1.3 (ma11p): Die Stabilisierung der Währung und der Finanzen

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Die Kabinette Marx I und II, Band 1 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

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Die Stabilisierung der Währung und der Finanzen

Der währungspolitische Kurs der Regierung Marx war durch die unter der Kanzlerschaft Stresemanns getroffenen Entscheidungen weitgehend vorgezeichnet.[XX] Der Weg der Inflationsbekämpfung und Währungssanierung mußte konsequent fortgesetzt werden. Mit dem Beginn der Rentenmarkausgabe am 15. November 1923 hatte die Reichsbank die Diskontierung von Reichsschatzwechseln eingestellt. Damit war die Hauptursache der Inflation, die fortgesetzte Finanzierung von Staatsausgaben mittels Notendruck, beseitigt. Einer Inflationierung der Rentenmark suchte die Rentenbankverordnung durch die Begrenzung des Emissionsvolumens auf 2,4 Milliarden vorzubeugen; das Reich und die Privatwirtschaft mußten mit einem Rentenmarkkredit von jeweils 1,2 Milliarden auskommen. Diese quantitative Beschränkung des Rentenmarkumlaufs sowie eine vorsichtige Emissions- und Kreditpraxis sollten sich als die wichtigsten Garantien für die Stabilität und das vielbestaunte „Wunder“ der Rentenmark erweisen. In Erkenntnis dieses Zusammenhanges haben sowohl Luther als auch Schacht, die beiden für die Währungspolitik maßgeblichen Persönlichkeiten, übereinstimmend die Ansicht vertreten, daß der Wert der Rentenmark auf ihrer „Seltenheit“ beruhe40.

40

Vgl. S. 479 und S. 594.

Indessen war die Rentenmark von vornherein nur als Übergangs-, Hilfs- und Binnenwährung gedacht. Gesetzliches Zahlungsmittel, über das sich in der Hauptsache auch der Zahlungsverkehr mit dem Ausland vollzog, blieb weiterhin die Papiermark. Nachdem der amtliche Berliner Dollarkurs der Mark am 20. November 1923 auf 4,2 Billionen hinaufgesetzt worden war, gelang es der Reichsbank, die Papiermark auf diesem Niveau zu stabilisieren und auch die wesentlich höheren Notierungen an den Börsen des Auslands und des besetzten Gebiets innerhalb weniger Wochen durch Kreditverknappung und Notgeldbekämpfung dem Berliner Einheitskurs anzugleichen. Die Heraufsetzung des Dollarkurses bewirkte eine starke Kontraktion des Papiergeldumlaufs, so daß genügend Raum geschaffen wurde für das Einströmen der Rentenmark in den Geldverkehr. Eine bestimmte Relation zwischen Papiermark und Rentenmark war gesetzlich nicht festgelegt, doch fand sich die Reichsbank dazu bereit, 1 Billion Papiermark gegen 1 Rentenmark umzutauschen. Damit galt 1 Billion Papiermark =10/42 Dollar = 1 Rentenmark = 1 Goldmark41. Auf Grund dieses Kursverhältnisses vermochte das Reich seine zuletzt ins Riesenhafte angewachsene schwebende Schuld bei der Reichsbank mit weniger als 200 Millionen Rentenmark abzudecken.

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Dok. Nr. 4, P. 2.

Erhebliche Schwierigkeiten für die Durchsetzung einer einheitlichen Währungspolitik ergaben sich aus der wirtschaftlichen Abschnürung des besetzten Gebiets, wie sie seit dem Beginn der Ruhrbesetzung bestand. Das Rhein- und Ruhrgebiet war der Währungskontrolle der Berliner Zentralstellen entzogen, die neuen Steuer- und Währungsgesetze des Reichs wie etwa die Rentenbankverordnung waren von der Rheinlandkommission noch nicht zugelassen. Aus diesem Grund entschied das Kabinett entsprechend dem Votum Luthers, die Rentenmark vorläufig nicht in das besetzte Gebiet einzuführen oder sie zumindest nicht bei amtlichen Zahlungen zu verwenden42. Fast der gesamte Geldumlauf[XXI] im besetzten Gebiet bestand aus ungedecktem, nicht wertbeständigem Notgeld, das Kommunen und Privatbetriebe während der Inflation zur Behebung der Zahlungsmittelnot, aber auch zur Bestreitung laufender Ausgaben in großem Umfang ausgegeben hatten. Allein das von den Gemeinden emittierte Notgeld wurde auf mindestens 180 Trillionen Mark geschätzt. Um den inflationären Auswirkungen dieses Notgeldes zu begegnen, wies die Reichsbank ihre Zweigstellen an, nach dem 1. Dezember 1923 ungedecktes Notgeld des besetzten Gebiets nicht mehr anzunehmen und die vorhandenen Notgeldbestände den Emittenten zur Einlösung zu präsentieren. Die Kommunen, die dadurch in eine prekäre Lage gerieten, bemühten sich vergeblich, die Reichsbank zur Zurücknahme ihrer Verfügung zu veranlassen. Die Reichsbank, von Reichswährungskommissar Schacht in dieser Frage unterstützt, beharrte auf ihrer Annahmeverweigerung, wenn auch die Einlösungsfrist hinausgeschoben wurde. Der zwischen den Vertretern des besetzten Gebiets und der Reichsregierung vereinbarte Plan, das Papiermarknotgeld durch die Ausgabe eines kommunalen wertbeständigen Notgeldes einzulösen, das im besetzten Gebiet die Funktion der Rentenmark übernehmen sollte, scheiterte am Einspruch der französischen und belgischen Delegierten der Rheinlandkommission. Trotzdem gelang es den Gemeinden, den größten Teil ihres Notgeldes bis zum Sommer 1924 aus dem Verkehr zu ziehen43.

