2.141 (lut1p): Nr. 141 Der Reichsminister des Innern an den Reichskanzler. 5. August 1925

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RTF

Nr. 141
Der Reichsminister des Innern an den Reichskanzler. 5. August 1925

R 43 I /653 , Bl. 56-73

[Wirtschaftslage, Neugestaltung des landwirtschaftlichen Kreditwesens]

Hochverehrter Herr Reichskanzler!

In der Anlage erlaube ich mir, Ihnen meine Ausarbeitung: Thesen zur Wirtschaftslage zur gefl. Kenntnisnahme zu übersenden.

Mit Rücksicht auf die von Tag zu Tag steigenden wirtschaftlichen Notstände bitte ich, mir baldigst Gelegenheit zu einer Besprechung dieser Thesen mit Ihnen zu geben1. Die in Ziffer 14 erwähnte Anlage, die mehr technischer Natur ist, werde ich morgen nachreichen2.

1

Über eine derartige Besprechung fanden sich Aufzeichnungen oder Vermerke nicht bei den Akten der Rkei.

2

S. Anm. 8.

In vorzüglichster Hochachtung

ergebenst

Schiele

[471] [Anlage]

Thesen zur Wirtschaftslage

1. Kennzeichnung der Lage und Gefahren des labilen Zustandes.

Es ist nötig, daß wir den Gefahren ins Auge schauen, die uns in nächster Zeit bedrohen. Durch andauernd unzureichende Ausfuhr und eine zum großen Teile unsinnige Einfuhr ist eine schwebende Schuld aufgehäuft, die ständig in erschreckender Weise wächst. Die bereits ausgebrochene Industriekrise verbindet sich mit einer teils vorhandenen, teils noch latenten Agrarkrisis und führt zunächst zu schwankenden, schließlich zu steigenden Preisen und damit zu einer Erschütterung der Lohn-Gehaltsbasis unserer gesamten Sozialpolitik und zu einer Steigerung der Arbeitslosigkeit. Besondere Folgen sind: die Nichterfüllung des (unerfüllbaren) Dawesplanes und die Gefahr neuer Sanktionen.

Weder in der inneren, noch in der äußeren Politik dürfen wir uns von dieser Entwicklung überraschen lassen. Wir müssen durch energische Maßnahmen sowohl dem Volke, wie auch der Welt zeigen, daß die Lage von uns erkannt ist und daß wir ihr auf dem richtigen Wege begegnen werden.

Was sofort gestoppt werden muß, ist das weitere Anwachsen der schwebenden kommerziellen Schuld, welche neben der Daweslast durch die ebenso leichtfertig gegebenen wie genommenen Auslandskredite entstanden ist.

2. Auslandskredite als Gefahren.

Die Auslandskredite haben bisher bei uns als etwas Wünschenswertes gegolten und sind als geeignet betrachtet, unsere Volkswirtschaft in Ordnung zu bringen. Es ist übersehen worden, daß diese Betrachtung nur richtig war unter Bedingungen, die nicht gegeben sind, nämlich bei einer Steigerung der Ausfuhr, bei einer Besserung des Absatzes unserer Industrie im Auslande. Ohne eine solche Steigerung sind die Auslandskredite nur eine Form proggressiver Verarmung. Man kann und darf einen Industriebetrieb, dem der Absatz zur Hälfte verloren gegangen ist, nicht durch Kredite erhalten wollen, weder durch solche, die aus der eigenen Volkswirtschaft genommen oder vom Staate gegeben werden, noch durch solche, die vom Ausland kommen.

Es ist nötig, die Gefahr zu erkennen, die in den Auslandskrediten liegt, ob sie nun von Kommunen oder Ländern, von Industrie oder Landwirtschaft genommen werden.

3. Die schwebende kommerzielle Schuld (Einfuhrüberschüsse).

Infolge der bedenkenlosen Ausnutzung der Auslandskreditmöglichkeiten ist eine schwebende Schuld entstanden im Jahre 1924 von rund 2,7 Milliarden, um welche die Einfuhr die Ausfuhr überstieg, und in diesem Jahre bereits von mehr als 2 Milliarden. Auf der anderen Seite steht als Ausgleich folgendes: Der Goldvorrat und der Devisenbestand der Reichsbank sind vermehrt3, auch darf man eine Vermehrung der in Deutschland lagernden Rohstoffe annehmen. Aber dies ist keine Vermehrung des deutschen Volksvermögens, weil ihr entsprechende Auslandsschulden bedrohlich gegenüberstehen.

