2.58.1 (ma11p): [Ausnahmezustand.]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 5). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx I und II, Band 1 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

Extras:

 

Text

RTF

[Ausnahmezustand.]

Der Reichskanzler Es sei erforderlich, daß angesichts der starken Vorstöße gegen den Ausnahmezustand das Kabinett sich über seine Haltung zum Ausnahmezustand klar würde. Es würde zu erwägen sein, ob er in der Weise gemildert werden könne, daß in wirklich ruhigen Bezirken der Ausnahmezustand aufgehoben würde2. Es sei damit zu rechnen, daß die Sozialdemokraten[229] sonst auf Einberufung des Reichstags3 bestehen würden. Außer ihnen würde möglicherweise ein Teil des Zentrums und der Demokraten für die Aufhebung stimmen.

2

In einer Eingabe an den RK vom 9.1.24 fordert der Gewerkschaftsring dt. Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände (Unterschriften: Hartmann, Lemmer) die unverzügliche Aufhebung des militärischen und zivilen Ausnahmezustandes. „Wie im allgemeinen, so zeigen sich auch in der Behandlung der gewerkschaftlichen und sozialpolitischen Praxis Hemmungen und starke Ungerechtigkeiten infolge der Einseitigkeit, in welcher sich der Ausnahmezustand auswirkt. […] Die Fortdauer des Ausnahmezustandes muß angesichts der tatsächlich ruhigen Lage verbitternd und aufreizend wirken und kann unter keinen Umständen mehr seinem ursprünglich gestellten Zweck entsprechen, und für das dt. Volk, insbesondere auch für den Staat als solchen, steht der Verlust des Ansehens und der inneren Autorität in der Welt auf dem Spiele, wenn weiterhin durch den Ausnahmezustand der Eindruck innerer Schwäche und Unsicherheit hervorgerufen wird. Die natürliche soziale Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebertum und Arbeitnehmerschaft erfährt unter dem Ausnahmezustand eine unerträgliche, einseitige Belastung zu ungunsten der Arbeitnehmerschaft.“ (R 43 I /2708 , Bl. 195 f.). Vgl. auch Dok. Nr. 32.

Dagegen setzt sich der Verband sächs. Industrieller in einer Eingabe an den RIM vom 21.12.23 dafür ein, „den bisherigen Ausnahmezustand, der Hand in Hand mit dem Eingreifen des Reichs und dem energischen Vorgehen der Reichswehr die Befriedung des Landes ermöglichte, noch für längere Zeit in Sachsen aufrechtzuerhalten. Die Besorgnis, daß eine vorzeitige Aufhebung dieser Maßregel, die kaum eingekehrte Ruhe, Sicherheit und Ordnung wieder gefährden könne, ist allgemein, namentlich in der Industrie, verbreitet, und wir werden täglich darauf aufmerksam gemacht, daß die Belebung des Auftrags-Einganges, namentlich aus dem Ausland und aus außersächsischen dt. Gebieten, die zu verzeichnen war, nachdem die Beruhigung sich einigermaßen ausgewirkt hatte, leiden würde, wenn Ruhe und Ordnung wieder gefährdet erscheinen.“ Beigefügt ist eine gedruckte Denkschrift des Verbandes „Sachsens industrielle Produktion unter sozialistisch-kommunistischem Terror“ (R 43 I /2310 , Bl. 35 f.).

3

Der RT hatte sich nach Annahme des Ermächtigungsgesetzes am 8.12.23 vertagt.

Reichswehrminister Dr. Geßler schildert die Vorgeschichte der Verhängung des Ausnahmezustandes. Die Umsturzbewegung der deutsch-völkischen und der kommunistischen Partei sei auch jetzt nicht erloschen. Man dürfe nicht vergessen, daß diese Parteien ungleich mehr Anhänger im Volke hätten als ihre Vertretung im Reichstag zeige. Jetzt seien ihre Parteiorganisationen zerschlagen und ihre Presse unterdrückt4. Die Angriffe gegen den Ausnahmezustand seien unberechtigt, insbesondere seien die Eingriffe der Militärbefehlshaber auf wirtschaftlichem Gebiet regelmäßig auf Wunsch der Ressorts oder sonstiger ziviler Stellen erfolgt. Auch die Schutzhaft sei oft auf Wunsch der Zivilbehörden erfolgt. Das Kabinett müsse in dieser Frage eine klare Linie einhalten. Die Aufhebung bedeute Freigabe der skrupellosen Agitation, die in wenigen Wochen zu den alten Zuständen führen würde. Man dürfe auch die Rückwirkung auf die Truppe nicht übersehen. Insbesondere aber halte er eine Änderung des bestehenden Zustandes für unmöglich, solange nicht eine Klärung mit Bayern erfolgt sei5.

4

Zu den Parteiverboten des Inhabers der vollziehenden Gewalt vgl. Dok. Nr. 42, Anm. 3.

5

Die bayer. Staatsreg. hatte durch VO vom 26.9.23 einen eigenen Ausnahmezustand für Bayern verhängt und die vollziehende Gewalt dem GeneralStkom. v. Kahr übertragen; s. Huber, Dokumente zur dt. Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Dok. Nr. 278 c, S. 303 f.

