1.77 (lut2p): Nr. 246 Vermerk über Besprechungen des Reichspräsidenten mit Vertretern verschiedener Reichstagsfraktionen zur Frage der Großen Koalition am 7. Dezember 1925

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[985] Nr. 246
Vermerk über Besprechungen des Reichspräsidenten mit Vertretern verschiedener Reichstagsfraktionen zur Frage der Großen Koalition am 7. Dezember 1925

R 43 I /1307 , Bl. 86-881

1

Der vom 7. 12. datierte Vermerk ist nicht unterzeichnet, Hinweise auf den Verfasser fehlen in den Akten der Rkei.

Staatssekretär Meissner teilt mit:

Der Präsident hat heute vormittag die Parteien von Sozialdemokratie bis Deutschnationalen empfangen mit Ausnahme der Wirtschaftspartei und der Bayerischen Volkspartei, die heute nachmittag zu ihm kommen2.

2

Aktenmäßige Unterlagen über den Empfang der beiden letztgenannten Parteien nicht ermittelt. Nach „Tägliche Rundschau“ vom 8. 12. nahmen an den Empfängen teil: für die SPD Müller-Franken und Dittmann, für die DNVP Graf Westarp und Thomsen, für das Zentrum Marx und Bell, für die DVP Scholz und Curtius, für die DDP Koch-Weser und Erkelenz, für die WV Drewitz und Mollath, für die BVP Leicht. Zum Verlauf der Besprechungen heißt es in der Zeitung: Hindenburg habe erklärt, „daß er angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Winters die Bildung der sogenannten Großen Koalition für wünschenswert erachte, sofern sich hierfür ein gemeinsames Arbeitsprogramm erreichen ließe“. Er habe die Fraktionsvertreter ersucht, in der eigenen Partei und durch interfraktionelle Zusammenabeit die Frage der Arbeitsgrundlagen zu klären und ihm das Ergebnis alsbald mitzuteilen.

Das Ergebnis ist folgendes:

1. Sozialdemokraten.

Gestern Löbe3, wie heute Müller-Franken und Dittmann, sprachen sich pessimistisch über das Zustandekommen der Großen Koalition aus. In der Fraktion sei eine starke Gegnerschaft gegen die Koalition, wenn auch Müller-Franken persönlich bereit sei. Die Gründe der Gegnerschaft seien, daß die jetzige wirtschaftliche Lage durch die Wirtschaftspolitik des jetzigen Kabinetts hervorgerufen sei und die Sozialdemokraten an den Folgen nicht teilnehmen wollen. Weiter wolle die Deutsche Volkspartei die Große Koalition nicht ernsthaft; das ginge aus dem Verhalten von Scholz4 hervor. Sie könnten der Großen Koalition nur zustimmen auf Grund eines fest aufgestellten Programms, da sonst nach kurzer Zeit die Deutsche Volkspartei wieder fortlaufen würde. Ihren endgültigen Entschluß würden sie Mittwoch [9. 12.] mitteilen5.

3

Bei dieser Unterredung zwischen Hindenburg und Löbe wurde lt. Pressemeldungen die parlamentarische Lage kurz erörtert („Tägliche Rundschau“ vom 7. 12.).

4

Vgl. Dok. Nr. 241.

5

Vgl. unten Anm. 9.

2. Deutschnationale.

Sie warnen vor der Großen Koalition. Als der Präsident sie fragte, ob sie gegenüber einem Kabinett der Mitte wohlwollende Neutralität halten würden, verneinten sie nicht, waren aber etwas laurig [!]. Hauptsächlich betonten sie, man dürfe nicht zu schnell in den Völkerbund eintreten. Meissner glaubt, herausgehört zu haben, daß sie, wenn die Regierung sofort den Eintritt anmeldet, ein Mißtrauensvotum einbringen würden. Der Reichspräsident will zu diesen[986] Punkten seinen Einfluß aufbieten, um die Deutschnationalen dennoch zu wohlwollender Neutralität zu bringen, falls das Mittelkabinett zustande kommt.

3. Zentrum.

Sie befürworten die Große Koalition. Auf die Frage des Präsidenten, was sie tun würden, wenn die Große Koalition scheitert, erwiderten sie, hierzu sei noch kein Beschluß gefaßt. Es ging aber aus ihrem Verhalten eine gewisse Abneigung hervor, sich an der Minderheitskoalition zu beteiligen. Der Präsident sagte ihnen dann, das Zentrum hätte ja schon vor einiger Zeit durch Herrn Fehrenbach zu vermitteln gesucht, sei aber ohne Erfolg geblieben6. Das Zentrum solle doch erneut Fühlung mit Sozialdemokratie und Volkspartei nehmen. Marx sagte dies zu und wird es tun.

6

Vgl. die Aufzeichnung Pünders vom 4. 12. (Dok. Nr. 241).

