1.12.1 (lut2p): [Artikel 16 der Völkerbundssatzung, Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, allgemeine Abrüstung]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 14). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

Extras:

 

Text

RTF

[Artikel 16 der Völkerbundssatzung, Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, allgemeine Abrüstung]

Ganz geheim!

Herr Chamberlain eröffnet die Sitzung, indem er auf die Unterhaltungen Bezug nimmt, die am Sonnabendnachmittag [10. 10.] über den Artikel 16 stattgefunden haben1. Er bittet die Deutsche Delegation, sich dazu zu äußern, ob sie die Formel studiert habe, die das Ergebnis der Unterhaltungen gewesen sei. Die Belgische und die Italienische Delegation hätten schon Abschrift der Formel erhalten.

1

Aufzeichnungen über diese Besprechungen, die während einer Dampferfahrt auf dem Lago Maggiore abgehalten wurden, in den Akten der Rkei und des AA nicht ermittelt. Stresemann vermerkt hierzu nur, es sei über den Wortlaut einer von den Juristen vorbereiteten all. Interpretation des Art. 16 verhandelt worden. „Nach längeren Auseinandersetzungen haben wir den Text angenommen, der in Form einer offiziellen Note der Alliierten an Deutschland eine Interpretation des Artikels an Deutschland gibt, die zwar nur davon spricht, daß Rücksicht genommen werden solle auf die militärische und geographische Lage Deutschlands, eine Formel, die aber von uns als genügend angesehen wird.“ (Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 196). – Der frz. Text dieses Notenentwurfs befindet sich im Pol. Arch. des AA, Büro StS, FS Materialien für die Konferenz von Locarno, Bd. 15 app. 3. Er stimmt mit der frz. Endfassung der all. Note zu Art. 16 (RGBl. 1925 II, S. 1008 ) bis auf eine geringfügige Änderung, die am Ende dieser Vollsitzung vorgenommen wird, wörtlich überein.

Herr Stresemann erwidert, er habe die prinzipielle Stellungnahme der Deutschen Delegation zu dem Eintritt in den Völkerbund und zum Artikel 16 am Freitag zum Ausdruck gebracht2. Es habe sich für die Deutsche Delegation eine äußerst schwierige Position ergeben. Die Formel stelle die loyale Zusammenarbeit im Völkerbund, die ja eine Selbstverständlichkeit sei, in den Vordergrund und trage den deutschen Bedenken nur insoweit Rechnung, als der Maßstab der Mitwirkung bei Aktionen aus Artikel 16 nicht außer Verhältnis mit der geographischen und militärischen Lage stehen solle. Die Deutsche Delegation verstehe diesen Satz dahin, daß auch das Maß der Mitwirkung auf wirtschaftlichem Gebiet sich nach der Beurteilung der militärischen Situation richte. Es werde für die Deutsche Delegation außerordentlich schwierig sein, auch nur diese Formel zu Hause durchzusetzen. Wenn in Deutschland die sozialistische Presse für einen völligen Verzicht auf Vorbehalte aus Artikel 16 einträte, so schwäche dies nur die Stellung der Deutschen Delegation, weil es die Opposition gegen den Pakt erneut auf den Plan rufe. Die Deutsche Delegation wolle ihr Bestes tun, um die gefundene Formel und den Geist, aus dem heraus sie zustande gekommen sei, in das rechte Licht zu stellen, damit das Gelingen des Ganzen nicht gefährdet werde. Die Deutsche Delegation werde daher keine[713] weiteren Anträge hierzu stellen, ausgenommen den Antrag auf eine geringe redaktionelle Änderung.

2

Stresemann hatte den dt. Standpunkt hierzu bereits in der Vollsitzung am 8. 10. (Donnerstag) ausführlich dargelegt (Dok. Nr. 179).

Herr Stresemann führt weiter aus, er möchte eine andere Frage in diesen Zusammenhang hineinstellen und eine Antwort erbitten. Der prinzipielle Gegensatz, der der Auseinandersetzung aus dem Artikel 16 zu Grunde lag, sei durch die Abrüstungsfrage veranlaßt. Daher habe die Deutsche Regierung in ihrer Note auch darauf hingewiesen, daß es sich jetzt nur um eine Übergangszeit handele, bis die allgemeine Abrüstung durchgeführt sei, und habe um Berücksichtigung dieser Tatsache gebeten3. Wenn das Abkommen den gesetzgebenden Körperschaften in Deutschland zur Annahme vorgelegt werde, so werde die erste Frage sein: Bestehe wirklich eine Aussicht, daß die Entwaffnung auch tatsächlich in Angriff genommen werde?