Der Reichskanzler Seines Erachtens würde es zur Hebung des Ansehens der Armee nicht beitragen, wenn sie ständig wegen des Ausnahmezustandes angegriffen werde. Man müsse die einzelnen Länder auf die Aufhebungsmöglichkeit prüfen.

Reichsminister des Auswärtigen Dr. Stresemann: Er habe sich den Übergang immer so gedacht, daß die völlige Aufhebung in einzelnen Gegenden erfolge, daß der Ausnahmezustand aber ein militärischer bleibe, wo er noch nötig sei.

Reichsminister der JustizEmminger: Die kommunistischen und deutsch-völkischen Umsturzbewegungen gingen zentral durchs ganze Reich. Die Kommunisten hielten am Putschgedanken fest. Es müsse beim Ausnahmezustand bleiben.

Vizekanzler Dr. Jarres: Die Sozialdemokraten würden die Aufhebung in Wirklichkeit gar nicht gern sehen. Doch im ganzen sei der Ansturm so stark, daß ihm schwer zu widerstehen sei. Auf keinen Fall dürfe das Kabinett vom Reichstag gezwungen werden, ihn aufzuheben. Das Kabinett müsse einen endgültigen Entschluß, ja oder nein, fassen. Beschließe es, den Zustand aufrechtzuerhalten, dann dürfe es in dieser Frage auch dem Reichstag nicht weichen. Im ganzen sei er für territoriale Aufhebung, aber nicht für Umwandlung in einen zivilen Ausnahmezustand.

Reichswehrminister Dr. Geßler macht darauf aufmerksam, daß bei Aufhebung des Zustandes das Verbot der untersagten Parteien hinfällig werde.

[230] Vizekanzler Dr. Jarres: Wenn dies richtig sei, sehe er die Dinge allerdings anders an.

General von Seeckt: In letzter Zeit sei die Radikalisierung der Kommunisten stark fortgeschritten. Seines Erachtens dürfe der dauernde Kampf der Vollstreckungsbehörden gegen diese Bewegung nicht unterbrochen werden. Mit territorialen Milderungen würde man Oasen für diese Bewegung schaffen.

Die Ultrarechtsparteien seien zur Zeit in ihrer Stoßkraft geschwächt infolge der Vorgänge in Bayern. Die nationale Bewegung als solche aber nehme zu. Dies sei an sich zu begrüßen. Lasse man sie aber völlig frei, so komme sie in die Hände von Leuten wie Hitler, Wulle und Graefe. Die Aufhebung würde als Rückzug der Regierung angesehen werden. Auch in Fragen wie die Bekämpfung des Wuchers, die Erwerbslosenfürsorge, Tarifkämpfe könne man zur Zeit den Ausnahmezustand nicht entbehren. Er sehe in seiner Aufhebung eine erhebliche Stärkung der Gefahr des Bürgerkrieges.

Der zivile Ausnahmezustand beim Reich sei eine stumpfe Waffe, da das Reich keine Exekutive habe.

Zusammenfassend bemerke er, daß er seine Zustimmung nicht geben könne und unbedingt gegen jede Abänderung sei. Er würde in diesen Fragen jeden möglichen Widerstand entgegensetzen. Beschließe der Reichstag die Aufhebung, so müsse er aufgelöst werden. Wann der Ausnahmezustand aufzuheben sei, könne man jetzt noch nicht beurteilen.

ReichswirtschaftsministerHamm: Sachlich entscheidend sei, ob die Bekämpfung der Ultraparteien mit anderen Mitteln möglich sei. Die von General v. Seeckt hervorgehobenen wirtschaftlichen Gesichtspunkte könnten hier nicht ausschlaggebend sein. Voraussetzung der Aufhebung sei, daß auch dann ein rechtsgültiges Verbot der Ultraparteien möglich sei. Das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof komme als zu langwierig hier nicht in Frage. Es gebe also nur zwei Möglichkeiten: entweder Verbot der Parteien durch Artikel 48 der Reichsverfassung oder ein Verbot nach dem Gesetz zum Schutz der Republik, nach welchem es jedoch nur die Länder tun könnten6.

6

Gesetz zum Schutze der Republik vom 21.7.22 (RGBl. I, S. 585 ).

Reichsminister der JustizEmminger warnt nochmals eindringlich vor Aufhebung des Ausnahmezustandes, die die von Kommunisten und Deutschvölkischen drohende Gefahr beträchtlich steigern würde.

Reichswehrminister Dr. Geßler spricht sich dafür aus, das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof weiterzutreiben, da dann ein Dauerzustand geschaffen werde. Von einer Anwendung des Schutzgesetzes in diesem Zusammenhange rate er ab.

Reichsminister des Auswärtigen Dr. Stresemann spricht sich für Aufrechterhaltung des Verbots der Parteien aus, aber für Abbau des Ausnahmezustandes, falls dies möglich sei.

Der von Minister Hamm vorgeschlagene Weg scheine ihm gangbar.

General von Seeckt hebt für die Aufrechterhaltung noch Gesichtspunkte der Wehrhaftmachung des Volkes vor.

[231] Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Graf v. Kanitz spricht sich gegen die Aufhebung des Ausnahmezustandes aus.

General von Seeckt bemerkt abschließend, daß er allerdings der Ansicht sei, daß für die Zeit des Wahlkampfes der Ausnahmezustand nicht bestehen solle.

Extras (Fußzeile):