42

Dok. Nr. 3, Anm. 5; 3, P. 4; 6, P. I; 17, P. I.

43

Dok. Nr. 1, Anm. 18; 3, P. 4; 6, P. I; 9, P. II , 1; 11, P. 2; 13; 14, P. 2; 17, I; 18, P. 1, I; 24, P. 3; 34, P. 3; 52; 85, P. 1; 92; 128, P. 2.

Der drückende Mangel an wertbeständigen Zahlungsmitteln und Wirtschaftskrediten im besetzten Gebiet ließ das Projekt einer Rheinisch-Westfälischen Goldnotenbank entstehen, über das eine Gruppe westdeutscher Bankiers und Industrieller unter Führung des Kölner Handelskammerpräsidenten Louis Hagen mit der Rheinlandkommission und einem ausländischen Bankenkonsortium verhandelte. Mitte Dezember 1923 legten die deutschen Interessenten das inzwischen fertiggestellte Bankstatut der Reichsregierung zur Genehmigung vor. Die Bank sollte unter starker Beteiligung französischen und belgischen Kapitals der Wirtschaft des besetzten Gebiets die begehrten ausländischen Anleihen vermitteln und außerdem devisengedeckte Rheinmarknoten ausgeben. Nach Ansicht der Regierungen des Reichs und Preußens beschwor das Projekt die akute Gefahr einer Zerreißung der deutschen Währungseinheit und einer monetären Separation des besetzten Gebiets herauf, welche die allmählich abflauenden politischen Autonomiebestrebungen neu beleben mußte. Da eine Ablehnung der Rheinlandbank, zu der anfänglich besonders Stresemann neigte, inopportun schien, machte das Kabinett die Erteilung der Konzession von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig, die sicherstellen sollten, daß die Bank sich so weit wie möglich der Währungspolitik des Reichs anpaßte und daß sie ihre Auflösung herbeiführte, sobald es zur Errichtung eines zentralen deutschen Goldwährungsinstituts kam. Darüber hinaus verlangte das Kabinett von den Besatzungsmächten die Zulassung der Rentenbankverordnung und eines wertbeständigen Notgeldes im besetzten Gebiet. Diese Bedingungen wurden vom französischen Ministerpräsidenten Poincaré, von dem französischen[XXII] Oberkommissar Tirard und dem französisch-belgischen Bankenkonsortium zurückgewiesen. In dieser Lage kam dem Reich der wachsende britische Widerstand gegen eine Befestigung der wirtschaftlichen und politischen Machtposition Frankreichs im besetzten Gebiet zu Hilfe. Schacht, der entgegen dem Votum des Reichsbankdirektoriums am 22. Dezember 1923 zum neuen Reichsbankpräsidenten ernannt worden war44, sicherte sich sogleich die Unterstützung des englischen Notenbankgouverneurs Montagu Norman und der Londoner City. Während man in London eine Beteiligung an der Rheinisch-Westfälischen Notenbank ablehnte, erhielt Schacht für die von ihm geplante zentrale deutsche Goldbank eine wertvolle Kreditzusage. Damit war das Rheinbankprojekt vereitelt45. Dagegen konnte die Deutsche Golddiskontbank in Berlin, deren Hauptaufgabe in der Vermittlung von Valutakrediten an die Exportwirtschaft bestand, ihre Tätigkeit am 7. April 1924 aufnehmen. Zuvor hatte Schacht in Verhandlungen mit dem Dawes-Komitee die Zustimmung der alliierten Reparationsexperten zu der Bankgründung erlangt46.

44

Dok. Nr. 31; 35, P. 1.

45

Zu den Verhandlungen über die Rheinisch-Westfälische Goldnotenbank vgl. Dok. Nr. 3, P. 4; 9, P. II , 1; 11, P. 1; 18, P. 1 , I; 24, P. 1; 27, P. 2; 28; 29; 33, P. 11; 35, P. 9b; 36; 37; 44; 51; 52; 54; 73, P. 4a.

46

Zur Errichtung der Deutschen Golddiskontbank vgl. Dok. Nr. 4, P. 2; 51; 73, P. 2; 90, P. 2; 96, Anm. 1; 133; 134, P. 1; 135; 136; 139, P. 4.