3

In der Note an die frz. Reg. vom 20.7.25. S. Anm. 6 zu Dok. Nr. 174.

Man verfolge in Deutschland die Arbeit des Völkerbundes mit Mißtrauen, teilweise aus technischen Gründen, weil man sich nicht denken könne, daß ein so schwieriger und umständlicher Apparat wirklich wirksame Arbeit leisten könnte; teils aus sachlichen Gründen, weil die bisher erzielten Resultate noch so geringfügig seien.

Die Deutsche Regierung könne sich mit der vorgeschlagenen Formel nur begnügen, wenn sie überzeugt sein könnte, daß die nächste große Tat des Völkerbundes die Abrüstung sein werde und wenn die an der Konferenz beteiligten Mächte wirklich ernstlich gewillt seien, die Abrüstung durchzuführen.

Herr Chamberlain faßt die Ausführungen des Vorredners in die Frage zusammen, ob die Deutsche Delegation ermächtigt werden könnte, zu Hause zu sagen, daß die hier beteiligten Mächte die Abrüstung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch durchführen wollten.

Herr Briand sagt, für den, der die Arbeit der letzten beiden Völkerbundsversammlungen und des Völkerbundsrats verfolgt habe, unterliege die Frage keinem Zweifel, daß die öffentliche Meinung in fast allen Ländern für die Abrüstung sei. Es sei auch der lebhafte Wunsch Frankreichs, die Abrüstung durchzuführen, weil die Rüstungslasten zu große persönliche und finanzielle Opfer erforderten. Aber einer der Gründe, die am meisten zum Gelingen der Konferenz beitragen könnten, sei die Notwendigkeit, für den Völkerbund genügende Kräfte zur Verfügung zu haben, um eine Sanktion durchzuführen; Voraussetzung sei dafür die Mitwirkung aller Mitglieder. Wenn aber von 52 Mitgliedern 20 nicht mitmachten, dann seien die anderen gezwungen, eine noch größere Last auf sich zu nehmen. So werde die Sache nicht gefördert. Der Völkerbund habe in seiner vorletzten Sitzung den Aufbau einer Organisation in Aussicht genommen, um die Möglichkeit der Brachialgewalt zu schaffen. Es sei also schon eine gewisse Methode beim Völkerbund für den Fortgang dieser Verhandlungen geschaffen worden. Von französischer Seite würden also dem deutschen Wunsche in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten gemacht werden, unter dem Vorbehalt allerdings, daß alle Mitglieder des Völkerbundes im gleichen Sinne mitarbeiteten.

[714] Deutschland würde Gelegenheit haben, alle die Grundsätze, welche speziell diese Frage beträfen, in Genf geltend zu machen. Redner bemerkt, er wünsche ganz besonders die Durchführung der allgemeinen Entwaffnung in möglichst kurzer Frist.

Alle die Wünsche, die Deutschland hinsichtlich der allgemeinen Entwaffnung hege, würde es in naher Zeit im Völkerbund vorzubringen in der Lage sein. Frankreich habe schon viel in der Richtung der Entwaffnung unternommen, z. B. seine militärische Dienstzeit abgekürzt und auch bei der Marine erhebliche Ersparnisse erzielt. Wenn der Pakt durchgeführt werde, würden alle anderen Verhandlungen wesentlich erleichtert werden.

Die Französische Delegation werde auch infolge der innerpolitischen französischen Strömungen vor eine schwierige Aufgabe gestellt werden.

Herr Stresemann erwidert, die Darlegungen des Herrn Briand hätten ihn in gewissem Sinne erschreckt, wenigstens der erste Teil seiner Rede. Herr Briand sage, daß, wenn von 52 Mitgliedern des Völkerbundes 20 nicht mitmachten, für die anderen die Notwendigkeit einträte, nun erst recht ihre Rüstung aufrechtzuerhalten, damit die Völkerbundsaktion durchgeführt werden könne. Dieser Standpunkt bedeute eine Stabilisierung der Ungleichheit der Bewaffnung. Eine nicht gleichmäßige Bewaffnung werde mit dem idealen Zweck begründet, daß man dem Völkerbunde helfen müsse.

