1.35.1 (ma12p): I. Außenpolitische Lage.

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I. Außenpolitische Lage.

Der Reichskanzler führte zunächst aus, daß nach seiner Auffassung heute drei Fragen zur Debatte gestellt werden müßten:

1. Da Interesse an dem Stande der jetzigen außenpolitischen Lage bestehe, bitte er den Herrn Reichsminister des Auswärtigen, hierüber zu berichten.

2. Die Frage der Beschickung der Londoner Konferenz sei zu erörtern.

3. Er habe die Absicht, die Frage der Ferien der Kabinettsmitglieder zur Debatte zu stellen.

Der Reichsminister des Auswärtigen begann seine Ausführungen damit, daß in den letzten Tagen in der außenpolitischen Lage eine wesentliche Verschlechterung[867] eingetreten sei1. Vielleicht werde die Pariser Besprechung zwischen McDonald und Herriot, die heute stattfinde, wiederum eine Entspannung bringen2. Botschafter v. Hoesch sei vorigen Montag [7. 7.] von Herriot empfangen worden. Nach einem Bericht Hoeschs müsse man annehmen, daß Herriot vollständig die Nerven verloren habe3. Er habe erklärt, daß er um seine Existenz kämpfe und im einzelnen betont, daß

1

Zu den engl.-frz. Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Programms der Londoner Konferenz und der Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens vgl. Stresemann, Vermächtnis I, S. 449 ff.

2

Als Ergebnis der Besprechungen zwischen MacDonald und Herriot in Paris wird am 9. 7. ein Kommuniqué veröffentlicht, das den Text einer brit.-frz. Note an die all. Regg. betr. Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens enthält. Text der Note im Weißbuch des AA „Die Londoner Konferenz, Juli–August 1924“, Berlin 1925, S. 81 ff. (auch RT-Drucks. Nr. 263, Bd. 397 ). Zusammenfassung bei Schultheß 1924, S. 416 ff.

3

Im Bericht Hoeschs vom 8. 7. aus Paris über seine Unterredung mit dem frz. MinPräs. Herriot heißt es: „Ministerpräsident erschien recht sorgenvoll und bedrückt wegen der gegen ihn während letzter Tage gerichteten Angriffe. Er äußerte, er spiele mit seiner Ministerpräsidentschaft und müsse sehr vorsichtig vorgehen, wenn er Sturz vermeiden wolle. Ausgang kommender Senatsdebatte sei zweifelhaft. Hauptthese für ihn müsse sein, sich von Friedensvertrag nicht zu entfernen. […] Auf Einzelheiten übergehend, stellte ich dann weisungsgemäß [s. Instruktion vom 1. 7. an Hoesch: Dok. Nr. 241, Anm. 9] Forderungen bezüglich fester gegenseitiger Verpflichtung hinsichtlich wirtschaftlicher Räumung in einem Protokoll, bei dessen Abfassung Deutschland mitzuwirken hätte, sowie bezüglich Notwendigkeit bestimmter Erklärung Einbruchsmächte über Daten militärischer Räumung. H. entgegnete, was die wirtschaftliche Räumung anlange, die allein im Sachverständigen-Gutachten vorgesehen sei, so seien vom ihm Schwierigkeiten nicht zu befürchten. […] Auf meine Frage bestätigte er mir aber […], daß er Teilung Londoner Konferenz plane. Zunächst müßten Alliierte unter sich einig werden, wobei ein Protokoll über Procedere zustandekommen würde. Alsdann werde er nach Paris zurückkommen und seine Politik vor Kammer verteidigen. Die dt. Reg. müsse dann Gesetzentwurf zur Annahme bringen, wozu ihr als Hilfsmittel das Londoner Protokoll dienen könnte. Ich machte hiergegen schwerste Bedenken geltend, indem ich bemerkte, sein Plan hinauslaufe auf Stellungnahme [!] einer Art Ultimatum an dt. RT und ausschließe dt. Mitwirkung bei Abfassung Protokolls. Ministerpräsident wandte sich nachdrücklich gegen Vorwurf ultimativen Vorgehens, ausführte aber, Alliierte könnten mit Deutschland nicht ohne vorher votierte Gesetze verhandeln, da darin eben Gefahr Abänderung Friedensvertrages liegen würde. Durchführung Sachverständigen-Gutachtens könnte nur aus Art. 234 konstruiert werden, wenn nicht eben Friedensvertrag angetastet werden solle. Übernahme einer Verpflichtung zu militärischer Räumung erklärte Ministerpräsident unter Hinweis auf öffentliche Meinung und seine eigene gefährdete Position für schlechthin unmöglich. Er bat dabei immer und immer wieder, ihn doch Schritt für Schritt arbeiten zu lassen und Vertrauen auf seinen guten Willen zu haben.“ (Pol. Arch. des AA, Büro RM, 5n, Londoner Konferenz 1924, Bd. 1).