Am gleichen Tage, an dem die Golddiskontbank eröffnet wurde, reagierte die Reichsbank auf die Anzeichen einer erneuten Währungsverschlechterung mit einer spektakulären Kreditrationierung. Bis dahin hatte die Reichsbank den dringenden Kreditwünschen von Landwirtschaft und Industrie, deren mobiles Betriebskapital von der Inflation weitgehend aufgezehrt war, durch eine verhältnismäßig großzügige Gewährung von Rentenmark- und Papiermarkkrediten entsprochen. Die rasche Ausweitung des Kreditvolumens und des Zahlungsmittelumlaufs in den ersten Monaten des Jahres 1924 führte zu einer kräftigen Belebung der Konjunktur und zu einem merklichen Rückgang der Arbeitslosigkeit, die während des Winters 1923/24 ihren höchsten Stand seit Kriegsende erreicht hatte. Gleichzeitig beobachtete die Reichsregierung jedoch ein deutliches Anziehen des Preisniveaus, eine starke Steigerung der Warenimporte und eine wachsende Passivität der Handelsbilanz. Da die Reichsbank bald nicht mehr in der Lage war, die hohen Devisenanforderungen der Wirtschaft zu befriedigen, begann der Kurs der Papiermark und der Rentenmark an den ausländischen Börsenplätzen infolge der anhaltenden Devisennachfrage und des vermehrten Markangebots bedenklich nachzugeben. Anfang April entschloß sich die Reichsbank zu einem rigorosen Kreditstopp: Die Gesamtmenge der Kredite durfte über den Stand vom 7. April 1924 hinaus nicht vermehrt werden. Dieser von der Wirtschaft als ungewöhnlich hart empfundene Eingriff zeitigte die gewünschte Wirkung. Der Außenwert der Mark glich sich wieder dem offiziellen Berliner Einheitskurs an, der Reichsbank flossen reichlich Devisen zu, der Preisauftrieb wurde gebremst und der hohe Importüberschuß vorübergehend abgebaut. Freilich wurde dieser Erfolg mit einer außerordentlichen Verschärfung der Kreditnot erkauft. Die Zahl der Betriebszusammenbrüche[XXIII] und Betriebseinschränkungen stieg sprunghaft an, zunehmende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit waren die Folge47. „Der Stand der Währung ist zwar behauptet“, schrieb Ende Juni Reichswirtschaftsminister Hamm an Schacht, der beharrlich seinen restriktiven Kurs beibehielt, „aber die Wirtschaft droht aus Mangel an Kapital und Kredit alsbald vollends zu erliegen“48.

47

Dok. Nr. 170; 187; 224, P. 1; 267.

48

Dok. Nr. 267, Anm. 3.

Deutschland hatte seine Währung aus eigener Kraft zu stabilisieren vermocht, doch die schmerzhaften Konsequenzen der Methode der Kreditverknappung verstärkten innerhalb und außerhalb der Reichsregierung die Überzeugung, daß ein schneller Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft nur mit ausländischer Kapitalhilfe möglich sei. Unter den gegebenen Umständen waren Auslandsanleihen in größerem Umfang erst nach der Regelung der Reparationsfrage und nach der von den alliierten Reparationssachverständigen empfohlenen Rückkehr zum Goldstandard zu erwarten. Mit der Einführung der goldgedeckten Reichsmarkwährung im Zusammenhang mit der Inkraftsetzung des Dawes-Plans im Herbst 1924 konnte die Periode der Währungssanierung als beendet gelten49. Der reichliche Zustrom amerikanischer Kredite, der nach der erfolgreichen Unterbringung der Dawes-Anleihe einsetzte, führte der Privatwirtschaft das dringend benötigte Investitionskapital zu. Als sich aber auch die Länder und Kommunen am Wettlauf um ausländische Anleihen beteiligten, warnte Luther sogleich im Verein mit der Reichsbank vor den währungspolitischen Gefahren einer unkontrollierten Auslandsverschuldung der öffentlichen Hand. Er setzte den Erlaß einer Verordnung des Reichspräsidenten und einer ergänzenden Vereinbarung zwischen den Landesregierungen durch, welche die Aufnahme von Auslandskrediten durch Länder und Gemeinden in geregelte Bahnen lenken sollten50.

49

Dok. Nr. 337.

50

Dok. Nr. 347, P. 3; 351, P. 1; 365, P. 10; 381.

Die Konsolidierung der Währung hätte ohne die erfolgreiche Ordnung der öffentlichen Finanzen nicht gelingen können. Wie groß diese Aufgabe war, ergibt sich aus der Tatsache, daß in den letzten Wochen der Inflation die Ausgaben des Reichs nur zu 0,4% aus regulären Einnahmen gedeckt werden konnten, während 99,6% durch den Druck von Papiergeld finanziert wurden. Die Stillegung der Notenpresse am 15. November 1923 zwang den Reichsfinanzminister, mit der Defizitwirtschaft der Inflationszeit endgültig Schluß zu machen und den Reichshaushalt durch radikale Ausgabenkürzungen und die Erschließung ausreichender Steuereinnahmen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wohl stand dem Reich gemäß der Rentenbankverordnung ein Überbrückungskredit von 1200 Millionen Rentenmark zur Verfügung, aber diese Reserve schmolz mit beängstigender Schnelligkeit zusammen, denn die neuen wertbeständigen Steuern begannen erst allmählich zu fließen, während in kurzer Zeit mehrere hundert Millionen Rentenmark für die Schuldentilgung bei der Reichsbank und die Erfüllung unabweisbarer Zahlungsverpflichtungen verbraucht wurden. Diese kritische Haushaltslage nach der Währungsumstellung erklärt Luthers[XXIV] rigorosen Fiskalismus, sein beständiges Bemühen um Abbürdung oder äußerste Beschränkung von Reichsausgaben.