Herr Briand habe die Einschränkung gemacht, es sei sein Wunsch, eine Konstruktion zu finden, die einen Ausweg ermögliche. Er habe dabei wohl angespielt auf Bestrebungen, die dem Genfer Protokoll4 zu Grunde lägen. Aber die Aufnahme, die das Genfer Protokoll bei den verschiedenen Völkern gefunden habe, zeige, daß es nur eine Hoffnung sei und keine Realität. Wenn man der Deduktion von Herrn Briand folge, dann müßte aus der Entwaffnung Deutschlands die Bewaffnung anderer Völker folgen. Der Reichstag werde sich solchen Argumentationen zweifellos nicht anschließen; sie ständen auch im Widerspruch zu dem Hinweis von Herrn Briand, daß immerhin noch erhebliche Streitkräfte und Mittel zusammenkämen, wenn jedes Mitglied nur 100 000 Mann oder auch weniger zur Verfügung habe5.

4

„Genfer Protokoll für die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten“, angenommen von der Völkerbundsversammlung und den Bundesmitgliedern zur Ratifikation empfohlen am 2.10.24. Das Protokoll wurde u. a. von der brit. Reg. nicht ratifiziert und konnte daher nicht in Kraft treten. Zum Inhalt s. Anm. 5 zu Dok. Nr. 50.

5

Bemerkung Briands in der Vollsitzung am 8. 10. (Dok. Nr. 179).

Deutschland erstrebe eine gleichmäßige, in ihrer Gesamtheit aber genügende Bewaffnung. Herr Briand habe im letzten Teil seiner Rede gesagt, Frankreich habe seine Flottenausgaben eingeschränkt und seine Dienstzeit herabgesetzt. Diese Bestrebungen seien wohl anzuerkennen, aber das Prinzip der Einzelentwaffnung sei nicht maßgebend. Er möchte übrigens bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß die Besatzungsarmee im besetzten Gebiet viel größer sei als die Garnisonen, die das als militaristisch bezeichnete Deutschland vor dem Kriege dort unterhalten habe6.

6

Vgl. Anm. 2 zu Dok. Nr. 170.

[715] Die Entwaffnungsfrage müsse von den Intentionen einzelner Völker abgetrennt und mehr zu einer Aufgabe aller Völker gemacht werden. Wenn der Völkerbund sich auf moralischer Basis aufbaue, so müsse er auch zu dieser Arbeit beitragen. Die Konferenz von Locarno könne von weltgeschichtlicher Bedeutung sein, in wirtschaftlicher und politischer Beziehung, so daß man ihre Folgen noch gar nicht absehen könne. Sie könne auch der Ausgangspunkt für eine neue moralische Einstellung der Welt sein, weil jetzt gerade diejenigen Völker eine Einigung finden wollten, die sich im Kriege bekämpft hätten. Wenn die Konferenz von Locarno aber solche Wirkungen haben solle, dann müsse ihre Folge auch die Annahme des Prinzips der Entwaffnung sein. Das allein ermögliche der Deutschen Delegation die außerordentlich schwere Belastung des Artikel 16 zu tragen, zumal da auch Deutschlands Verhältnis zu Rußland durch diesen Artikel erschwert werde.

Herr Stresemann schließt mit den Worten: Er wäre dankbar, wenn die einschränkenden Bemerkungen Herrn Briands im ersten Teil seiner Rede nur als Reflektionen über bestehende Zustände angesehen werden könnten, als Programm aber im Prinzip die allgemeine Entwaffnung statuiert werden könnte.

Herr Briand erklärt, er möchte eine kleine Berichtigung aussprechen: Er habe nicht gesagt, daß eine bestimmte Anzahl von Nationen eine größere Anstrengung in militärischer Hinsicht machen müßte, wenn einzelne Völkerbundsmitglieder erklärten, daß sie sich an militärischen Aktionen nicht beteiligen könnten. Das solle nicht das Programm sein. Er habe gesagt: Wenn man sich die deutschen Ausführungen zu eigen mache, dann könnte die Folge sein, daß einzelne Völker sich zu um so stärkeren Rüstungen verpflichtet fühlten.

