entwurf des Memorandums und der Antwort auf die französische und englische Einladung, und[563] zwar in der von der unmittelbar vorhergegangenen Ministerbesprechung im kleinen Kreise für gut gehaltenen Form.

Der Reichskanzler Er halte es für seine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß die eingehende Behandlung der Kriegsschuldfrage in dem Memorandum2 nach Ansicht verschiedener Beteiligter, besonders auch der Herren des Auswärtigen Amts, zu lebhaften Bedenken Anlaß geben3, daß es aber aus anderen Gründen zweckmäßig erschiene, diesen Anlaß zu benutzen, erneut den Standpunkt der Deutschen Regierung hinsichtlich der Kriegsschuldfrage festzulegen und dadurch die hinter der Deutschen Delegation stehende deutsche öffentliche Meinung geschlossen zusammenzubringen. Im übrigen lege er aber Wert darauf, daß etwaige Bedenken des Kabinetts bei dieser ungemein wichtigen Frage jetzt zur Sprache kämen. An eine Übergabe und Veröffentlichung der vorgelesenen Schriftstücke könne erst nach Anhörung der Staats- und Ministerpräsidenten der Länder4 sowie des Auswärtigen Ausschusses gedacht werden.

2

S. Dok. Nr. 159, dort bes. Anm. 1 und 9.

3

Bedenken des AA hatte StS v.Schubert kurz vor dieser Ministerratssitzung im Auftrage des RAM dem RK vorgetragen. Dazu Schubert in einer Aufzeichnung vom 23. 9.: Er habe dem RK zunächst berichtet, daß der Abg. v. Lindeiner (DNVP) ihm soeben erklärt habe, es würde unter allen Umständen zu einer inneren Krise kommen, sollte sich die RReg. nicht zu einer „Benachrichtigung der Entente in der Kriegsschuldfrage“ entschließen können. Sodann habe er, Schubert, den RK auf die außenpolitischen Folgen eines solchen Vorgehens der RReg hingewiesen. „Auch wenn man diese Notifikation in eine möglichst unauffällige Form kleide und diese Form von den Deutschnationalen angenommen würde, sei entweder zu erwarten, daß die Verbalnote uns sofort zurückgeschickt werde oder aber, daß wir eine brüske und ablehnende Antwort erhalten würden. Es sei nicht ausgeschlossen, daß wir diese Antwort kurz vor unserer Abreise nach der Schweiz erhalten und dadurch in eine höchst unbequeme diplomatische Situation geraten würden. Denn wir müßten uns dann überlegen, ob wir trotz dieser ablehnenden Antwort auf die Konferenz gehen oder aber im letzten Moment absagen sollten.“ Die Weltmeinung würde sich dann gegen Dtld. richten. „Man werde uns vorwerfen, daß es eine besondere Hinterhältigkeit sei, im letzten Moment diesen Punkt in die Debatte zu werfen.“ Ein viel günstigerer Augenblick für einen solchen Schritt in der Kriegsschuldfrage sei dagegen der Beginn der eigentlichen Konferenz. Diese würde dann nicht gefährdet und Dtld. hätte dann wohl auch nicht die Weltmeinung gegen sich. Der jetzige Augenblick sei aber so ungünstig wie nur irgend möglich (Pol. Arch. des AA, Büro StS, FS Garantiepakt, Bd. 14).

4

S. Dok. Nr. 162.

Reichsminister Dr. Stresemann fügte ergänzend hinzu, daß er sich aber als ermächtigt ansehen dürfe, wegen des Ortes der Konferenz weiterzuverhandeln. In dieser Hinsicht sei zu berichten, daß die Schweiz, wie zu erwarten gewesen sei, gegen Locarno Einspruch erhoben habe, da sie bei diesem im Tessingebiet gelegenen Orte italienische nationalistische Kundgebungen zugunsten Mussolinis befürchte.

Das Kabinett erteilte diese Ermächtigung und war auch, nachdem Minister Brauns zunächst die Übergabe unserer Antwortnote schon vor der Tagung des Auswärtigen Ausschusses für möglich gehalten hatte, einmütig der Auffassung, daß die Übergabe und Veröffentlichung unserer Note erst nach Anhörung des Auswärtigen Ausschusses in Betracht kommen5.

5

Der Auswärtige Ausschuß stimmt in seiner Sitzung am Nachmittag des 26. 9. mit großer Mehrheit für die Annahme der Einladung zur Locarno-Konferenz. Einspruch erheben lt. Pressemeldungen nur Vertreter der Wirtschaftspartei, der Deutschvölkischen und der Kommunisten (z. B. „Tägliche Rundschau“ vom 27. 9.).