Sofort nach Übernahme der Regierungsgeschäfte sah sich das Kabinett Marx mit der Frage konfrontiert, in welchem Umfang noch Ausgaben für das besetzte Gebiet geleistet werden konnten, dessen Wirtschaft und Gemeindefinanzen schwer unter den Auswirkungen des Ruhrkampfes litten. Da das Reich vorerst nur geringe Steuereinnahmen aus dem besetzten Gebiet erzielte und es zudem ungewiß war, wann die Besatzungsbehörden eine geordnete Steuererhebung zulassen würden, konnte der hohe Zuschußbedarf des besetzten Gebiets den angestrebten Haushaltsausgleich gefährden. Das war eine der Hauptsorgen Luthers. Andererseits hätte ein Zahlungsstopp den Separatismus begünstigt und womöglich die Preisgabe des besetzten Gebiets bedeutet. Nach intensiven Beratungen, an denen zeitweilig auch Vertreter der rheinisch-westfälischen Bevölkerung teilnahmen, kam das Kabinett zu dem Beschluß, die Zuschüsse zur Erwerbslosenfürsorge und zur Beamtenbesoldung, die Kosten für die Besatzung und für die Abgeltung von Besatzungsschäden in eng begrenztem Rahmen weiterzuzahlen. Den notleidenden Gemeinden überließen das Reich und Preußen für eine gewisse Übergangszeit einen Teil ihres Steueraufkommens im besetzten Gebiet. Weitergehende Anträge auf steuerliche Zuweisungen an die Kommunen lehnte Luther ab51.

51

Dok. Nr. 3, P. 6; 6, P. IIIV; 9, P. II, 2–8; 12; 17, P. II–VII; 92; 117, P. 4; 150, P. 10; 160; 164, P. 8; 181, P. 4.

Besonders hart wurde im Kabinett um die Besatzungsausgaben gerungen. Die Leistungen für die Besatzungsarmee an Rhein und Ruhr bildeten Ende 1923 unter den finanziellen Verpflichtungen des Reichs aus dem Versailler Vertrag den weitaus größten Ausgabeposten. Wegen der angespannten Haushaltslage forderte Luther die Einstellung der Besatzungsausgaben spätestens zum 31. Dezember 1923 und beschwor Stresemann, durch Verhandlungen mit den Besatzungsmächten ein Moratorium zu erwirken. Die Sondierungen in den westlichen Hauptstädten verliefen jedoch negativ. Gegen eine einseitige Aufkündigung der Zahlungen erhoben die Mehrzahl der Minister, die Landesregierungen und vor allem die Vertreter des besetzten Gebiets schwere Bedenken. Man befürchtete, daß die französischen und belgischen Besatzungstruppen sich die verweigerten Gelder wie zur Zeit des passiven Widerstandes durch Requisitionen beschaffen würden und daß außerdem die Bemühungen um eine außenpolitische Bereinigung des Ruhr- und Reparationsproblems einen empfindlichen Rückschlag erleiden könnten. Diesen Argumenten konnte sich Luther nicht verschließen. Er stellte die erforderlichen Mittel, wenn auch in kontingentierter Form, zur Verfügung, bis das Inkrafttreten des Dawes-Plans eine für Deutschland günstigere Regelung der Besatzungskosten brachte52.

52

Dok. Nr. 3, P. 1; 5, P. 2; 6, P. V; 8; 17, P. V; 34, P. 2; 40; 52; 73, P. 4b; 105, P. 2.

Hinsichtlich der Reparationsleistungen hatte sich das Reich durch die sukzessive Einstellung der Barzahlungen und Sachlieferungen an die alliierten Gläubigermächte während der Jahre 1922 und 1923 jenes Moratorium verschafft, das nach der offiziellen deutschen These eine unabdingbare Voraussetzung für[XXV] die Sanierung der Währung und der Finanzen darstellte. Zuletzt hatte die Regierung Stresemann am 15. November 1923 auch die Erstattung der 26prozentigen Reparationsabgabe auf die deutschen Exporte nach England suspendiert53. Durch das Micum-Abkommen vom 23. November 1923 wurde dann allerdings der Ruhrbergbau gezwungen, die Reparationskohlenlieferungen an Frankreich und Belgien wiederaufzunehmen, jedoch belasteten die Kosten hierfür nicht den Reichshaushalt, sondern mußten zunächst vom Bergbau selbst aufgebracht werden. Die Reichsregierung, die der Reparationskommission ihre Unfähigkeit zu Reparationsleistungen angezeigt hatte, erklärte sich außerstande, die Finanzierung der Lieferungen zu übernehmen und stellte der Ruhrindustrie erst für die Zeit nach Ordnung der Staatsfinanzen eine Entschädigung in Aussicht; den Kohlenzechen wurde lediglich gestattet, die von ihnen getätigten Lieferungen in bestimmtem Umfang auf ihre Steuerschuld anzurechnen. Ähnlich zurückhaltend operierte das Kabinett auf Anraten des Reichsfinanzministers gegenüber den anderen Wirtschaftszweigen des besetzten Gebiets, die – wie etwa die Zuckerindustrie, die chemische Industrie und die Rheinschiffahrt – von den Besatzungsbehörden zur Ausführung von Reparationsleistungen genötigt wurden. Bis zum Sommer 1924 lehnte Luther die wiederholten und immer dringlicher werdenden Anträge der Industriellen auf finanzielle Mitwirkung bei den Micum-Lieferungen ab, teils unter Hinweis auf die Zahlungsunfähigkeit des Reichs, teils mit der Begründung, daß die Reichsregierung die Legalität der Ruhrbesetzung anerkennen und dem französisch-belgischen Ausbeutungssystem zum Erfolg verhelfen würde, wenn sie sich an den Kosten für die erpreßten Reparationsleistungen der Privatwirtschaft beteiligte54.

53

Dok. Nr. 33, P. 13. – Im deutsch-britischen Abkommen vom 23.2.24 wird die Reparationsabgabe vorübergehend auf 5% ermäßigt und die Erstattungsfrage neu geregelt: Dok. Nr. 59; 126, P. 2.

54

Dok. Nr. 14, P. 1; 64, P. 1; 84, P. 1; 150, P. 9; 152, P. 1; 155157; 163, P. 3; 168, P. 2; 171; 172, P. 2; 173.