Was seine Ausführungen über die Abrüstung in Frankreich beträfe, so hätten seine dahingehenden Mitteilungen nur Einzelheiten gegeben und wären keine prinzipiellen Erklärungen gewesen. Die Französische Regierung habe selbst die Anregung zu den wichtigsten Anträgen im Genfer Protokoll gegeben.

Die betreffenden Anträge werden von Herrn Briand verlesen.

Herr Briand schließt, er hoffe, daß die Deutsche Regierung ihre rigorose Stellung hinsichtlich des Artikel 16 abschwächen werde.

Her Chamberlain verliest einen Passus aus dem Protokoll der diesjährigen Genfer Verhandlungen vom 26. September 1925 und fügt hinzu, diese Resolution7 hätte eine viel größere Bedeutung gehabt, wenn sie erst nach dem erfolgreichen Abschluß der Konferenz von Locarno gefaßt worden wäre. Deswegen habe er ihre Aussichten auch zurückhaltend beurteilt. Er habe darum auch in Genf nicht weiter gehen wollen, weil er die Konferenz von Locarno abwarten wollte. Der Völkerbund sei also mit der Angelegenheit schon befaßt. Er[716] lege das höchste Gewicht darauf, daß auch ein deutscher Vertreter in der Entwaffnungskommission des Völkerbundes mitarbeite.

7

Auf Ersuchen der Vollversammlung (25. 9.) hatte der Völkerbundsrat am 26.9.25 die Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung einer Abrüstungskonferenz beschlossen. In der diesbez. Resolution des Rates heißt es über die Aufgaben der Kommission u. a.: „2. De procéder au travaux nécessaires pour déterminer les questions qu’il convient de soumettre à une étude préparatoire, en vue d’une conférence éventuelle pour la réduction et la limitation des armaments, et d’élaborer des propositions concrètes à présenter au Conseil à ce sujet.“ (Société des Nations, Journal Officiel 1925, Nr. 10, S. 1390). Vgl. Anm. 9 zu Dok. Nr. 260.

Herr Briand stimmt dieser Bemerkung zu.

Herr Chamberlain fährt fort, wenn der Pakt zustande käme, würde die Englische Regierung ihr möglichstes tun, um in der Entwaffnung zu einem Ergebnis zu gelangen. Bisher habe das Gefühl der Sicherheit gefehlt. Die Alliierten erkennten aber ihre Verpflichtung an, daß die Entwaffnungsfrage, wenn der Pakt zustande gekommen wäre, auf das nachdrücklichste verfolgt werden müsse.

Herr Vandervelde sagte, daß die gefundene Formel den großen Vorteil habe, eine Einigung darzustellen, die zwischen drei großen Mächten zustande gekommen sei. Die Belgische Delegation habe an dem Text der Formel zu Artikel 16 nicht mitgearbeitet und bitte daher um einige Aufklärung. Der erste Absatz der Kollektivnote weise darauf hin, daß die Deutsche Regierung um Erklärungen ersucht habe. Daher sei die Kollektivnote wohl als eine Antwort auf die deutschen Bemerkungen anzusehen, die bei der Sitzung vom 8. Oktober vorgebracht worden seien. Die Deutsche Delegation habe Nachdruck auf die Unmöglichkeit einer direkten oder indirekten militärischen Aktion oder einer Teilnahme an wirtschaftlichen Sanktionen gelegt. Auf diese Frage habe eine Antwort gegeben werden müssen. Die Note stelle nun fest, daß die Alliierten nicht zuständig seien, im Namen des Völkerbundes zu sprechen. Sie füge dann hinzu, daß die Alliierten infolge der Diskussion in der Völkerbundsversammlung und infolge der vorbereitenden Arbeiten verschiedener Kommissionen des Völkerbundes in der Lage seien, übereinstimmend eine durch den Völkerbund vorgenommene Interpretation des Artikel 16 zu bekräftigen.

Herr Chamberlain unterbrach hier, um darauf hinzuweisen, daß dies nicht der Zweck des Notenentwurfes sei. Die Alliierten unterstützten nicht eine Auslegung, die einstimmig die Zustimmung der Völkerbundsversammlung gefunden habe. Sie stellten lediglich die Auslegung fest, die sie ihrerseits dem Artikel 16 gäben.