3

S. den Bericht des RbkPräs. über die Lage der Rbk vom 14.8.25 (Dok. Nr. 146).

[472] 4. Das Aufhören der Krediteinfuhr.

Die weitere Gefahr besteht darin, daß diese Kreditzufuhr geringer werden, vielleicht bald ganz aufhören muß. Die teilweise oder ganze Einstellung dieses Zustromes bringt schwere Bedrohungen unserer Stabilität. Die Kredite setzen sich in Einfuhr um. Wir erhalten jetzt monatlich etwa 300 Millionen kreditierte Einfuhr. Wenn sie aufhört, so wird sich eine völlig veränderte Lage für Deutschland ergeben, sowohl nach außen wie nach innen. Nach außen dadurch, daß wir plötzlich zur Deckung unserer großen Einfuhr, soweit sie die Ausfuhr übersteigt, Devisen anschaffen müssen, die wir bisher geborgt bekamen. Die Devisen sind für Rohstoffe nötig, wie besonders für die große Fett- und Fleischeinfuhr, an die wir uns in den letzten Jahren wieder gewöhnt haben. Das Fehlen oder Knapperwerden dieser Einfuhr wird auf dem Innenmarkt die Folge haben, daß die Lebensmittelpreise steigen, wobei die Fettpreise vorangehen dürften.

5. Teuerung und Währungsbedrohung.

Wir haben also eine Teuerung zu erwarten, welche parallel dem Versiegen der Kredite entsteht. Dieser Zustand muß kommen. Wir können und dürfen ihm nicht ausweichen. Zwar mögen vorübergehend noch gedrückte Preise zu erwarten sein (Ausverkauf); ist dieser Zustand aber beendet, dann muß eine Teuerung einsetzen. Je schneller wir uns darauf einrichten, desto besser ist es. Steigende Preise zugleich mit knapperwerdenden Devisen bedeutet Bedrohung der Währung, oder ist eigentlich schon Währungsveränderung. Wir müssen uns klar sein, daß unsere Währung bisher auf eine ungesunde, künstliche Weise durch hereinfließende Kredite gehalten worden ist.

6. Bedrohung unserer Erfüllungsverpflichtung.

Es ist klar, daß dieser Zustand den Transfer des Dawesplanes4 bedroht. Darum ist es nötig, daß wir dies beizeiten anmelden, die Umstände aufklären und mit aller Energie dasjenige tun, was geboten ist. Sonst werden wir aufs neue, wie in den Zeiten der Inflation, vom Ausland als Betrüger angesehen werden und müssen uns neue mehr oder weniger gewaltsame, bevormundende Eingriffe gefallen lassen. Bisher haben wir einen ernsten Anfang unserer Erfüllungspflichten noch gar nicht zu machen brauchen. Wir haben mit geborgtem Gelde erfüllt. Im Auslande ist es aufgefallen, daß wir in den letzten Jahren Überschüsse im Staatshaushalt gehabt haben, welche die versprochenen Jahresleistungen (2 500 Million. Mark) übersteigen. Es muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß diese Überschüsse der Substanz entnommen sind und daß sie demnächst einem Defizit im Staatshaushalt Platz machen müssen. Wir werden nicht sagen dürfen, daß wir nicht erfüllen wollen, aber wir werden sagen müssen, daß wir keine Möglichkeit des Erfüllens haben, weil die Ausfuhr fehlt, mit der wir allein den Transfer machen können.

4

Zum Transfer der Reparationszahlungen s. „Die Berichte der von der Reparationskommission eingesetzten beiden Sachverständigenkomitees vom 9. April 1924“ (Sachverständigen-Gutachten), dreisprachige amtliche Ausgabe, Berlin 1924, S. 37 f. und 137 ff.; auch RT-Drucks. Nr. 5, Bd. 382 .

[473] 7. Außenhandelspolitik zur Verteidigung der Währung.