Einen wesentlichen Beitrag zur Einsparung von Staatsausgaben mußte das Personal der öffentlichen Verwaltung leisten. Die Neufestsetzung der Beamtengehälter nach der Währungsreform im Dezember 1923 erfolgte auf einem verhältnismäßig niedrigen Niveau. Die neuen Bezüge, die anfangs nur ratenweise ausgezahlt werden konnten, blieben beträchtlich hinter den vergleichbaren Vorkriegsgehältern zurück55. Außerdem verfügte die Reichsregierung, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Arbeitszeitverlängerung in der Privatindustrie, eine Heraufsetzung der wöchentlichen Mindestdienstzeit von 48 auf 54 Stunden sowie eine Kürzung des Erholungsurlaubs56.

55

Dok. Nr. 15, P. 1; 18, P. 2; 20, P. 7.

56

Dok. Nr. 23, P. 2; 55, P. 1; 148, P. 2; 196, P. 5.

Das größte Opfer wurde den Angehörigen des öffentlichen Dienstes aber zweifellos in Gestalt des Personalabbaus auferlegt, dessen rechtliche Grundlage die Personalabbauverordnung vom 27. Oktober 1923 bildete. Angesichts der Tatsache, daß die Vermehrung der bürokratischen Apparate und der im öffentlichen Dienst Beschäftigten fast den Charakter eines Naturgesetzes angenommen hat, erscheint die drastische Personalverminderung jener Zeit als[XXVI] einer der erstaunlichsten Vorgänge der modernen Verwaltungsgeschichte. Die Abbaumaßnahmen, die mit einer Einstellungs- und Beförderungssperre verbunden waren, schonten selbst die wohlerworbenen Rechte lebenslänglich angestellter Beamter nicht, wirkten sich allerdings bei den Angestellten und Arbeitern prozentual weit stärker aus als bei den Beamten. Sogar von den Besatzungsbehörden ausgewiesene oder verhaftete Personen verloren ihre Stellung. Erst verhältnismäßig spät fand sich das Reichsfinanzministerium dazu bereit, durch den Erlaß von Ausführungsbestimmungen und Abänderungsverordnungen die schlimmsten Härten zu mildern. Die Aktion wurde derart forciert, daß die in der Personalabbauverordnung festgelegten Abbauquoten vorzeitig erreicht wurden. Bis zum 31. März 1924 hatte sich der Personalbestand der Reichsverwaltungen einschließlich Post und Eisenbahn um ca. 25% vermindert; rund 396 900 Beamte, Angestellte und Arbeiter waren aus dem Reichsdienst ausgeschieden57.

57

Dok. Nr. 15, P. 3; 34, P. 5; 62, P. 1; 112; 148, P. 4 und 7; 152, P. 4; 249, P. 2 und 3.

 

Nach den Plänen des Finanzministeriums sollte der mehr schematische Weg des Personalabbaus durch einen organischen Abbau der Verwaltungsorganisation ergänzt werden. Zu diesem Zweck setzte das Kabinett eine mit besonderen Vollmachten ausgestattete Verwaltungsabbaukommission ein, an deren Spitze der Reichssparkommissar Saemisch berufen wurde. Die Gutachten und Beschlüsse dieser Kommission führten zu kostensparenden Verwaltungsvereinfachungen und zur Beseitigung entbehrlicher Dienststellen58. Im Mai 1924 wurde das Reichsministerium für Wiederaufbau aufgelöst59. Dagegen ist der Plan, das erst im Herbst 1923 errichtete Reichsministerium für die besetzten Gebiete aufzulösen, wieder fallengelassen worden60.

58

Dok. Nr. 4, P. 4; 20, P. 3; 56.

59

Dok. Nr. 189, P. 2.

60

Dok. Nr. 147, P. 8; 365, P. 4.

Der Entlastung des Reichshaushalts diente schließlich die finanzielle Verselbständigung von Reichsbahn und Reichspost. Die beiden Betriebsverwaltungen erhielten seit der Währungsreform keine Zuschüsse aus dem Reichsetat mehr, so daß sie ihre Ausgaben fortan aus eigenen Einnahmen und durch Inanspruchnahme des Kapitalmarkts decken mußten. Um ihnen eine beweglichere Geschäftsführung zu ermöglichen, wurde ihnen eine neue Rechtsform gegeben. Eine Verordnung vom 12. Februar 1924 wandelte die Eisenbahn in ein selbständiges „Unternehmen Deutsche Reichsbahn“ um, das in dieser Gestalt freilich nur bis zum Inkrafttreten des Dawes-Plans bestanden hat61. In ähnlicher Weise wurde der Status der Post durch das Reichspostfinanzgesetz vom 18. März 1924 geändert. Der Versuch des Reichspostministers Höfle, bei dieser Gelegenheit die finanziellen Verbindlichkeiten des Reichs gegenüber Bayern und Württemberg, die aus der Übernahme ihrer Postverwaltungen im Jahre 1920 herrührten, durch gewisse organisatorische und rechtliche Zugeständnisse abzugelten, stieß auf den Widerspruch Preußens, das in den geplanten Abmachungen mit Bayern und Württemberg ein Wiederaufleben süddeutscher[XXVII] Reservatrechte erblickte. In ihrer Verärgerung über das Scheitern des Kompromisses ging die bayerische Regierung so weit, vom Reich die Rückgabe ihrer Postverwaltung zu fordern, ohne damit freilich durchzudringen62. Die Frage der Postabfindung blieb ebenso wie das Problem der Entschädigung der ehemaligen Eisenbahnländer ungelöst.