Herr Vandervelde bemerkte, daß dies eine schwierige Frage sei. In den dritten Absatz des Notenentwurfes sei ein Teil des Genfer Protokolles übernommen worden, und die Note geht daher nicht weiter als die Völkerbundsversammlung gegangen sei. Er möchte deswegen auf eine Frage, die Herr Stresemann gestellt habe, eingehen und um Aufklärung bitten. Es sei nicht klar, ob der dritte Absatz des Notenentwurfes die wirtschaftlichen Sanktionen mit einbegreife.

Herr Vandervelde verliest sodann Artikel 11 Absatz 2 des Genfer Protokolles8 und zieht aus dem Wortlaut die Folgerung, daß die Verfasser des Artikel[717] 11 nur an militärische, aber nicht an wirtschaftliche Sanktionen gedacht hätten. Es sei ihm nicht sympathisch, die Frage offenzulassen, ob eine Nation hinsichtlich der wirtschaftlichen Sanktionen untätig bleibe oder nicht.

8

Art. 11 des Genfer Protokolls (s. Anm. 4) bestimmt in Abs. 1: Sobald der Völkerbundsrat zu Sanktionen gegen einen Angreifer aufgerufen hat, treten die Verpflichtungen der Signatarstaaten des Protokolls mit Bezug auf die Sanktionen nach Art. 16 der Völkerbundssatzung sofort in Kraft. In Abs. 2 heißt es dann: „Diese Verpflichtungen müssen in dem Sinn ausgelegt werden, daß jeder der Signatarstaaten gezwungen ist, in loyaler und wirksamer Weise mitzuarbeiten, um der Satzung des Völkerbundes Achtung zu verschaffen und sich jedem Angriff entgegenzustellen in dem Maße, wie das ihm seine geographische Lage und die besonderen Verhältnisse seiner Rüstungen erlauben.“

Bei der zweiten Völkerbundsversammlung9 habe man allgemein angenommen, daß zuweilen der Völkerbundsrat sich für Maßregeln wirtschaftlicher Art einsetzen könne.

9

5. 9. bis 5.10.1921 in Genf.

Die Auslegung der Belgischen Regierung gehe viel weiter, weil nach ihrer Ansicht nicht nur der Völkerbundsrat, sondern jede einzelne Nation das Maß ihrer wirtschaftlichen Beteiligung bestimmen könne. Aber die Diskussion bewege sich mehr im Gebiet des Irrealen. Die Hauptsache sei der Sicherheitspakt selbst und sein Zustandekommen. Die Belgische Delegation wolle sich daher der vorgeschlagenen Formel nicht widersetzen. Sie habe zwar die Bedenken gehabt, die er ausgesprochen habe, aber sie wolle die Formel doch annehmen.

Hinsichtlich der Entwaffnungsfrage sei seine Antwort klar: Die Streitkräfte Belgiens seien nur für die Verteidigung bestimmt; Belgien wolle die Bewaffnung möglichst herabsetzen; der Pakt und seine Auswirkungen würden das Sicherheitsgefühl steigern und alle Entwaffnungsmaßnahmen würden dadurch gefördert werden. Belgien würde sein möglichstes tun, um diese Entwicklung zu fördern.

Herr Chamberlain legt Wert darauf, daß volle Klarheit über diesen Punkt bestehe. Nach den Äußerungen von Herrn Vandervelde müsse er eine Erklärung abgeben, damit kein Zweifel irgendwie aufkommen könne.

Es sei unmöglich für ihn, nach London zurückzukehren und dem englischen Parlament zu sagen, daß der Zweck des kollektiven Notenentwurfes gewesen sei, Deutschland ein Recht auf Neutralität hinsichtlich des Artikel 16 zu geben. Nach seiner Ansicht habe die Deutsche Delegation nicht Neutralität gefordert und fordere sie auch jetzt nicht. Sie habe nur darum ersucht, daß gegebenenfalls die gegenwärtige Lage Deutschlands bei der gegenwärtigen Lage Europas in Berücksichtigung gezogen werden solle. Von niemand könne eine Mitwirkung über das Maß seiner Leistungsfähigkeit gefordert werden. Deutschland könne offenbar nicht ersucht werden, Truppen zur Verfügung zu stellen, die es nicht besäße. Kein Land könne gebeten werden, militärische Streitkräfte, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung im eigenen Lande gebraucht würden, ins Ausland zu schicken. Nur der Überschuß nach Abzug des inneren Bedarfes könne dem Völkerbund zur Verfügung gestellt werden.

