1.8.2 (ma12p): 2. Eisenbahnerstreik

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[696]2. Eisenbahnerstreik

Ministerialdirektor Hitzler berichtete über die Lage der Eisenbahnerverhandlungen6. Seiner Meinung nach könne den Forderungen der Organisationen nicht nachgegeben werden. Er habe dies, soweit er zuständig gewesen sei, bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Allerdings mache er darauf aufmerksam, daß bei Ablehnung der Forderungen mit einem längeren Streik – vielleicht von zwei bis drei Wochen – zu rechnen sei. Dieser Streik müsse, wenn er begonnen sei, durchgehalten werden.

6

Die Tarifverhandlungen mit den Eisenbahnergewerkschaften über eine Erhöhung der Arbeiterlöhne und eine Neuregelung der Arbeitszeit waren am 4. 6. ergebnislos abgebrochen worden (vgl. Dok. Nr. 214, bes. Anm. 3). In einer Entschließung vom 11. 6. erklären Vorstand und Beirat des Dt. Eisenbahnerverbandes, daß ein Arbeitskampf nur vermieden werden könne, wenn eine Vereinbarung auf folgender Grundlage zustande käme: 1. Die Löhne sind ab 1. 6. gleichmäßig und ausreichend zu erhöhen. 2. Die Arbeitszeit der Oberbauarbeiter ist der Arbeitszeit der übrigen Arbeiter gleichzustellen. 3. Für die neunte Arbeitsstunde ist allen Arbeitern ein Lohnzuschlag zu zahlen. 4. Die Dienstdauervorschriften von 1924 sind derart zu revidieren, daß die achtstündige Arbeitszeit bis auf weiteres auf höchstens neun Stunden ausgedehnt werden darf usw. (Entschließung in der Anlage zum Kabinettsprotokoll vom 14. 6., R 43 I /1394 , Bl. 377).

Der Reichskanzler war auch der Meinung, daß ein vorzeitiges Einstellen des Streiks, wenn er einmal angefangen sei, nicht möglich sei. Man müsse sich daher genau überlegen, ob man den Streik verantworten könne. Eine zweibis dreiwöchige Dauer scheine ihm noch reichlich kurz bemessen, vor allem dann, wenn russische Gelder im Spiele seien.

Staatssekretär Bodenstein erklärte, daß die Eisenbahnverwaltung eine weitere Lohnerhöhung nicht tragen könne.

Der Reichswirtschaftsminister wies auf die außenpolitischen Gefahren eines Streiks hin. Gleichwohl müsse entscheidend sein, ob die Forderungen der Organisationen erfüllbar seien. Er glaube, daß man um einen Streik nicht herumkäme.

Der Reichspostminister glaubte, daß sich die unteren Beamten dem Streik anschließen würden. Die Regie7 werde nicht mitstreiken. Eine Erhöhung der Löhne sei kaum tragbar.

7

Gemeint ist die frz.-belg. Eisenbahnregie.

Der Reichsminister der Finanzen hielt die Löhne in der Industrie an sich für durchaus nicht hoch. Man werde sich, wenn erst die Industrie in Ordnung komme, auf Lohnerhöhungen einrichten müssen. So scheine ihm auch im Augenblick bei der Eisenbahn die Lohnfrage nicht die entscheidende zu sein, wenn nur Friedensleistungen bei höheren Löhnen erreicht würden. Die Frage der Arbeitszeit sei allerdings nicht diskutierbar.

Der Vizekanzler war der Meinung, daß man es auf einen Streik ankommen lassen müsse. Der Ruhrbergbau werde bei einer Lohnerhöhung sofort wieder unruhig werden. Ein Beamtenstreik dürfe nicht geduldet werden. Entlassungen müßten eventuell sofort erfolgen. Die Beamtenschaft könne sich nicht wieder darauf stützen, es sei nicht klargestellt gewesen, ob der Beamtenschaft ein Streikrecht zustehe oder nicht. Ein Entgegenkommen könne man insoweit zeigen, als man die Handwerkerlöhne stark heraufsetze; denn diese wären[697] ungebührlich weit hinter den Friedenssätzen zurückgeblieben. Möglich sei allerdings, daß dadurch die Lage verschärft werde.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte es für ein Verbrechen, die Löhne der gelernten Arbeiter während der Inflationszeit so stark heruntergesetzt zu haben. Die Arbeitskraft der gelernten Arbeiter sei das einzige Kapital, über das Deutschland noch verfüge. Dabei frage er sich aber, ob man nicht neben einer starken Erhöhung der Handwerkerlöhne doch mit einer mäßigen allgemeinen Erhöhung der Löhne durchkommen könne. Von einer mäßigen Lohnerhöhung werde eine erhebliche Preissteigerung kaum ausgehen.

Der Reichswährungskommissar bestätigte die letztere Auffassung.

Der Reichspostminister hielt die Forderung der Anpassung der Eisenbahnerlöhne an die Löhne der Privatindustrie für berechtigt. Vielleicht sei es doch möglich, durch eine Lohnerhöhung von 2–3 Pfennigen eine Beschwichtigung zu erzielen.

Der Vizekanzler betonte demgegenüber, daß die Anpassung der Löhne an die Privatindustrie mit der letzten Lohnerhöhung vollzogen sei. Zur Zeit liege keine Veranlassung für eine weitere Erhöhung vor, zumal auch mit einer weiteren Preissenkung zu rechnen sei. Er könne sich höchstens damit einverstanden erklären, daß man neue Verhandlungen in ca. 14 Tagen in Aussicht stelle, falls die Voraussage der Regierung auf eine weitere Preissenkung sich nicht bestätigt habe.

Der Reichsminister des Auswärtigen wies auf die Bedenken hin, die er angesichts eines Streiks aus außenpolitischen Gründen haben müsse. Ein längerer Streik werde im Auslande einen miserablen Eindruck machen. Er würde es daher begrüßen, wenn der Streik vermieden werden könnte.

Der Reichskanzler glaubte, daß ohne das Arbeitsministerium eine Entscheidung nicht getroffen werden könnte.

Ministerialdirektor Hitzler brachte zum Ausdruck, daß nach der geführten Debatte seiner Meinung nach das Kabinett nicht einmütig hinter einem Streik stehen werde. Er empfehle daher, die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften zu versammeln und auf sie durch den Herrn Reichskanzler in der Richtung einer vernünftigen Verständigung einzuwirken.

Das Kabinett schloß sich diesem Vorschlage mit der Maßgabe an, daß die Anregung dazu nicht von der Regierung, sondern von den Spitzenorganisationen selbst ausgehen solle. Die Besprechung sollte für Sonnabend [14. 6.] vorgesehen werden8.

8

S. Dok. Nr. 223, bes. Anm. 2.

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