1.109.1 (ma12p): Politische Lage.

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Politische Lage.

Reichskanzler Ihm scheine jeder Zusatz zu den aufgestellten Richtlinien bedenklich1, weil er nur verschleppend wirke. Er werde heute getrennt mit den Sozialdemokraten und den Deutschnationalen sprechen2 und dann eventuell die gegenseitigen Anschauungen übermitteln. Er bäte die Minister um Mitteilung ihrer Auffassung.

1

S. die Verhandlungsrichtlinien der RReg. (Dok. Nr. 318) sowie die Stellungnahme der SPD-Fraktion (Dok. Nr. 319) und der DNVP-Fraktion (Dok. Nr. 320, Anm. 3).

2

S. Dok. Nr. 322 und Nr. 323.

Reichsminister des Auswärtigen Nach dem heutigen Vorwärts-Artikel „Unversöhnliche Gegensätze“ glaube er nicht mehr an das Zustandekommen der ganz großen Koalition.

Reichskanzler Die Presse sei nicht entscheidend, die Fraktionen selbst müßten sich äußern.

Reichsminister des Innern Entscheidend sei seines Erachtens die innere Stimmung der Parteien, nicht ihre Verlautbarungen.

Reichskanzler Das Zentrum meine es jedenfalls ernst mit der Verbreiterung nach beiden Seiten. Zur Frage einer einseitigen Verbreiterung nach rechts habe es noch nicht Stellung genommen. Auch von den Sozialdemokraten habe er gehört, daß sie die ganz große Koalition ernstlich beabsichtigten.

Reichswirtschaftsminister Ihr Brief3 spreche dafür.

3

Dok. Nr. 319.

Reichskanzler Eine ausdrückliche Bekennung zur Republik könne nicht verlangt werden, nur eine solche zur Verfassung. Auch im Zentrum gäbe es grundsätzliche Monarchisten. Wesentlich aber scheine ihm die Frage des Washingtoner Abkommens.

Der Reichsarbeitsminister berichtet eingehend über die Verhandlungen in Bern zum Washingtoner Abkommen4. Nach diesen Verhandlungen sei er der Ansicht, daß Deutschland das Abkommen ratifizieren könne.

4

Am 8./9.9.24 hatte in Bern eine Besprechung zwischen den Arbeitsministern von Deutschland, England, Frankreich, Belgien und dem Direktor des Internationalen Arbeitsamts, Thomas, über die Ratifikation des Washingtoner Abkommens über den Achtstundentag stattgefunden. Eine Aufzeichnung hierüber war in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln. Die DAZ Nr. 426 vom 10. 9. berichtete: Die Arbeitsminister hätten erneut festgestellt, daß es aus sozialen und kulturellen Gründen erwünscht sei, zu einer internationalen Anwendung des Achtstundentages auf der Grundlage des Washingtoner Abkommens zu gelangen. Die Minister hätten die Artikel des Abkommens durchgeprüft, um etwa bestehende Auslegungsschwierigkeiten zu beseitigen und so den Regierungen die Ratifizierung zu erleichtern. Nach DAZ Nr. 427 vom 10. 9. erklärte Direktor Thomas nach Beendigung der Konferenz vor der internationalen Presse, Deutschland werde eine Reihe von Zusicherungen erhalten, die auch ihm die Annahme des Washingtoner Abkommens ermöglichen werde. Vgl. hierzu Dok. Nr. 288, P. 4.

[1099] Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Wenn man im jetzigen Stadium dies den Sozialdemokraten sage, so würden die Deutschnationalen sicher mit Kulturfragen kommen. Er halte die Bemühungen des Kanzlers nach [!] Erweiterung nach beiden Seiten für hoffnungslos. Beide Parteien wollten es nicht ernstlich, die ganze Lage sei unaufrichtig, und hierin erblicke er auch Gefahren für das Kabinett.

Reichsminister des Innern Auch er fürchte, daß der Kanzler sich zu stark für den Gedanken einer Erweiterung nach beiden Seiten engagiere.

Reichswirtschaftsminister Ihm scheine es zweckmäßig, daß das Kabinett dem Kanzler rate, eine Erweiterung der Richtlinien nicht zuzulassen. Den Sozialdemokraten könne man ferner sagen, daß das Kabinett zum Washingtoner Abkommen noch keine endgültige Stellung genommen habe.

Ministerialdirektor Spiecker weist auf die Sonderstellung der Washingtoner Frage gegenüber anderen Fragen der Parteien hin, da das Washingtoner Abkommen in der ursprünglichen Fassung der Richtlinien gestanden habe5.

5

S. Dok. Nr. 318, Anm. 6.

Staatssekretär Fischer befürchtet eine ungünstige Einwirkung einer Regierungskrise im gegenwärtigen Augenblick auf die Anleihe6 und die zweite Feststellung der Repko7.

6

In London finden zu diesem Zeitpunkt die Abschlußverhandlungen über die Dawes-Anleihe statt. Vgl. Dok. Nr. 315, P. 2.

7

S. hierzu Dok. Nr. 314, Anm. 15.

Reichsarbeitsminister Vielleicht könne man die ganze Sache um 14 Tage verschieben.

Reichskanzler Die Deutsche Volkspartei und die Deutschnationalen würden das nicht gern wollen.

Reichsernährungsminister Wenn dem Vorschlag des Reichsarbeitsministers gefolgt würde, so müßte auch der Reichstag entsprechend lange vertagt werden.

Staatssekretär Bracht: Der Ältestenrat werde am 11. Oktober zusammentreten und über den Termin der Einberufung des Reichstags sprechen.

Staatssekretär Fischer: Die Vertagung des Reichstags bis zum 25. Oktober schiene ihm aus dem genannten Grunde wünschenswert.

Reichskanzler Er werde dementsprechend vorgehen. Eine Vertagung der Regierungsumbildung bis März schiene ihm nicht möglich.

Reichswirtschaftsminister In den Wirtschaftsfragen würde eine Verschiebung um 14 Tage keine Nachteile bringen.

Der Reichsernährungsminister hält von seinem Ressortstandpunkt aus eine Verschiebung um 14 Tage für möglich; zweifelhaft sei ihm jedoch, ob man die entstandene Krise jetzt abblasen könnte.

[1100] Der Reichsminister des Innern macht darauf aufmerksam, daß das Kabinett einhellig eine Beendigung der Krise vor Zusammentritt des Reichstags für notwendig erachtet habe.

Reichskanzler Er werde heute nachmittag die Flügelparteien getrennt hören; zunächst müsse die Frage der ganz großen Koalition zum Abschluß kommen.

Reichsarbeitsminister Wenn die Richtlinien nachträglich durch das Washingtoner Abkommen erweitert würden, so sei es unvermeidbar, daß auch andere Parteien Erweiterungen verlangten.

Reichsernährungsminister Er halte es für notwendig, eine Auflösung zu vermeiden. Scheitere der jetzige Versuch, so müsse der Kanzler sich entscheiden, ob er den Versuch nach rechts allein machen wolle.

Reichskanzler Auch er halte diesen Versuch dann für nötig. Er werde erklären, daß er bei den Richtlinien verbleibe und eine Entscheidung bis heute abend verlange.

Reichspostminister Der vorgenommene Versuch müsse bis zu Ende durchgeführt werden.

Hierauf wurde die Besprechung geschlossen.

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