61

Dok. Nr. 33, P. 8; 82, P. 3; 98, P. 10.

62

Dok. Nr. 55, P. 7; 74; 118, P. 6; 186; 197, P. 10.

Die Sanierung des Reichshaushalts auf der Einnahmenseite und die Umstellung des gesamten Steuersystems auf stabile Währungsverhältnisse war der Zweck der drei Steuernotverordnungen vom 7. Dezember 1923, 19. Dezember 1923 und 14. Februar 1924. Die erste Verordnung, kurz vor dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes mit Hilfe des Artikels 48 erlassen, verschaffte dem Reich durch die Vorverlegung von Steuerterminen noch im Dezember 1923 dringend benötigte Steuereinnahmen63. Die zweite Verordnung enthielt neben einer Erhöhung der Umsatzsteuer vor allem eine Neufestsetzung der Einkommen-, Körperschafts- und Vermögenssteuer64. Die dritte Notverordnung brachte die steuerliche Erfassung von Inflationsgewinnen (Mietzinssteuer, Obligationensteuer usw.) sowie – als Ergebnis langwieriger Verhandlungen mit den Ländern – die Neuregelung des Finanzausgleichs. Die inflationsbedingten Zuschüsse des Reichs, von denen die Länder zuletzt fast ausschließlich gelebt hatten, wurden abgebaut; dafür erhöhte das Reich seine regulären Steuerüberweisungen und erschloß den Ländern außerdem mit der neugeschaffenen Mietzinssteuer eine eigene, ergiebige Einnahmequelle.

63

Dok. Nr. 4, P. 3; 10, P. 1.

64

Dok. Nr. 20, P. 9.

Als „die schwerste Belastungsprobe für das Kabinett“65 sollten sich aber die Aufwertungsvorschriften der dritten Steuernotverordnung erweisen. Die Inflation hatte alle Staatsanleihen, Industrieobligationen, Pfandbriefe, Hypotheken, Lebensversicherungen, Sparkassenguthaben usw. entwertet; sie hatte die Sachwertbesitzer begünstigt und alle Geldschuldner schuldenfrei gemacht, die Gläubiger und die Besitzer von Geldvermögen hingegen expropriiert. Nach der Währungsreform erhob sich nun die Frage, ob dieser Prozeß der Vermögensvernichtung und -umverteilung mit seinen einschneidenden sozialen und politischen Konsequenzen als unwiderruflich zu gelten habe, oder ob eine nachträgliche Aufwertung der verlorenen Geldanlagen geboten und möglich sei. Das Reichsgerichtsurteil vom 28. November 1923, das die Aufwertung von Hypothekenschulden bejahte, zwang die Reichsregierung, eine einheitliche Regelung des Gesamtproblems herbeizuführen. Das war umso schwieriger, als die Auffassungen innerhalb des Kabinetts weit auseinandergingen. Die unterschiedlichsten Standpunkte wurden von Justizminister Emminger und von Finanzminister Luther vertreten. Während Emminger sich aus rechtlichen Gründen für eine Schuldenaufwertung in Höhe von 10% des Goldmarkbetrages einsetzte, lehnte Luther jede Aufwertung aus fiskalischen Erwägungen ab: Die Leistungsfähigkeit und Steuerkraft der Wirtschaft sollte nicht durch eine zusätzliche Aufwertungsschuld gemindert werden. Eine Aufwertung der öffentlichen[XXVIII] Anleihen kam für Luther wegen des gewaltigen Betrages der Kriegsanleiheschuld erst recht nicht in Betracht. Doch der Grundsatz der Nichtaufwertung, auf den noch der erste Entwurf zur dritten Steuernotverordnung abgestellt war, mußte bald angesichts der heftigen Proteste der Inflationsgeschädigten und Aufwertungsanhänger fallengelassen werden. Der Richterverein beim Reichsgericht warnte in einer Eingabe die Reichsregierung davor, ein Aufwertungsverbot zu erlassen, das wegen seiner Rechtswidrigkeit einer Nachprüfung durch die Gerichte nicht standhalten würde. Auch die politischen Parteien setzten sich überwiegend für eine mehr oder minder weitgehende Aufwertung ein. Diesem Druck gab das Reichsfinanzministerium schrittweise nach; seine Verordnungsentwürfe wurden ebenso wie die Stellungnahmen des Gesamtkabinetts zunehmend aufwertungsfreundlicher. Die endgültige Fassung der dritten Steuernotverordnung, die einen Tag vor dem Ablauf des Ermächtigungsgesetzes am 14. Februar verkündet wurde, legte den Regelsatz für die Aufwertung bestimmter Vermögensanlagen auf 15% fest, schob freilich die Tilgung der Aufwertungsschuld bis zum Jahre 1932 hinaus; die Tilgung und Verzinsung der öffentlichen Anleihen wurde sogar bis zur endgültigen Erledigung sämtlicher Reparationsverpflichtungen, d. h. für unbestimmte Zeit, ausgesetzt. Kurz vor dem Erlaß der Notverordnung hatten die Reichstagsfraktionen den Versuch unternommen, eine gemeinsame Basis für die Regelung der Aufwertungsfrage und der Inflationsgewinnbesteuerung im Wege parlamentarischer Gesetzgebung zu finden. Dieser Versuch war jedoch an den unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen der SPD und den Deutschnationalen gescheitert66.

