1.88.1 (ma12p): Außenpolitische Lage.

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Außenpolitische Lage.

Der Reichskanzler schilderte den bisherigen Verlauf der Kriegsschuldfrage seit Beginn der Londoner Konferenz. Zur Vermeidung einer Wiedereröffnung der Debatte in der Schlußsitzung des Reichstags nach Annahme der Gutachtengesetze sei davon Abstand genommen, die Erklärung in dieser Sitzung abzugeben1. Nachdem alsdann die Bekanntgabe der Kundgebung durch WTB erfolgt und die amtliche Notifikation an die beteiligten Regierungen in Aussicht gestellt sei, habe er in Übereinstimmung mit dem Reichsminister des Auswärtigen es für zweckmäßig gehalten, den englischen und französischen Ministerpräsidenten von dem Zweck und den Begleitumständen des Schrittes durch vertrauliches Schreiben zu unterrichten2.

1

Gemeint ist die Erklärung der RReg. zur Kriegsschuldfrage vom 29. 8. (Dok. Nr. 290; vgl. dort Anm. 1).

2

Das Schreiben des RK an den engl. MinPräs. vom 4. 9. ist als Dok. Nr. 295 abgedruckt. Zum Schreiben des RK an den frz. MinPräs. s. Dok. Nr. 295, Anm. 10.

Trotzdem dieses Schreiben als streng persönlich und vertraulich bezeichnet worden sei, habe MacDonald, wie er (der Reichskanzler) inzwischen gehört habe, den an ihn gerichteten Brief überhaupt nicht gelesen, während Herriot den für ihn bestimmten Brief Herrn MacDonald übergeben habe.

[1039] Auf Grund der in der Presse des Auslands, insbesondere im Anschluß an die Genfer Vorgänge, sich entwickelnden Erregung habe er (der Reichskanzler) es für richtig gehalten, die Notifikation zunächst aufzuschieben. Der Reichsminister des Auswärtigen sei damit einverstanden gewesen, nachdem nun einmal die sofortige Bekanntgabe unterblieben sei3. Daß die Notifizierung einmal stattfinden müsse, gehe aus der ersten Bekanntmachung durch WTB hervor; es handele sich lediglich darum, einen geeigneten Zeitpunkt für die Notifikation zu finden.

3

Vgl. Dok. Nr. 298.

Es sei unrichtig, daß hier eine Forderung der Deutschnationalen vorliege; über die Frage des Zeitpunktes der Notifikation solle am kommenden Dienstag [23. 9.] Beschluß gefaßt werden; bei dieser Gelegenheit müsse auch darüber beschlossen werden, ob ein Antrag auf Aufnahme in den Völkerbund zu stellen sei4. Bemerkenswert sei die gegenwärtige Unruhe in der Presse sowie die weitverbreitete Annahme, daß unter den Mitgliedern des Kabinetts Uneinigkeit herrsche. Dieser Auffassung sei er bereits in der Zentrumspresse entgegengetreten; eine entsprechende Mitteilung sei auch am Vormittage durch WTB verbreitet worden5.

4

S. das Protokoll der Ministerratssitzung vom 23. 9. (Dok. Nr. 304 a, b).

5

Die WTB-Mitteilung lautet: „In Erörterungen der Presse ist in der letzten Zeit wiederholt von Gegensätzen zwischen dem RK Marx und dem Außenminister Dr. Stresemann gesprochen worden. Gegenüber diesen Behauptungen sind wir zu der Erklärung ermächtigt, daß beiden Persönlichkeiten von diesen Gegensätzen nichts bekannt ist. Die von dem Außenminister seinerzeit mit den Führern der deutschnationalen Opposition geführten Verhandlungen wegen der Erklärung über die Kriegsschuld sind im Einverständnis mit dem RK und dem Kabinett erfolgt. Die heute [15. 9.] sogleich nach der Rückkehr des RK erfolgte Aussprache hat erneut ergeben, daß über die Gesamtpolitik sowie besonders in der Frage der Notifizierung der Kriegsschulderklärung und des Eintritts in den Völkerbund keinerlei Meinungsverschiedenheit zwischen dem RK und dem Außenminister besteht oder bestanden hat.“ (nach DAZ Nr. 435 vom 15. 9.).

Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß die sofortige Notifikation sich aus technischen Gründen als unmöglich erwiesen habe. Unmittelbar nach der Bekanntgabe durch WTB seien jedoch die verschiedenen Demarchen erfolgt, und er sei daher einverstanden gewesen, daß die Notifikation zunächst unterbleibe. Er sei nach Berlin gekommen, weil die Zeitungsstimmen allmählich bedrohliche Formen angenommen und mehr und mehr gegen ihn den Vorwurf erhoben hätten, eine Kabinettskrise zu betreiben und gegen den Reichskanzler zu intrigieren6.