[564] Reichsminister Graf Kanitz möchte an sich vom nationalen Standpunkt keine Bedenken gegen die Erwähnung der Kriegsschuldfrage in diesem Memorandum äußern. Aber er fühle sich doch zu der Frage verpflichtet, ob nicht in diesem Augenblick die Erwähnung dieses Punktes mündlich zweckmäßiger gewesen wäre. Er könne sich vorstellen, daß diese offizielle schriftliche Formulierung unseres Standpunktes in der Kriegsschuldfrage uns in diesem Augenblick noch ungeheuren Schaden anrichten könne. Wir gingen einen Weg, dessen Ende nicht zu übersehen sei. Wenn aber das Auswärtige Amt keine Bedenken habe, dann könne es hingehen. Ihm wäre es jedenfalls lieber gewesen, wenn wir eine andere Gelegenheit zu dieser Erklärung benutzt hätten.

Reichsminister Dr. Stresemann erläuterte sodann den historischen Werdegang dieser Frage.

Reichsminister Dr. Neuhaus war der Meinung, daß die dem Kabinett vorgelegte Formulierung über die Kriegsschuldfrage das Minimum dessen sei, was wir zu verlangen hätten. Dem Vorschlage des Reichsministers Graf Kanitz könne er sich unter keinen Umständen anschließen.

Staatssekretär v. Schubert: Auf die Frage des Reichsministers Graf Kanitz könne er vorbehaltlich der Erklärung seines Chefs namens des Auswärtigen Amts nur erklären, daß das Auswärtige Amt für einen günstigen Ausgang dieser Angelegenheit keinerlei Gewähr übernehmen könne. Die Befürchtung bestünde zweifellos, daß wir vor Beginn der Konferenz eine Gegennote der Alliierten bekämen, die die bevorstehenden Verhandlungen zumindest erschwerten. Eine vorherige Sondierung mit dem Ziele, eine solche nachteilige Wirkung zu vereiteln, sei völlig unmöglich6. Der beabsichtigte Schritt der Deutschen Regierung hinsichtlich der Kriegsschuldfrage sei ein überaus ernster und feierlicher und könne nicht in vertraulichen mündlichen Besprechungen mit den Vertretern der uns gegenüberstehenden Mächte verkleinert oder gar als bedeutungslos hingestellt werden.

6

Lord D’Abernon war durch Stresemann schon am 22. 9. über die beabsichtigte Erklärung in der Kriegsschuldfrage unterrichtet worden. Der RAM teilt dies mit Schreiben an die dt. Botschaft in London vom 24. 9. mit und fügt hinzu, D’Abernon habe darüber sogleich nach London berichtet, „so daß Herr Chamberlain nicht ganz unvorbereitet ist.“ (Pol. Arch. des AA, Büro RM, 15–1 Verhandlungen mit den Alliierten über einen Sicherheitspakt, Bd. 7). S. dazu auch die Tagebuchaufzeichnung des RAM in: Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 177 f.

Reichsminister Dr. Stresemann sieht in dem beabsichtigten Schritt gleichfalls ein großes Risiko. Er habe aber doch die Hoffnung, daß die Belastung durch diesen Schritt zwar eine Erschwerung sein, aber die Dinge doch nicht zum Scheitern bringen werde. In dieser Hinsicht komme in Betracht, daß die ganze Weltstimmung unserer Auffassung sich mehr und mehr günstig zeige. Außerdem sei es für die Autorität, mit der die Deutsche Delegation auf der Konferenz auftreten könne, zweifellos von großem Wert, wenn sie durch die Erwähnung der Kriegsschuldfrage in dieser Form vor Beginn der Verhandlungen dazu beitrüge, daß das ganze deutsche Volk einmütig hinter ihr stehe.

Reichsminister Dr. Geßler: Er fürchte gleichfalls nicht, daß die Verhandlungen durch die Erwähnung der Kriegsschuldfrage zum Scheitern kämen, aber er glaube fast, daß wir noch vor den Verhandlungen eine Gegennote über diese[565] Frage bekommen könnten. Die Formulierung sei im übrigen sehr geschickt. Immerhin schlage er aber im Hinblick auf die mögliche Wirkung eine Umstellung der beiden Punkte (Kriegsschuldfrage an 2. und Räumung der Kölner Zone an 1. Stelle) vor7.