Die Passivität unserer Handelsbilanz ist ein Zustand, dem wir nicht länger tatenlos zusehen dürfen. Er gefährdet die Währung und gefährdet die Ehre und das Ansehen des Deutschen Reiches. Wir müssen dem Ausland erklären, daß wir uns genötigt sehen, unsere Einfuhr der Größe unserer Ausfuhr anzupassen, und zwar durch starke Drosselung aller entbehrlichen Einfuhr, welche Luxuscharakter hat oder welche in Fertigfabrikaten besteht, die wir selber herstellen können. Insbesondere hat unsere Nahrungs- und Genußmitteleinfuhr einen stark luxusartigen Charakter angenommen. Dies trifft vor allem – außer für Wein, Tabak, Tee, Kaffee, Seide – auch für Butter, Mehl, Gemüse und Südfrüchte zu; für diese Artikel sind im Mai 1925 rund 140 Millionen Mark an das Ausland verausgabt, darunter allein für Tabak 20,3, für Kaffee 24,2, für Butter 31 Mill. Mark. Die Drosselung der Einfuhr darf nicht motiviert werden mit dem „Schutz der nationalen Arbeit“ o. ä., sondern mit: Schutz der Währung, Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch, Erfüllung übernommener Pflichten. Ein Schuldnerstaat ist verpflichtet, eine aktive Handelsbilanz zu haben, um zahlen zu können. Er ist daher, wenn die Handelsbilanz in Passivität umschlägt, gezwungen, mit Zöllen oder in sonst geeigneter Weise gegen unerwünschte Einfuhr einzuschreiten. Das letzte Beispiel hierfür war vor wenigen Jahren Argentinien. Unsere bisherige Handelspolitik ist eine Gelegenheitspolitik, die aus einem Chaos von Sonderwünschen entstanden ist. Wir dürfen Handelsverträge nicht mehr in der Weise schließen, daß wir für ein trügerisches Minimum von Ausfuhr und Einfuhr die Tore weit öffnen. Wir dürfen nicht nur den Gedanken haben, die Ausfuhr zu poussieren, während wir gleichzeitig durch unsinnige Einfuhr den Volkshaushalt und die Währung ruinieren.

8. Wirkung der Teuerung im Inland.

Angesichts der heraufziehenden Teuerung werden wir uns hüten müssen, wieder in die Zwangsmaßnahmen zu verfallen, die wir in den Jahren 1920 bis 1923 vergeblich angewendet haben5. Wir müssen uns von vornherein darüber klar sein, daß die Teuerung eine scheinbare sein wird, daß sie nur ein neuer Akt der Verarmung ist. Die scheinbar teueren Preise für Nahrungsmittel werden sich, wenn sie ein gewisses Maß übersteigen, als Preise der Geldentwertung herausstellen. Am allerwenigsten darf sich die Regierung von einer kommenden Änderung in der Stabilität der Währung überraschen lassen. Sie darf sich nicht scheuen, als erste die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Die Sicherung der Währung ist nicht von dem frommen Glauben daran abhängig. Die Währung ist nicht etwas, was sich loslösen läßt von der Wirtschaft und sich[474] stabil halten läßt, während in der Wirtschaft mit Verlust gearbeitet wird. Es ist unmöglich, eine Währung mit rein währungstechnischen Mitteln, z. B. mit Diskontpolitik, mit Kreditkontingentierung, mit Devisenbewirtschaftung zu halten. Das verschärft nur den Verarmungsprozeß und reißt uns immer tiefer. Unsere Währung ist konstruktiv, ist künstlich, weil sie nicht die notwendige unmittelbare Fühlung mit der Wirtschaft hat, nicht ihr Ausdruck ist. Im normalen Zustande ist der Stand der Währung und der Finanzen der Uhrzeiger, während die Wirtschaft das Uhrwerk ist.

5

Hierzu gehören insbes. 1) das Gesetz über Verschärfung der Strafen gegen Schleichhandel, Preistreiberei und verbotene Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände vom 18.12.1920 (RGBl., S. 2107 ), 2) das Notgesetz vom 24.2.23 (RGBl. I, S. 147 ), 3) die VO zur Ausführung des Notgesetzes vom 13.7.23 (RGBl. I, S. 699 ), mit der u. a. folgende VOen in Kraft traten: a) VO über Preistreiberei, b) VO gegen verbotene Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände (insbes. Lebensmittel), c) VO über Handelsbeschränkungen, d) VO über den Verkehr mit Vieh und Fleisch, e) VO über Preisprüfungsstellen.