6

Vgl. die Erklärung Stresemanns in der Pressekonferenz vom 12. 9., in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 563 ff.

In der Kriegsschuldfrage müsse grundsätzlich an der Bekanntgabe festgehalten werden, um außen- und innenpolitisch einen Echec zu vermeiden. Innenpolitisch würde die Aufgabe der Absicht die Deutschnationalen auf ihren rechten Flügel hin einigen; im übrigen habe aber auch Bayern beim Stellvertretenden Reichskanzler, Minister Oeser, Vorstellungen erhoben7 und daran erinnert, daß die Notifikation der Kriegsschuldablehnung dem Reichsrat versprochen sei. Was den Zeitpunkt anbelange, so müsse man einen geeigneten Anlaß dazu suchen. Als solcher käme in Frage die Fertigstellung der deutschen[1040] Aktenpublikationen, d. h. in ca. 3 bis 4 Wochen. Der englische Botschafter Lord D’Abernon habe vorgeschlagen, die Angelegenheit beim Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu regeln.

7

S. Dok. Nr. 297.

Was den Völkerbund anbelange, so lägen zur Zeit überhaupt keine amtlichen Anregungen zum Eintritt bei der Deutschen Regierung vor. Im Gegenteil, der französische Botschafter habe neulich erklärt, daß Herriot den jetzigen Augenblick zum Eintritt nicht für günstig erachte. Er (Dr. Stresemann) habe daher Georg Bernhard durchaus widersprochen, als er erklärt habe, Deutschland müsse ohne Zusicherung eines ständigen Ratssitzes eintreten. Deutschland müsse vielmehr darauf bestehen, als Großmacht behandelt zu werden und müsse ferner beim Eintritt die Anerkennung der Kriegsschuld ausdrücklich ablehnen. Seine (Dr. Stresemanns) Äußerungen vor der Presse8 seien lediglich als Material gegeben worden, nicht als wörtlich aufzunehmende Mitteilungen. Er habe bei dieser Gelegenheit auch ausgeführt, daß die Deutschnationalen seinerzeit an ihn herangetreten seien, nicht umgekehrt. Es sei seine Pflicht als Außenminister gewesen, für die Durchbringung der Gutachtengesetze mit allen Mitteln zu sorgen, und hierzu sei es erforderlich gewesen, den Deutschnationalen den Weg zur Annahme zu erleichtern.

8

Anm. 6.

Gegenwärtig läge in Genf die Lage so, daß MacDonald zunächst die Aufnahme in den Bund als Bestätigung und Ergänzung der Konferenz von London gewünscht habe9. Darauf habe Herriot erklärt, daß für Deutschland keine Änderung der Statuten erfolgen könne10; das bedeute also die Ablehnung des ständigen Ratssitzes. Auch MacDonald sei über diese Äußerung Herriots wenig erfreut gewesen.

9

In einer Rede vor der Völkerbundsversammlung am 4. 9. hatte MacDonald sich nachdrücklich für Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund ausgesprochen. Man könne nicht über Abrüstung, Friedensbedingungen, Sicherheit usw. diskutieren, wenn Deutschlands Stuhl leer bleibe. Die Londoner Konferenz habe neue Beziehungen zwischen Deutschland und den europäischen Staaten geschaffen, und diese Beziehungen könnten jetzt durch Deutschlands Erscheinen im Völkerbund sanktioniert werden. Er, MacDonald, würde es begrüßen, wenn diese Frage noch während der gegenwärtigen Völkerbundstagung behandelt werden könnte. Vgl. Schuldheß 1924, S. 455 f.; Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1370 a.

10

Herriot hatte in seiner Rede vom 5. 9. vor der Völkerbundsversammlung erklärt: Frankreich werde den dt. Militarismus bekämpfen, es wolle aber nicht das Elend des dt. Volkes und sei bereit, aufrichtige Beweise des Versöhnungswillens entgegenzunehmen. In London habe sich Deutschland freiwillig bereit erklärt, seinen Reparationsverpflichtungen nachzukommen. Im übrigen definierten die Artikel 1, 8 und 9 des Völkerbundpaktes, die vor allem die Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen voraussetzten, die Aufnahmebedingungen für jeden Staat. Für den Bund dürfe es keine Ausnahmen und Vorrechte geben. Die Achtung vor den Verträgen und Verpflichtungen sei das gemeinsame Gesetz. Vgl. Schultheß 1924, S. 456 f.; Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1370 b.