7

Dem wird offenbar nicht stattgegeben. In der Endfassung des dt. Memorandums (gedr. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 22) steht die Erklärung in der Kriegsschuldfrage weiterhin an erster Stelle.

Der Reichskanzler stellte abschließend als einmütige Auffassung des Reichskabinetts fest, daß zwecks Verwertung der soeben gewonnenen Anregungen morgen vormittag 9.45 Uhr eine Redaktionskommission, die außer ihm aus den Reichsministern Stresemann, Schiele und Brauns bestehe, die endgültige Fassung des Memorandums beschließen solle, daß im übrigen aber mit diesem Vorbehalt das Memorandum die einstimmige Annahme des Kabinetts gefunden habe.

Reichsminister Dr. Stresemann berichtete sodann über die Frage der Beschickung der Konferenz durch die Deutsche Reichsregierung. Im Hinblick darauf, daß es sich um die größten politischen Probleme handele, die es überhaupt für die deutsche Zukunft gäbe, sei die Bestellung nur eines Kabinettsmitgliedes durchaus unzureichend. Er schlage daher in Übereinstimmung mit früheren Anregungen8 und auch nach vorangegangenen Erörterungen dieser Frage mit den Vertretern der anderen Mächte9 dem Kabinett vor, auch der Entsendung des Herrn Reichskanzlers zuzustimmen.

8

S. die Ausführungen Luthers in der Ministerbesprechung am 22. 9. (Dok. Nr. 158).

9

S. die Aufzeichnung des RAM über seine Unterredung mit Lord D’Abernon vom 3. 8. in: Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 165.

Der Reichskanzler tritt der Auffassung des Reichsministers Stresemann in allen Punkten bei. Er halte sich aber für verpflichtet, auf die Gegengesichtspunkte aufmerksam zu machen. Diese bestünden darin, daß bei seiner Beteiligung die Gefahr eines Versuchs der Gegenseite wüchse, dem Ergebnis dieser Ministerkonferenz einen endgültigen Charakter zu geben.

Reichsminister Schiele wiederholte seinen und seiner politischen Freunde gestern und heute in den vorangegangenen Ministerbesprechungen wiedergegebenen Standpunkt in dieser Frage, fügte aber hinzu, daß bei der verfassungsmäßigen Stellung des Reichskanzlers als des Leiters der Gesamtpolitik dessen Stellungnahme sehr entscheidend sei. Wenn der Reichskanzler und der federführende Reichsaußenminister der Meinung seien, daß sie beide zur Konferenz fahren müßten, so halte er die Frage schon für praktisch entschieden und würde keine weiteren Bedenken mehr erheben10.

10

Lt Vermerk Kempners vom 26. 9. hatte Luther am 23. 9. die DNVP-Abgeordneten Graf Westarp, Hergt und Wallraf zu einer Unterredung über die Zusammensetzung der dt. Konferenzdelegation empfangen, bei der die Abgeordneten starke Bedenken gegen die Beteiligung des RK zum Ausdruck gebracht hätten. Nach ausführlichen Darlegungen des RK über die Gründe seiner Teilnahme hätten die Abgeordneten abschließend erklärt: „6 Millionen Deutsche würden es lieber sehen, wenn Sie, Herr Reichskanzler, zweite Instanz blieben, aber sie stehen auch so hinter Ihnen.“ (R 43 I /425 , Bl. 157).

Das Kabinett beschließt darauf dementsprechend.

Reichsminister Dr. Stresemann verlas sodann ebenso wie in der vorangegangenen Ministerbesprechung die von ihm entworfenen Richtlinien, nach denen[566] die Deutsche Delegation bei den Beratungen der Ministerkonferenz vorgehen solle11.

11

S. dazu Anm. 6 und 7 zu Dok. Nr. 159.

In der abschließenden Diskussion stellte zunächst Reichsminister Graf Kanitz die Frage, ob überhaupt Schiedsverträge nach dem Osten für uns erwünscht seien12. Diese Ostverhandlungen könnten uns seiner Meinung nach in sehr schwierige Situationen bringen. Er möchte daher den Vorschlag machen, auf der Konferenz eine Vertagung der Erörterung der Ostverträge zu erwirken.