65

So Luther in der Kabinettssitzung vom 15.12.23: Dok. Nr. 25, P. I.

66

Dok. Nr. 25, P. I; 30, P. 5; 48; 49; 67, P. 3; 68; 69; 71; 77; 78, P. 1; 97; 99, P. 5; 103, P. 6.

Trotz wachsender Kritik, die auch von seiten der Kirchen erhoben wurde, ließ sich das Kabinett Marx nicht auf eine Revision der Aufwertungsbestimmungen ein. Die Aufhebungs- und Abänderungsanträge der Parteien wurden infolge der Reichstagsauflösung hinfällig, und der Aufwertungsausschuß des Reichstags, der sich in der zweiten Legislaturperiode konstituierte, gelangte über die Sammlung von Gutachten nicht hinaus. Im Herbst 1924 kündigte das Reichsfinanzministerium gewisse Verbesserungen des Aufwertungsrechts vor allem zugunsten hilfsbedürftiger Kriegsanleihezeichner an, legte aber keinen konkreten Entwurf vor. Als ein Gerichtsurteil die bisherige Aufwertungsregelung in Frage stellte, ließ das Kabinett ihre Rechtsgültigkeit durch eine Verordnung des Reichspräsidenten ausdrücklich feststellen67.

67

Dok. Nr. 122, P. 1; 235, P. 4; 259, P. 1; 263, P. 3; 271, P. 4; 296; 346, P. 2; 349, P. 2; 363; 365, P. 7.

Das finanzielle Ergebnis der Haushaltssanierung mit ihrer Kombination von Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen war weit günstiger, als es die vorsichtigen, gelegentlich zweckpessimistisch untertreibenden Darlegungen Luthers im Kabinett und vor Vertretern von Interessenverbänden vermuten ließen. Schon im Frühjahr 1924 war die kritische Anfangsphase der Stabilisierungsaktion überwunden. Die Einnahmen, die auf Grund der Steuernotverordnungen erzielt wurden, übertrafen die Vorausschätzungen erheblich, so daß[XXIX] das Rechnungsjahr 1924 mit einem beträchtlichen Überschuß endete, der zur Balancierung der folgenden Etats verwendet werden konnte. Diese unerwartet günstige Haushaltsentwicklung versetzte den Finanzminister bald in die Lage, die Ausgabenpolitik weniger restriktiv zu handhaben. So wurden die knapp bemessenen Beamtengehälter zum 1. April und 1. Juni 1924 erhöht, wobei Luther darauf bedacht war, die in der Nachkriegszeit verringerte Spannung zwischen den Grundgehältern zugunsten der mittleren und höheren Beamten zu vergrößern68. Auch die Löhne der Post- und Eisenbahnarbeiter mußten unter dem Druck gewerkschaftlicher Forderungen und Kampfmaßnahmen wiederholt aufgebessert werden69.

68

Dok. Nr. 148, P. 1; 204, P. 1; 233, P. 3; 237.

69

Dok. Nr. 161; 166; 168, P. 1; 213, P. 1; 214; 221, P. 2; 223.

Ab Juni 1924 beteiligte sich das Reich in wachsendem Umfang an den Kosten, die dem Ruhrkohlenbergbau für Reparationslieferungen auf Grund des Abkommens mit der Micum entstanden. Da das Micum-Abkommen vom 23. November 1923 auf Verlangen Frankreichs und Belgiens bis zum Inkrafttreten des Dawes-Plans mehrfach verlängert werden mußte und der Ruhrkohlenbergbau dadurch zunehmend in Kreditschwierigkeiten geriet, entschloß sich das Kabinett, bei der Finanzierung der Micum-Lasten mitzuwirken und mit der Entschädigung der Ruhrindustrie für Reparationsleistungen und Besatzungsschäden zu beginnen70.

70

Dok. Nr. 210; 217; 218, P. 3; 222; 233, P. 1; 235, P. 2; 239; 255; 256, P. 2; 263, P. 5; 264, P. 6; 265; 365, P. 9.

Den Forderungen von Industrie und Landwirtschaft nach Erleichterung der hohen Steuerlasten gab Luther nur zögernd nach; dabei spielte offenbar die Ungewißheit über das Ergebnis der Reparationsverhandlungen und über das Zustandekommen der Dawes-Anleihe eine wichtige Rolle. Erst nach Unterzeichnung des Londoner Abkommens über den Dawes-Plan wurde im Rahmen einer Preissenkungsaktion der Reichsregierung durch Verordnung vom 14. September 1924 eine Herabsetzung der Umsatzsteuer vorgenommen71. Eine zweite Steuermilderungsverordnung vom 10. November 1924 brachte eine erneute Umsatzsteuersenkung sowie eine fühlbare Ermäßigung der Vorauszahlungen von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe auf die Einkommen- und Körperschaftssteuer72. Da der Reichstag aufgelöst war und die Reichsregierung nicht länger mit den Steuererleichterungen warten wollte, griff sie auf den Artikel 48 zurück. Gegen dieses Verfahren erhob der preußische Ministerpräsident Braun energisch Einspruch73. Es ist überhaupt bezeichnend für die Gesetzgebungspraxis nach dem Ablauf des Ermächtigungsgesetzes, daß dringende finanzielle und wirtschaftliche Probleme häufig mit Hilfe des präsidentiellen Notverordnungsrechts geregelt wurden, sofern sich der Reichsregierung nicht die Möglichkeit zum Erlaß von Ausführungs- oder Ergänzungsverordnungen bot, bei denen die Mitwirkung des Reichstags ebenfalls nicht erforderlich war.