10.6 Wirkung auf den Staatshaushalt.

6

Ziffer 9 der „Thesen“ fehlt. Angesichts der lückenlosen Seitennumerierung des Dokuments liegt die Annahme einer fehlerhaften Ziffernnumerierung nahe.

Wenn diese Wendung kommt, so kann sie natürlich nicht ohne Rückwirkung auf den Staatshaushalt sein. Durch die Wirtschaftskrise werden die Einnahmen sinken, die Steuerkraft wird versagen, und durch die Teuerung werden die Ausgaben steigen. Dann dürfen wir die Lösung nicht mehr suchen durch Steuererhöhung oder neue Steuern, sondern nur durch Sanierung auf der Ausgabenseite, durch rücksichtslose Amputation des Entbehrlichen.

11. Industriekrise: Wirkung nach außen.

Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß die deutsche Industrieausfuhr dauernd völlig unzureichend ist. Zum Unterhalt der großen Menschenmassen, die von ihr abhängig sind, müßte sie doppelt so groß sein, zur Erfüllung des Dawesplanes müßte sie dreimal so groß sein, als sie ist. Dabei bestehen so gut wir gar keine Aussichten für eine nennenswerte Steigerung. Sowohl in Amerika wie besonders in England ist wie in Deutschland der industrielle Apparat größer geworden als der Markt. Unter diesen Umständen ist es grundfalsch, die Industrieausfuhr weiter zu forcieren. Unsere Handelsvertragspolitik wie unsere innere Wirtschaftspolitik sind bisher mit offenen und mit geheimen Mitteln auf dieses falsche Ziel gerichtet gewesen. Es ist nunmehr unsere Aufgabe, die Welt darauf aufmerksam zu machen, welche Folgen die deutsche Industriekrise nach außen haben muß und welche noch ernstere nach innen (Arbeitslosigkeit, Steuerausfall). Auf der Tagung der internationalen Handelskammer hat Mr. Josiah Stamp schon in ausgezeichneter Klarheit die These dargelegt, daß Deutschland bei dem heutigen Zustande seiner Ausfuhr nicht erfüllen kann.

12. Die Wirkung der Industriekrise nach innen.

Durch künstliche und unkommerzielle Mittel ist bisher die wirkliche Gesundung aufgehalten, erst durch Inflationskredite, dann durch den Rentenbankkredit, dann durch die Auslandskredite. Falsche Mittel sind angewendet, so die Erhaltung der Industriewerke durch Staatszuschüsse (wie beim Schiffsbau), die Forcierung der Ausfuhrindustrie, indem man davon ausging, diese müsse „besonders günstig bei der Kreditzuteilung behandelt werden“. Man hat die Ausfuhr dadurch forciert, daß man die Preise im Inland hochhält, um draußen desto billiger zu sein. Das zerstört die Kaufkraft des Binnenmarktes und führt[475] zu einer Auspowerung Deutschlands und einer Art Bankrottausverkauf. Außerdem zieht es uns die berechtigte Feindschaft Englands zu, welches ebenso handeln muß; die Konkurrenz ruiniert beide Länder. Der richtige Weg für uns ist die Umstellung, ja Verkleinerung der Industrie, die Stillegung der undankbaren Werke und die Umschaltung der Arbeitskräfte auf ein anderes Feld. Das Kartellwesen, welches die Preise hochzuhalten sucht, muß durchbrochen werden. Die Aufnahmefähigkeit des Binnenmarktes wird sich in dem Umfange erweitern als die kreditierte Einfuhr sinkt und die heimische Landwirtschaft erstarkt. Zur Behebung der Industriekrise wird es u. a. auch dienen, wenn die Kohlenvorräte, welche auf den Halden liegen, schleunigst, wenn auch zunächst mit einem gewissen Verlust, den Verbrauchern zugeführt werden.

13. Intensivierung der Landwirtschaft, Ausfuhrfreiheit.

Die Gesundung der Industrie ist, da eine nennenswerte Steigerung der Ausfuhr nicht möglich ist, nur erreichbar durch die Vergrößerung der Aufnahmefähigkeit und die Erstarkung der Kaufkraft des Binnenmarktes. Dieser Binnenmarkt heißt Landwirtschaft. Man muß eine blühende, erstarkende Landwirtschaft mit allen Mitteln wollen. Was die Landwirtschaft sofort dringend braucht, ist die Ausfuhrfreiheit für Brotgetreide und Mehl, damit einer untragbaren Preisdepression nach der Ernte vorgebeugt wird und eine gleichmäßige und gesunde Preisbildung gesichert wird.