Was die wirtschaftlichen Sanktionen beträfe, so interpretiere er sie im Zusammenhang mit einer Resolution, die den Artikel 16 des Völkerbundsstatus abändere und von der zweiten Völkerbundsversammlung am 4. Oktober 1921 angenommen worden sei10.

10

Die Resolution lautet: „The third paragraph of Article 16 shall read as follows: The Council will notify to all Members of the League the date which it recommends for the application of the economic pressure under this article.“ (Société des Nations, Journal Officiel 1922, Nr. 2, S. 23).

Herr Chamberlain verliest den Wortlaut der Resolution vom 4. Oktober 1921 und fügt hinzu, daß sie allerdings nicht von einer genügenden Anzahl[718] von Mitgliedern des Völkerbundes ratifiziert worden sei; an demselben Tage aber habe die Versammlung eine Resolution des Inhalts angenommen, daß die Abänderungsanträge zu Artikel 16, die von der Völkerbundsversammlung angenommen worden seien, als Richtlinien angesehen werden sollten, solange sie noch nicht formell in Kraft getreten seien11.

11

Ebd., S. 25.

Herr Chamberlain schließt mit den Worten, indem er dem Notenentwurf zugestimmt habe, habe er die offenbare Tatsache anerkannt, daß keine Nation das geben könne, was sie nicht besäße oder mehr als sie besäße und daß man, wenn man an eine Nation das Ersuchen richte, einem anderen Völkerbundsmitgliede zu helfen, die besondere Lage jeder Nation berücksichtigen müsse und daß man selbst bei wirtschaftlichen Fragen die Grundsätze annehmen müsse, die die Völkerbundsversammlung als Richtlinien für den Rat aufgestellt habe. Er hoffe, daß hinsichtlich dieser Aufklärungen, die er über den Zweck ihres Notenentwurfes gegeben habe, Einstimmigkeit herrsche.

Herr Scialoja stimmt Herrn Chamberlain zu.

Herr Luther weist darauf hin, Deutschland habe nie gesagt, daß es unter allen Umständen untätig bleiben wolle. Er habe nur auf seine besondere Lage in militärischer und geographischer Hinsicht hingewiesen. Er glaube, daß die Diskussion den großen Problemen, die Herr Stresemann erwähnt habe, einen neuen Antrieb gegeben habe. Deutschland wünsche die Durchführung der Entwaffnung und wünsche auch, daß aus der Konferenz in Locarno in dieser Beziehung sich weitere Fortschritte ergäben.

In der ganzen Diskussion sei zum Ausdruck gekommen, daß Deutschland sich in ganz anderer Lage befände als die anderen Staaten. Daraus erkläre sich auch die deutsche Forderung, daß die allgemeine Entwaffnung durchgeführt werde. Es sei heute in der Debatte viel von der Art und der Methode des Verfahrens die Rede gewesen. Für ihn sei aber nicht die Methode das Wichtigste, sondern das Ziel. Man müsse eine Formel für dieses Ziel finden. Man könne vielleicht sagen, daß für alle Völkerbundstaaten eine Bewaffnung erstrebt werde, die so gering sein müsse wie möglich, aber allgemein sein solle und im Verhältnis zu der Bewaffnung anderer Mächte stehen müsse. Wenn die Deutsche Delegation im Reichstag sagen könnte, daß alle bei der Konferenz in Locarno vertretenen Staaten mit vollem Ernst dasselbe Ziel verfolgten, so wäre damit ein großer Schritt vorwärts getan.

Herr Briand weist darauf hin, man habe bei dem heutigen Gedankenaustausch gesehen, daß die Debatte auf eine weitgehende Interpretation des Artikel 812 hinauslaufe. In diesem Sinne habe der Völkerbundsrat auch schon gearbeitet. Deutschland könne in viel stärkerem Maße an dem Ausbau des Artikel 8 mitarbeiten, wenn es in den Völkerbund einträte.