12

Nach der Tagebuchaufzeichnung des RAM vom 23. 9. lautet der diesbez. Abschnitt 6 der Richtlinien: „Die Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei sollen auf der Grundlage der Vereinbarungen des Londoner Entwurfs [s. Art. 6 des Sicherheitspaktentwurfs der Londoner Juristenkonferenz vom 4. 9. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 20] abgeschlossen werden. Eine Garantierung der östlichen Grenzen wird von Deutschland abgelehnt, ebenso ein eventueller Schiedsvertrag, der die Grenzen in sich schlösse.“ (Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 182).

Reichsminister Dr. Stresemann bat, wenn irgend möglich, es der Delegation zu überlassen, wie sie nach dieser Richtung hin zweckmäßigerweise praktisch verfahre. Die vom Grafen Kanitz betonte große Gefahr sehe er im übrigen nicht, denn Frankreich und England seien sich darüber völlig klar, daß von uns nichts zu erreichen sein wird, was einer Garantie der Ostverträge durch sie in irgendeiner Weise gleichkomme. Es würde natürlich nicht an Versuchen der Gegenseite fehlen, etwa solches zu erreichen; das Fehlschlagen dieser Versuche stünde aber fest.

Der Reichskanzler bestätigte in Ergänzung der Stellungnahme des Reichsministers Stresemann, daß es die einmütige Auffassung des Kabinetts sei, daß eine Garantie der Ostverträge durch Frankreich von der Deutschen Delegation rundweg abgelehnt werde.

Reichsminister Dr. Frenken: Er stände ebenso wie schon dem Memorandum aus dem Januar d. Js.13, das ja doch der Ausgangspunkt der jetzt in Gang kommenden Verhandlungen sei, auch dem Ergebnis der Ministerkonferenz nach wie vor äußerst skeptisch gegenüber. Ebenso wie früher müsse er auch heute betonen, daß ein territorialer Verzicht Deutschlands durch Anerkennung des jetzigen Status quo an unserer Westgrenze eine völlige Unmöglichkeit sei. Nach dieser Richtung hin mache ihm die Präambel des französisch-englischen Entwurfs14 große Sorge. Seine Sorge erstrecke sich ferner insbesondere auf die Regelung der Besatzungsfragen15. Er müsse Wert darauf legen, daß die Regelung dieser Fragen, die ja nach den Richtlinien des Herrn Reichsaußenministers auf der Konferenz von uns nachdrücklich zur Sprache gebracht werden solle, im Pakt selbst Aufnahme findet und nicht in mehr oder weniger verbindlichen nebenherlaufenden Erklärungen der Gegenseite erledigt wird.

13

Gemeint ist das Dt. Sicherheitsmemorandum, das in fast gleichlautenden Fassungen am 20. 1. der Brit. und am 9.2.25 der Frz. Reg. unterbreitet worden war. Zum Inhalt s. Anm. 6 zu Dok. Nr. 43.

14

S. Anm. 9 zu Dok. Nr. 158.

15

S. dazu die ausführlichen Darlegungen Frenkens in seinem Schreiben an den RAM vom 11. 7. (Dok. Nr. 120).

Reichsminister Dr. Stresemann: Wie diese Frage abschließend behandelt würde, sei seines Erachtens eine taktische und formelle Frage. Er hätte an sich[567] keine Bedenken, wenn die Regelung außerhalb des Pakts gefunden würde, wenn nur diese Erklärung voll verbindlich sei. Ebenso sei es auch bei den vorjährigen Verhandlungen in London gewesen, wo gerade die wichtigen, die Räumung des Sanktionsgebiets betreffenden Fragen auch in einem nebenhergehenden Briefwechsel16 erledigt worden seien. Wie die Geschichte der letzten Wochen gezeigt habe, hätten sie aber trotzdem als vollgültige Unterlage für die tatsächliche entsprechende Regelung genügt.

16

S. das amtl. dt. Weißbuch: Die Londoner Konferenz Juli-August 1924, Dok. Nr. 5461.

Reichsminister Schiele trat dieser Auffassung bei. Auch nach seiner Ansicht komme es nur darauf an, daß etwas Bindendes erreicht werde. Die Form möchte aber auch er freigeben.

Abschließend stellte der Reichskanzler sodann auch die einmütige Annahme der vorgetragenen Richtlinien durch das Reichskabinett mit der Maßgabe fest, daß eine Redaktionskommission unter seinem Vorsitz, bestehend aus den Reichsministern Stresemann, Schiele und Brauns, die endgültige Formulierung noch festlegen solle17.

17

Zur endgültigen Festlegung der Richtlinien für die Locarno-Konferenz s. Dok. Nr. 170, P. 4, dort bes. Anm. 24.

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