Graf Kessler, der vom Kanzler dem englischen Ministerpräsidenten auf seine Anfrage als nichtamtlicher Vertreter in Genf benannt worden sei, habe mit Lord Parmoor gesprochen; letzterer habe aber nur einen nichtständigen Ratssitz in Aussicht gestellt. Danach habe Parmoor erklärt, daß ein ständiger Ratssitz vielleicht geschaffen werden könne, wenn MacDonald und Herriot sich einigten und auf den Völkerbund einen Druck ausübten. Bei einer späteren Gelegenheit hätten Briand, Boncour und andere erklärt, daß zunächst die Entwaffnung[1041] stattfinden müsse; dann könne von einem Eintritt Deutschlands die Rede sein, aber auch nur nach Maßgabe der bestehenden Statuten.

Es hätten in Genf auch Besprechungen mit weniger bedeutenden Persönlichkeiten (z. B. Branting, Stauning u. a.) stattgefunden, welche eine Förderung des deutschen Eintritts in Aussicht gestellt, aber nichts Bestimmtes hätten versprechen können. Der Liga für Menschenrechte habe Herriot bei einer Gelegenheit erzählt, die Aufnahme Deutschlands könne allenfalls zu Ende der gegenwärtigen Tagung in Frage kommen; während Loucheur und Boncour neuerdings sich dahin geäußert hätten, daß sie für einen ständigen Sitz Deutschlands eintreten würden, wenn die Prüfung der deutschen Abrüstung durch den Rüstungsausschuß gut ausfalle. Schließlich habe Adolf Müller telegrafisch gemeldet, daß weder die große noch die kleine Entente dem deutschen Eintritt günstig gegenüberstehe.

Unter diesen Umständen sei ein deutscher Antrag auf Aufnahme nicht möglich. Um jedoch den Vorwurf zu vermeiden, daß das Kabinett nichts getan habe, um die deutsche Aufnahme in den Völkerbund zu betreiben, habe er (Dr. Stresemann) Lord D’Abernon um eine offizielle Erklärung darüber gebeten, ob der englische Ministerpräsident für sich und für Herrn Herriot bindend versprechen könne, daß Deutschland bei eventueller Aufnahme einen ständigen Ratssitz erhalten und zu einer Wiederholung des Schuldbekenntnisses nicht gezwungen würde.

Er (Dr. Stresemann) habe der Presse erklärt, daß das ganze Kabinett in dieser Sache einig sei.

Der Reichskanzler bat um eine schriftliche Aufzeichnung über die geschilderte Entwicklung der Frage des deutschen Eintritts in den Völkerbund11 und wies darauf hin, daß bei der Besprechung mit Lord Parmoor in London letzterer die Frage des deutschen Eintritts in den Völkerbund überhaupt nicht berührt habe12.

11

Eine Aufzeichnung über diese Frage übersendet das AA am 17. 9. an die Rkei. Abgedruckt als Dok. Nr. 303.

12

Vgl. den Bericht Stresemanns über den Besuch der dt. Delegierten bei Lord Parmoor am 10. 8. während der Londoner Konferenz: Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 28.

Der Vizekanzler erklärte seine Zustimmung zu den Ausführungen des Reichsministers des Auswärtigen, wenngleich es ihm nicht verständlich sei, warum die Notifikation nicht habe sofort erfolgen können.

Der Reichsminister der Finanzen stimmte ebenfalls den Ausführungen des Reichsministers des Auswärtigen zu, regte jedoch an, daß, wenn die Notifikation erfolge, nicht von einem „Schiedsgericht“ die Rede sein solle, sondern von einer „unabhängigen Instanz“. Der Schiedsgerichtsgedanke habe durch die Londoner Verhandlungen eine solche Ausbreitung erfahren, daß eine Verwechslung mit den dort vorgesehenen Instanzen vermieden werden müsse. Ferner schlage er im Falle der Notifikation im Anschluß an die deutschen Aktenveröffentlichungen vor, daß der deutsche Schritt auf einen positiven Antrag hinauslaufen [müsse], nämlich auf eine Aufforderung an die Gegenseite, ebenfalls ihre Akten zu veröffentlichen. Hierdurch gehe man aus der Defensive[1042] in die Offensive über und stelle die Gegenseite vor eine Frage, welche negativ zu beantworten ihr sehr schwer fallen werde.

Das Kabinett stimmte den Darlegungen des Reichsministers des Auswärtigen sowie der Anregung des Reichsministers der Finanzen zu.

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