14. Neuer Weg für die Kreditbeschaffung: Warrantkreditverfahren, Getreidezertifikate.

Das eigene Betriebskapital ist der Landwirtschaft zu einem großen Teile verlorengegangen. Die Möglichkeiten zur Aufnahme von Betriebskrediten sind gering; insbesondere eignet sich die Reichsbank bei der Höhe ihrer Zinssätze und der Art ihres Wechselverkehrs nicht zur Befriedigung des Kreditbedarfs des Landwirts, sie legt auch selbst keinen besonderen Wert auf die Gewährung landwirtschaftlicher Kredite. Der Realkredit ist – ganz abgesehen von den gegenwärtigen Verhältnissen – nur für langfristige Aufnahmen, nicht zur Befriedigung des Bedürfnisses an Betriebskredit geeignet.

Infolgedessen steht das Verkaufsangebot der Landwirtschaft unter dem Druck fälliger Steuern und übermäßig hoher Zinsen. Käuferkapital, welches imstande wäre, das Getreide abzunehmen, ist nicht ausreichend vorhanden. Man muß rechnen, daß das heimische Getreide eine Zinslast an das Händlerkapital von mindestens 20% pro anno zu tragen hat, denn der Käufer von Inlandgetreide muß einen hohen Zinsabzug verlangen, weil er mit kleinstem Eigenkapital oder mit hohen Schuldenzinsen arbeitet. Demgegenüber erhält der Käufer von Auslandsgetreide den Kauf auf langen Termin und zu geringem Zinssatz kreditiert. Auch diese Zinsdifferenz muß also den Preis des Inlandgetreides drücken; obendrein gewinnt der Importeur noch einen Vorsprung durch die Umsatzsteuer.

Aus dieser Lage gibt es nur einen Ausweg: Die Landwirtschaft muß sich auf der Grundlage ihrer eigenen Erntewerte ein ihren Verhältnissen angepaßtes System zur Beschaffung kurzfristiger Kredite begründen. Die verkäuflichen Erntevorräte der Landwirtschaft werden bisher gar nicht oder nur in ganz ungeregelter[476] Weise zur Grundlage von Krediten benutzt. Dabei bilden sie eine besonders geeignete, weil jederzeit verwertbare und unbedingt sichere Grundlage, deren Wert bei vorsichtiger Schätzung (ca. 4 Millionen t) auf 1 Milliarde Mark angenommen werden kann.

Im Wege des Warrantkredites kann dieser gewaltige Wert für die Bedürfnisse der Landwirtschaft nutzbar gemacht werden. Alles gedroschene und in Genossenschaftslagern oder Handelslagern liegende Getreide bildet die Unterlage für die Warrants, die ihrerseits ein geeignetes Mittel zur Beschaffung von Kredit bei landwirtschaftlichen Banken und auch zur Sparanlage für das wiedererstehende Sparkapital in den Sparkassen, Lebensversicherungsgesellschaften usw. bilden. Diese neue Form des landwirtschaftlichen Realkredites ist für beide Teile, Schuldner wie Gläubiger, bei richtigem Ausbau gegenwärtig viel zweckmäßiger als die Form des langfristigen Realkredites, bei dem das Kapital nur durch nichtliquide Werte, Boden und Gebäude, gedeckt ist.

Der Warrantkredit wird ergänzt durch den Ausbau der Anwendung von Getreidezertifikaten. Solche Verpflichtungsscheine des Landwirts zur Lieferung bestimmter Getreidemengen (Zertifikate) dienen ebenfalls der Beleihung, indem sie, durch Genossenschaften, Lagerhäuser, Händler und deren Banken giriert, als eine Art „Getreidewechsel“ eine gesicherte Pfandunterlage darstellen.

Sowohl die Warrants wie die Zertifikate werden über die großen landwirtschaftlichen Banken der Rentenbank-Kreditanstalt7 zugeführt und bilden für diese die Grundlage zur Ausgabe von Inhaberschuldverschreibungen, die damit ein von kommerziellen und industriellen Schwankungen völlig freies, nur auf landwirtschaftlicher Basis aufgebautes Zahlungsmittel für die Landwirtschaft darstellen.