1.4

es sich nicht um eine Abänderung des Versailler Vertrages handele, sondern das Gutachten sei lediglich ein neuer Zahlungsmodus der Reparationskommission. Erst müsse die Konferenz in London stattfinden, dann sei die Annahme der Gesetze5 durch die deutsche Regierung erforderlich, im Anschluß hieran käme dann eine zweite Konferenz mit Deutschland in Frage. Dieser Auffassung Herriots habe Hoesch energisch widersprochen. Herriot habe noch hinzugefügt, daß es ihm scheine, daß das deutsche Auswärtige Amt die ihm feindlich gesinnte Presse (er meinte Pertinax) mit Material versorge,

2.

eine Erklärung seinerseits über die Ruhrräumung nicht möglich sei. Auch hier habe Hoesch energische Vorstellungen erhoben.

4

Danach gestrichen: „eine Teilnahme Deutschlands in London nicht in Frage komme,“.

5

Gemeint sind die Gesetze zur Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens.

[868] Durch die seitens der englischen Regierung ergangenen Einladungen zur Londoner Konferenz habe die ganze Lage einen eigenartigen Charakter erhalten. Es sei ja ein merkwürdiger Vorgang, daß Frankreich nicht formell eingeladen worden sei und daß ferner dem englischen Einladungsschreiben eine Tagesordnung beigegeben sei, die ausschließlich den englischen Standpunkt enthalte6. Dieser Standpunkt gehe vor allem dahin, daß das Dawes-Gutachten über den Vertrag von Versailles hinausgehe, und daß daher die Reparationskommission nicht geeignet sei, beispielsweise im Falle der Verfehlungen Deutschlands, eine Entscheidung zu treffen. Hinzukomme, daß Poincaré offenbar die Absicht habe, seinen Nachfolger im Senat anzugreifen.

6

Vgl. Dok. Nr. 243, Anm. 84.

Schließlich werde von der Gegenseite, offenbar von Belgien ausgehend, die Ruhrräumung in Verbindung gebracht mit einer sogenannten „kommerziellen Begebung“ der Industrieobligationen7.

7

Vgl. Dok. Nr. 241, Anm. 4.

Er, der Reichsaußenminister, habe den ausländischen Vertretern darüber keinen Zweifel gelassen, daß ein solches Vorgehen Herriots das ganze Gutachten zu sabotieren geeignet sei. Er müsse bemerken, daß der englische Botschafter8 ihm seinerzeit erklärt habe, daß die deutsche Regierung zur Londoner Konferenz eine Einladung erhalten würde, und zwar zu ihrem zweiten Teil. Den ausländischen Vertretern habe er ferner erklärt, daß er nicht die Möglichkeit sehe, eine Mehrheit für die Annahme der Gesetze im Reichstag unter diesen Umständen zu finden und daß daher das ganze Gutachten ernstlich gefährdet werde. Der amerikanische Vertreter sei über die Haltung Herriots sehr erstaunt gewesen, er habe sich dahin geäußert, daß nach seiner Auffassung die über den Vertrag von Versailles hinaus besetzten Gebiete geräumt werden müßten. Im gleichen Sinne habe sich der englische Botschafter geäußert und erklärt, er werde sich in der Frage mit dem englischen Premierminister in Verbindung setzen. Der Belgier habe sich dahin geäußert, daß in Belgien niemand daran zweifle, daß die Ruhr geräumt würde.

8

Lord D’Abernon.

Am Montag kommender Woche [14. 7.] finde in Amsterdam ein internationaler Gewerkschafts-Kongreß statt. Dort werde der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Hermann Müller den gleichen Standpunkt vertreten, den die Regierung einnehme. Alles hänge nunmehr von der Stellungnahme Frankreichs ab. Früher habe Herriot erklärt, daß eine Räumung der Ruhr mit Inkrafttreten gewisser Bedingungen des Sachverständigenplanes eintreten würde, heute fürchte er sich offenbar vor dem Senat und versuche, seine früheren Äußerungen abzuschwächen und zu ändern. Er habe erfahren, daß der amerikanische Botschafter in Berlin9 zur Londoner Konferenz entsandt sei, und dieser habe ihm gegenüber wiederholt erklärt, daß Amerika kein Geld geben könne, wenn die Ruhr nicht geräumt würde.

9

Houghton.

Über die Konferenz von Chequers10 sei in der Presse ein großer Wirrwarr entstanden. Über die Londoner Konferenz würde die deutsche Regierung auf[869] dem Laufenden gehalten werden. Er nehme an, daß MacDonalds Auffassung durchdringen werde.

10

Konferenz zwischen MacDonald und Herriot in Chequers am 21./22. 6.

Was die Frage der Beteiligung an der Londoner Konferenz anlange, so glaube er, daß die Zahl der Teilnehmer möglichst eingeschränkt werden müsse. Er habe erfahren, daß Belgien sechs Herren entsende.

Der Reichskanzler erklärte, daß die bayerische Regierung zum Ausdruck habe bringen lassen, daß sie Anspruch erhebe, in London vertreten zu sein. Er glaube, hier müsse Entgegenkommen gezeigt werden. Im übrigen müsse die Frage, wer an der Konferenz im einzelnen teilnehme, späterer Entscheidung vorbehalten bleiben, da die Lage z. Zt. nicht zu übersehen sei.

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