12

Artikel der Völkerbundssatzung. In Abs. 1 bekennen sich die Bundesmitglieder zum Prinzip der allgemeinen Abrüstung. Abs. 2 bestimmt: „Der Rat entwirft unter Berücksichtigung der geographischen Lage und der besonderen Verhältnisse eines jeden Staates die Abrüstungspläne und unterbreitet sie den verschiedenen Regierungen zur Prüfung und Entscheidung.“

[719] Herr Luther regt erneut an, daß man eine neue Methode finden müsse und daß diese neue Methode in einer entsprechenden Formel sich ausdrücken müsse.

Herr Briand wiederholt, daß Deutschland im Völkerbundsrat alle Vorschläge machen könne, die ihm geeignet schienen, um die Arbeit zu beschleunigen und aus dem Gebiet des Theoretischen in das Praktische hinüberzuleiten.

Herr Luther regt erneut an, ob man sich nicht jetzt schon über eine Formel einigen könnte.

Herr Chamberlain meint, es ständen keine Bedenken im Wege, die Erklärung hier abzugeben, daß die auf der Konferenz von Locarno vertretenen Staaten sich verpflichteten, zur praktischen Arbeit zu schreiten, um den Artikel 8 seiner Verwirklichung entgegenzuführen. Er fragt, ob eine solche Erklärung im Sinne der Deutschen Delegation sei.

Herr Luther erwidert, daß diese Erklärung zweifellos einen gewissen Wert habe. Er suche aber das Ziel, daß die Bewaffnung minimal, aber proportional sein solle.

Herr Chamberlain sagt zu dem Wort „proportional“: Die hier vertretenen Staaten könnten der Deutschen Delegation nicht das Versprechen geben, in einem Maße zu entwaffnen, das der Entwaffnung Deutschlands entspreche, aber sie könnten das Versprechen geben, daß sie zu praktischer Arbeit fest entschlossen seien.

Herr Briand sagt, er erkenne die Begründung der deutschen Befürchtung an sich voll an. Die Frage der Entwaffnung sei ein so umfangreiches Thema, daß ihr eine besondere Konferenz gewidmet werden müsse. Auch er sei bereit, eine Erklärung abzugeben, die sich auf den Artikel 8 beziehe.

Herr Vandervelde schlägt eine Formel vor, die im Sinne der deutschen Auslegung gehalten sein soll und sich auf Artikel 8 bezieht.

Herr Briand meint dazu, die Formel könne noch einen allgemeineren Wortlaut haben, etwa in der Form, daß sie sich an die Völker richte und das Ergebnis der Konferenz zusammenfasse13.

13

Eine solche Erklärung wird in das Schlußprotokoll des Locarno-Pakts aufgenommen. Die Vertreter der beteiligten Regg. bringen darin die Überzeugung zum Ausdruck, daß die Inkraftsetzung der Verträge, „indem sie Frieden und Sicherheit in Europa festigt, das geeignete Mittel sein wird, in wirksamer Weise die im Artikel 8 der Völkerbundssatzung vorgesehene Entwaffnung zu beschleunigen“. Außerdem verpflichten sie sich, an den Abrüstungsinitiativen des Völkerbundes mitzuwirken und in allgemeiner Verständigung die Verwirklichung der Entwaffnung anzustreben. S. RGBl. 1925 II, S. 977 .

Herr Vandervelde stimmt dem zu.

Herr Stresemann erinnert daran, daß er von einer redaktionellen Änderung gesprochen habe. Er schlage vor, daß in Absatz 3 der für Artikel 16 in Aussicht genommenen Formel14 statt der Worte: „hors de proposition avec“ die Worte: „compatible avec“ gesetzt werden. Die doppelte Negation der bisherigen Formel sei nicht ins Deutsche zu übersetzen.

14

Vgl. oben Anm. 1.

Diese Formulierung wird angenommen.

[720] Der Termin für die nächste Sitzung soll bei den Besprechungen des heutigen Nachmittags beschlossen werden. Es wird zum Schluß über den Inhalt eines Presse-Kommuniqués beraten.

Schluß der Sitzung 12 Uhr 30.

gez. von Dirksen

Extras (Fußzeile):