7

Über Errichtung und Aufgaben der Dt. Rentenbank-Kreditanstalt s. Anm. 18 u. 19 zu Dok. Nr. 16 und Dok. Nr. 76, P. 2.

Einen Vorschlag zur praktischen Durchführung dieses für die Landwirtschaft entscheidend wichtigen Planes enthält die Anlage8.

8

In dieser Anlage (Überschrift: „Umgestaltung des landwirtschaftlichen Kreditwesens“), deren nachträgliche Übersendung mit Schreiben vom 6. 8. erfolgt, legt Schiele u. a. dar: Die wichtigste Voraussetzung für die Einführung eines Kreditverfahrens auf der Basis von Warrants und Zertifikaten sei die Einrichtung einer Verschuldungsgrenze für den landwirtschaftlichen Grund und Boden. Die geeignete Form dafür wäre „eine Schlußhypothek auf alle landwirtschaftlichen Grundstücke, die etwa die letzten 10% des Wertes erfassen und der Rentenbank-Kreditanstalt als dem gemeinsamen Selbstverwaltungskörper der Landwirtschaft verhaften würde.“ Eine solche Regelung würde nicht nur einem Wiederansteigen der Grundstückspreise vorbeugen, sie würde die Rentenbank-Kreditanstalt auch in die Lage versetzen, Schuldverschreibungen auf Grund der Schlußhypothek auf den gesamten dt. Grundbesitz auszugeben und als weitere Sicherheit für die so fundierten Schuldverschreibungen Warrents und Warenzertifikate zu benutzen. „Diese Schuldverschreibungen würden als ein besonderer Typ mit Stücken bis zu 100 Mark herunter auszubilden sein, im Unterschiede von den auf Grund von erststelligen Individualhypotheken ausgegebenen Schuldverschreibungen.“ Um die Rentenbank-Kreditanstalt hinsichtlich des Einganges der Gegenwerte der Warrents und Warenzertifikate vollkommen sicherzustellen, werde es notwendig sein, die Beleihung der Warrents und Warenzertifikate nicht unmittelbar durch die Rentenbank-Kreditanstalt erfolgen zu lassen, sondern durch die örtlichen Organe des landwirtschaftlichen Kredit- und Genossenschaftswesens (R 43 I /653 , Bl. 74-78).

 

Dieser Vorschlag, von Schiele am 17. 8. auch dem RbkPräs. unterbreitet, wird von Schacht mit Schreiben an den RIM vom 31. 8. mit großer Entschiedenheit zurückgewiesen. In dem Schreiben heißt es u. a.: „Das gedachte Umlaufmittel [d. h. die durch Warrents und Zertifikate gesicherten Schuldverschreibungen] wird, vorausgesetzt, daß es vom Verkehr überhaupt angenommen wird und also in Umlauf gesetzt werden kann, währungstechnisch wirken wie eine Vermehrung der Banknoten und der Rentenbankscheine. […] Selbst wenn das neue Geld währungstechnisch anders behandelt wird als die übrigen Zahlungsmittel, wenn es die Reichsbank, was zu erwarten ist, an ihren Kassen nicht in Zahlung nimmt, wird es – abgesehen davon, daß dann wahrscheinlich bald ein mehr oder weniger großes Disagio des neuen Umlaufmittels eintreten würde – das deutsche Geldwesen empfindlich stören und schädigen. […] Während z. B. bei der Diskontierung von echten Warenwechseln, die ja auch als Umlaufmittel dienen, der Warenumschlag schon erfolgt ist und die Bezahlung der Waren die Noten wieder an die Ausgabestelle zurückströmen läßt, handelt es sich hier doch im allgemeinen um ein unverkauftes Gut, das im Lager oder Speicher ruht und erst auf den Käufer wartet, das sogar bis zur Erzielung entsprechend höherer Preise absichtlich zurückgehalten werden kann oder, wie bei den Zertifikaten, vielleicht noch gar nicht lieferbar ist. Auf derartiger Grundlage ausgegebenes Geld bietet keinerlei Garantie für seinen regelmäßigen Rückfluß. Es ist reines Inflationsgeld mit allen währungszerstörenden Wirkungen.“ (Abschr. in R 43 I /653 , Bl. 51-55).

[477] Es bedarf nur noch eines Blickes darauf, daß der Immobiliarrealkredit unter den heutigen Verhältnissen versagen muß (15) und auf die unbedingte Sicherheit der hier vorgeschlagenen Form des Produktivkredites für die Landwirtschaft (16).