71

Dok. Nr. 299.

72

Dok. Nr. 349, P. 1; 351, P. 1.

73

Dok. Nr. 351, Anm. 5.

[XXX] Die Sozialpolitik des Kabinetts stand weitgehend im Schatten der Stabilisierungs- und Sparmaßnahmen. Mit der Währungsreform setzte zunächst ein allgemeiner Abbau der öffentlichen Sozialleistungen ein. Die Unterstützungssätze der Erwerbslosenfürsorge orientierten sich am Existenzminimum; der Kreis der Unterstützungsberechtigten wurde eingeengt, der Beitrag der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zur Erwerbslosenfürsorge wurde erhöht, die Zuschußpflicht des Reichs und der Länder hingegen eingeschränkt. Die Kurzarbeiterunterstützung fiel ganz fort74.

74

Dok. Nr. 3, P. 6; 6, P. IV; 17, P. IV; 91, P. 1; 103, P. 8; 183, P. 3; 248, P. 5; 261, P. 2.

In den Mittelpunkt der sozialpolitischen Auseinandersetzungen rückte die Arbeitszeitfrage. Zur Erhöhung der wirtschaftlichen Produktivität und zur schnellen Überwindung der Inflationsfolgen hielt die Reichsregierung eine Steigerung der Arbeitsleistung für unerläßlich. Nachdem die Demobilmachungsverordnungen der Nachkriegszeit über den Achtstundentag im November 1923 abgelaufen waren und die westdeutsche Kohle- und Metallindustrie bereits verlängerte Arbeitszeiten eingeführt hatte, entschloß sich das Kabinett, eine gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeit vorzunehmen. Die auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes erlassene Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923 hielt zwar grundsätzlich am Achtstundentag fest, doch erlaubte sie zugleich die Einführung von Mehrarbeit im Wege tariflicher Vereinbarung oder durch behördliche Genehmigung, wobei die tägliche Arbeitszeit in der Regel zehn Stunden nicht überschreiten sollte75. Die durch die Inflation geschwächten Gewerkschaften mußten sich angesichts der großen Arbeitslosigkeit den Bedingungen der Unternehmer beugen, aber bald entluden sich die durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen verschärften sozialen Spannungen in einer Welle von Arbeitskämpfen, die im besetzten Gebiet mit besonderer Erbitterung ausgetragen wurden76. Der schwere Arbeitskonflikt im Ruhrbergbau im Mai 1924 konnte erst nach mehrmaligem Eingreifen des Reichsarbeitsministers beigelegt werden. Der endgültige Schiedsspruch gestand den Arbeitern Lohnerhöhungen zu, hielt jedoch an der bisherigen Mehrarbeitsregelung im wesentlichen fest77.

75

Dok. Nr. 4, Anm. 21; 25, P. II; 33, P. 9.

76

Dok. Nr. 86.

77

Dok. Nr. 193, P. 6; 197, P. 5; 198; 203; 207, P. 1; 210.

Um eine Revision der Arbeitszeitverordnung zu erreichen, verlangten die Sozialdemokraten von der Reichsregierung die Ratifizierung des Washingtoner Abkommens von 1919 über den Achtstundentag. Die gleiche Forderung wurde von den Vertretern Frankreichs, Belgiens und Englands sowie vom Direktor des Internationalen Arbeitsamts Thomas auf der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf im Juni 1924 erhoben. Reichsarbeitsminister Brauns parierte diese Vorstöße mit der vom Kabinett gebilligten Erklärung, daß der Wiederaufbau Deutschlands und die Erfüllung der im Dawes-Plan festgelegten Reparationsverpflichtungen ohne eine Lockerung des Achtstundentages nicht möglich sei; doch sei die Reichsregierung zur Ratifizierung des Washingtoner Abkommens bereit, falls eine internationale Verständigung über die Anwendung des Abkommens[XXXI] zustande käme, die der besonderen Notlage Deutschlands Rechnung trage78. Die Reichsregierung befand sich hierbei insofern in einer günstigen Position, als die westeuropäischen Industriestaaten aus Konkurrenzfurcht wenig Neigung zeigten, von sich aus mit der Ratifikation des Washingtoner Abkommens voranzugehen.

78

Dok. Nr. 236, P. 1; 248, P. 1; 253, P. 3; 257, P. 4; 270, P. 1; 288, P. 4.

Seit dem Herbst 1924 bereitete Brauns den Erlaß einer Verordnung vor, die wenigstens den Schwerstarbeitern in Hochofenwerken und Kokereien mit zwölfstündiger Arbeitszeit den Achtstundentag wiedergeben sollte. Die betroffenen Unternehmer der Schwerindustrie lehnten jede Arbeitszeitverkürzung ab und verteidigten das bestehende Zweischichtensystem. Reichswirtschaftsminister Hamm, der die Bedenken der Unternehmer teilte, drang im Kabinett mit dem Antrag durch, die Beschlußfassung über die geplante Verordnung des Arbeitsministers solange auszusetzen, bis das angeforderte Gutachten des Reichswirtschaftsrats vorliege. Doch die Fertigstellung des Gutachtens verzögerte sich, da sich die Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer im zuständigen Ausschuß des Reichswirtschaftsrats nicht auf ein gemeinsames Votum einigen konnten, so daß die Regelung der Arbeitszeit in Hochofenwerken und Kokereien schließlich der Regierung Luther überlassen werden mußte79.

79

Dok. Nr. 358; 368; P. 1; 378, P. 1; 387, P. 4.

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