4. Volkspartei.

Scholz führte aus, daß er persönlich gegen die Große Koalition sei, aber eine Mehrheit seiner Partei sei grundsätzlich der Großen Koalition nicht abgeneigt, wenn eine Arbeitsgrundlage gefunden würde7. Scholz glaubt, daß die Koalition an den wirtschaftlichen Forderungen der Sozialdemokratie scheitern wird (Meissner hat den Eindruck, daß Sozialdemokratie und Volkspartei sich gegenseitig die Schuld am Scheitern aufbürden wollen). Der Präsident erwiderte, die Parteien müßten jetzt Fühlung nehmen, um die Lage zu klären. Scholz entgegnete, es sei wohl zweckmäßig, wenn jetzt L[uther] betraut würde, damit er die Klärung herbeiführe. Darauf meinte der Präsident, daß er dies nach den Ausführungen von Herrn Scholz und der Sozialdemokratie erst recht nicht tun wolle, da es danach aussähe, als ob das Scheitern wahrscheinlicher wäre. Dann aber würde L[uther] unnötig exponiert und immerhin so belastet, daß er es schwerer haben würde, eine kleine Koalition zu bilden, die sich etwa auf Rechts stützen müßte. Scholz sah dies ein und wird via Marx sich an der Fühlungnahme der Parteien beteiligen.

7

Über die Beteiligung der DVP entscheidet der Fraktionsvorstand endgültig am 9. 12. Im Sitzungsprotokoll ist vermerkt: „Dr. Scholz stellt fest: Einigkeit darüber, daß die DVP zu Verhandlungen mit dem Ziele der Bildung einer Großen Koalition bereit sei, daß aber kein bedingungsloser Eintritt in Frage komme. Aufstellung eines Wirtschaftsprogramms erforderlich. Scheitert die Große Koalition, so kann sie nur an den Sozialdemokraten scheitern.“ (R 45 II /66 , Bl. 60-62).

5. Demokraten.

Nur die Große Koalition sei zu empfehlen. An einer anderen würden sie sich „kaum“ beteiligen. Sie boten ihre guten Dienste zur Vermittlung mit den anderen Parteien an, was der Präsident dankbar annahm8.

8

Koch-Weser vermerkt hierzu am 7. 12. u. a.: Hindenburg wolle wieder den alten, viel bekämpften Weg gehen, „zunächst eine sachliche Einigung der Parteien herbeizuführen und erst dann eine Persönlichkeit mit der Kabinettsbildung zu beauftragen, während wir ja immer im Sinne der Verfassung gewünscht haben, daß nicht die Parteien untereinander verhandeln, die schwer zu vereinen sind, sondern daß der Beauftragte mit den Parteien verhandelt und dabei seine Persönlichkeit einsetzt. […] Als er dagegen die Frage einer Minderheitsregierung anschnitt und ich ihm auseinandersetzte, daß eine solche Regierung bei allen unpopulären Maßnahmen die Gegnerschaft aller nichtbeteiligten Parteien finden werde, schien ihm das einzuleuchten, wenn er auch nur bestätigte, ja, die Parteien denken leider oft zu sehr an sich und nicht ans Vaterland“ (Nachlaß Koch -Weser, Bd. 32).

Hiernach fehlt zur Frage der grundsätzlichen Bereitschaft zur Großen Koalition nur die endgültige Erklärung der Sozialdemokraten. Diese wird bis Mittwochabend[987] vorliegen9. Am Donnerstag werden dann wohl die Verhandlungen über ein Programm beginnen10.

9

Die Erklärung der SPD wird dem RPräs. erst am Abend des 10. 12. übergeben. Die Fraktion erklärt sich zu Verhandlungen über die Bildung eines Kabinetts der Großen Koalition unter der Bedingung bereit, daß hierbei u. a. folgende Programmpunkte vorrangig erörtert würden: offenes Eintreten für die Republik, entschiedene Abwehr monarchistischer Restaurationsversuche; Wiederherstellung des achtstündigen Normalarbeitstages; baldige Verabschiedung eines Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung; Handelspolitik mit dem Ziel der Förderung des industriellen Exports; Schaffung eines endgültigen Reichswirtschaftsrats; reichsgesetzliche Regelung der Fürstenabfindung mit rückwirkender Kraft; baldiger Eintritt Deutschlands in den Völkerbund (Schultheß 1925, S. 189).

10

Diese Verhandlungen werden vom RPräs. am Abend des 10. 12. durch Unterredungen mit Luther und Scholz sowie am 11. 12. durch Besprechungen mit Vertretern der übrigen beteiligten Fraktionen eingeleitet. Dabei wendet sich Luther, dessen Betrauung allgemein erwartet wird, scharf gegen die zunehmende Neigung der Parteien, immer weitgehendere sozialpolitische Forderungen in die Vorbereitungen der Regierungsbildung hineinzutragen. Zentrum und DDP lehnen ihn daraufhin als nicht geeignet ab. Infolgedessen richtet der RPräs. am 12. 12. an Koch-Weser und Fehrenbach die Anfrage, ob sie bereit seien, ihrerseits die Kabinettsbildung zu versuchen. Als Fehrenbach am folgenden Tage mit der Begründung ablehnt, die Zentrumsfraktion wolle weder die Führung der Verhandlungen übernehmen noch Anspruch auf den Kanzlerposten erheben, beauftragt der RPräs. (14. 12.) Koch-Weser mit der Regierungsbildung auf der Grundlage der Großen Koalition (nach „Tägliche Rundschau“ vom 11.–14. 12.; Schultheß 1925, S. 189 f.). – Über den Gesamtverlauf der Verhandlungen zur Regierungsbildung bis zum Zusammentritt des zweiten Kabinetts Luther vgl. Blunck, Der Gedanke der Großen Koalition in den Jahren 1923–1928, S. 143 ff.; Haungs, Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung, S. 94 ff.; Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924–1928, S. 127 ff. – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 256.

Der Präsident will in keiner Weise drängen, ist aber entschlossen, die ganze Sache klar und offensichtlich durchzuexerzieren.

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