15. Die irrtümliche Hoffnung auf langfristigen Realkredit.

Dem Warrantkreditverfahren, wie es hier vorgeschlagen ist und wie es sich in Agrarländern bereits bewährt hat, hat bisher bei uns und besonders bei der Landwirtschaft der eingewurzelte Glaube an den langfristigen Realkredit entgegengestanden. Man hofft auf Pfandbriefe gegen Goldzinsen und womöglich gar darauf, daß das Ausland solche Pfandbriefe aufnehme. Vor der Hoffnung auf derartige Kredite ist dringend zu warnen. Es gibt fast keine Gläubiger, welche langfristige Anlagen suchen. Ist dies aber einmal erkannt, dann wird die Landwirtschaft begreifen, daß der Warrantkredit das Gebot der Stunde ist. Für die Seite der Gläubiger aber bedeutet er die einzige reelle Anlage, weil es die einzig liquide ist. Eine Lebensversicherungsgesellschaft, wie der Deutsche Beamtenverein, welche ihr Kapital gegen etwa 14% Zinsen an einen Grundbesitzer auf Hypothek gibt, muß sich ausrechnen, daß solche Zinsen von der Landwirtschaft nicht aufgebracht werden können, sondern daß sie vom Kapital gezahlt werden, daß also etwa in 5 Jahren das Kapital verloren, mindestens aber festgefroren ist.

16. Sicherheit der Produktivkredite für die Landwirtschaft.

Im Gegensatz zur Industrie ist die Landwirtschaft durchaus würdig, Produktivkredite zu erhalten, selbst im großen Umfange, und ist imstande, sie zurückzuzahlen. Während die industrielle Produktion nicht wirklich wertproduktiv ist, weil und so lange ihr der Markt fehlt, ist die landwirtschaftliche Produktion immer produktiv und kreditwürdig, weil sie ihres Marktes sicher ist, umsomehr, jemehr mit dem Nachlassen der kreditierten Einfuhr die Landwirtschaft sich intensiviert und erstarkt.

17. Niedriges Preisniveau.

Das Ziel muß sein, auf der ganzen Linie zu einem möglichst niedrigen Preisniveau zu kommen. Sowohl die Industriepreise wie die Nahrungsmittelpreise müssen möglichst niedrig liegen. Industrie- und Agrarzölle, die nur den[478] ausgesprochenen Zweck der Erhöhung des Preisniveaus haben, sind auf beiden Gebieten falsch. Solange die Futtermittel nach Deutschland zollfrei kommen oder nur mit geringen Zöllen belegt sind, wirken alle übrigen Agrarzölle nicht preiserhöhend, sondern nur umschaltend für den Bedarf vom Auslandmarkt auf den Binnenmarkt.

18. Arbeitslosigkeit.

Die schwierigste Aufgabe wird die Überwindung der Arbeitslosigkeit sein, welche im Gefolge der Industriekrise entstehen muß. Wir dürfen uns die riesigen sozialen Schwierigkeiten nicht verhehlen und müssen sofort kräftige Maßnahmen zu ihrer Überwindung einleiten. Es sind gewaltige Menschenmassen, deren Lage durch die Krise unmittelbar betroffen wird, und der Sozialpolitik fallen wichtigste Aufgaben zu, die ihr gerade für diese Krisenzeit besondere Bedeutung geben, ohne daß dabei das notwendige Gleichgewicht zwischen Sozialpolitik und Wirtschaft außer acht gelassen werden darf. Wir werden ähnliche Zustände bekommen wie England; dieses ist insofern besser daran als wir, weil ihm Auswanderungsmöglichkeiten offenstehen, – es ist schlechter daran als wir, weil es keine aufnahmefähige Landwirtschaft hat. Unsere Aufgabe ist es, den Menschenstrom, welcher vor dem Kriege vom Land in die Städte, in die Industrie, in die Bergwerke floß, umzuschalten in der Richtung auf die Landwirtschaft.

19. Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit.

Das Problem der Arbeitslosigkeit darf weder dadurch gelöst werden, daß übergroße Arbeitslosenunterstützungen die Massen, insbesondere Jugendliche, in den Städten halten, noch darf etwa ein Arbeitsheer gebildet werden, welches zwangsweise der Landwirtschaft über den Hals geschickt wird. Es muß eine Methode der freiwilligen Selbstauslese gefunden werden, welche diejenigen Elemente, die noch jung und bildsam sind, oder die aus der Landwirtschaft stammen, wieder dort hinführen, und diese Kräfte müssen der Intensivierung der Landwirtschaft und damit der Stärkung unseres inneren Marktes dienen. Die Intensivierung der Landwirtschaft kann noch gewaltige Massen von Arbeitskräften in eine nützliche, produktive Beschäftigung bringen. Das Polenheer von 400 000, welches vor dem Kriege in der Hackfruchtkultur beschäftigt wurde und welches sich auch heute noch auf 150 000 Menschen beläuft, kann ersetzt und verdoppelt werden. Nur müssen sozial gesunde Formen gefunden werden. Auch durch Meliorationen und Bodenverbesserungen können zahlreiche Arbeitskräfte nutzbringend zur Verbreiterung der heimischen Wirtschaftsbasis angesetzt werden. In diesem Aufgabenkreise darf die Errichtung von Landarbeiterwohnungen, darf auch die besonders aus nationalen Gründen dringlich notwendige bäuerliche Siedlung, besonders im Osten, nicht vergessen werden. Daß z. B. auch in der Bauwirtschaft dringlichste Aufgaben der Erfüllung harren, um die infolge Fehlens des Nachwuchses an Arbeitskräften katastrophalen Verhältnisse des Baumarktes zu gesunden, sei hier nur erwähnt.

20. Technisierung der Landwirtschaft.

Vermehrte Verwendung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft bedeutet auch vermehrten Bedarf an Maschinen, Arbeitsgerät, Kohle, Eisen, Textilien.[479] Es sei erinnert an die Untersuchungsergebnisse, nach denen der technische Aufwand pro Hektar früher M 50,– betrug, in intensiven Betrieben aber auf M 250,– pro Hektar steigt. Diese Entwicklung ist es, welche wir mit allen Kräften fördern müssen, weil sie uns eine Erstarkung des Binnenmarktes bringt und weil sie allein uns unabhängig macht von den schweren Gefahren, die eine passive Handelsbilanz einem Schuldnerstaate bringt. Nicht nur unsere wirtschaftliche, sondern auch unsere politische Unabhängigkeit ist dadurch bedingt, daß unser Ernährungsbedarf durch die einheimische Erzeugung gedeckt wird. Die Versorgung mit Nahrung ist etwas schlechthin Elementares; sie liegt aller Regierung, aller Volkswirtschaft, aller Währung oder Industrie zu Grunde und ist in diesem Sinne wichtiger als andere Faktoren zusammen. Ein Volk, das seinen Ernährungsbedarf im eigenen Lande deckt, kann manchen Rückschlag in Verwaltung, Währung sowie Finanzen aushalten. Ist diese Voraussetzung aber nicht gegeben, so sind Abhängigkeit und äußerer Druck das sichere Los, wenn eine Krise ausbricht.

21. Ziel ist das Gleichgewicht von Erzeugung und Verbrauch.

Mit solchem Programm werden Regierung und Volk imstande sein, die schweren, katastrophenähnlichen Zustände zu überwinden, die uns bevorstehen und die wir ertragen können und müssen, weil es sich um einen Heilungsprozeß handelt. Das Gleichgewicht von Verbrauch und Erzeugung muß erreicht werden. Es wird erreicht einmal durch Minderverbrauch und andererseits durch Mehrleistung, ersterer insbesondere in Bezug auf Luxuseinfuhr, letztere durch Umstellung aller Kräfte auf das richtige Feld, auf die Landwirtschaft, nicht dahin, wo schon zu viel Menschen sind, nämlich in der Industrie. 5/6 der Volkswirtschaft befinden sich immer im Gleichgewicht; es handelt sich nur um das letzte 1/6. Das Volk ist willig, geduldig, durch die Inflationsjahre belehrt. Es will nur geführt sein. Man zeige ihm den Weg, auf dem die Aufgabe lösbar ist9.

9

Eine Stellungnahme des RK zu dieser Denkschrift in den Akten nicht ermittelt. Dort lediglich ein kurzer Vermerk Pünders vom 2.12.25 mit der Anregung, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln und mit anderen Ressorts darüber nicht in Verbindung zu treten (R 43 I /653 , Bl. 80).

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