1.91.1 (ma12p): Aussprache über die politische Lage. [Eintritt Deutschlands in den Völkerbund.]

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Aussprache über die politische Lage. [Eintritt Deutschlands in den Völkerbund.]

Der Herr Reichspräsident eröffnete die Sitzung und erteilte das Wort dem Reichskanzler.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß das Schwergewicht der Darlegungen beim Reichsminister des Auswärtigen werde liegen müssen; er habe nur[1051] zwei Bemerkungen allgemeiner Art zu machen: Zunächst wolle er feststellen, daß die im Anschluß an die Genfer Erörterungen über das Gespräch mit Lord Parmoor in London gegen den Reichsminister des Auswärtigen vielfach erhobenen Vorwürfe völlig unbegründet seien. Er könne nur bestätigen, daß bei der fraglichen Unterredung von dem deutschen Eintritt in den Völkerbund überhaupt nicht gesprochen worden sei und daß er selber gegenüber den gegenteiligen Pressemitteilungen Lord Parmoors vor einem Rätsel gestanden habe3.

3

Vgl. hierzu Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 28; Stresemann, Vermächtnis I, S. 573 ff.

Sodann wolle er kurz über seine Unterredung mit dem norwegischen Delegierten Fridtjof Nansen berichten4. Nansen habe durch seinen hohen Idealismus und durch die Wärme seines Eintretens für die Hinzuziehung Deutschlands zum Völkerbund einen starken Eindruck auf ihn (den Reichskanzler) gemacht, jedoch sei ihm die Auffassung Nansens von den bestehenden Schwierigkeiten allzu optimistisch erschienen. Mit der Begeisterung allein sei die Frage nicht zu lösen, vielmehr müsse man behutsam vorgehen. Beachtlich erschienen ihm (dem Reichskanzler) die Argumente des Staatssekretärs a. D. Lewald, der insbesondere auf die schwierige Stellung hingewiesen habe, die Deutschland unter den gegenwärtigen Umständen bei allen zur Zuständigkeit des Völkerbundes gehörigen Fragen einnehme, und sich eine starke Förderung des deutschen Standpunktes in diesen Angelegenheiten von einer Mitgliedschaft im Völkerbund verspreche.

4

Der norwegische Völkerbundsdelegierte Nansen hatte den RK am 20. 9. in dessen Urlaubsort Heiligenberg aufgesucht.

Der Reichsminister des Auswärtigen verwies zunächst auf die Formalien, welche bei einem etwaigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu erledigen seien und trug den wesentlichen Inhalt der vom Auswärtigen Amt angefertigten Denkschrift über Deutschlands Eintritt in den Völkerbund5 vor. Bei der materiellen Frage müsse man davon ausgehen, daß Herriot jede Ausnahme von den Bundstatuten für Deutschland abgelehnt und insbesondere auf die Artikel 1, 8 und 9 der Satzung hingewiesen habe6. Hierdurch habe er wohl zum Ausdruck bringen wollen, daß vor Durchführung der Militärkontrolle ein Eintritt Deutschlands nicht in Frage komme. Mit am bedenklichsten erscheine ihm (Minister Stresemann) die Vorschrift hinsichtlich der Teilnahme an der Bundesexekution7; die hier in Frage kommende Verpflichtung bedinge nach Auffassung des Auswärtigen Amts, daß die Zustimmung des Reichstags zum Eintritt in den Völkerbund erforderlich sei.

5

Dok. Nr. 303.

6

Stresemann bezieht sich hier offenbar auf die Völkerbundsrede Herriots vom 5. 9. Vgl. Dok. Nr. 301, Anm. 10.

7

Gemeint ist der Art. 16 der Völkerbundssatzung; vgl. hierzu Dok. Nr. 303, letzter Absatz.

Im übrigen müsse zur Beurteilung der bisherigen Entwicklung der Frage berücksichtigt werden, daß sowohl der englische wie auch der französische Ministerpräsident vor der Londoner Konferenz von einer Aktion Deutschlands zwecks Eintritt in den Völkerbund abgeraten hätten, bis die Reparationsfragen gelöst seien. Aus dieser Auffassung heraus, daß nämlich zunächst eine Einigung[1052] in London erzielt werden müsse, erkläre sich wohl das Mißverständnis bezüglich der Unterredung mit Lord Parmoor. Diese Angelegenheit sei inzwischen durch einen sehr freundschaftlichen Brief Parmoors an ihn (Dr. Stresemann) erledigt8. Sodann müsse man berücksichtigen, daß MacDonald seine bekannte Rede in Genf9 mit der Aufforderung an Deutschland zum Eintritt ganz unerwartet und ohne jede vorherige Fühlungnahme gehalten habe. Diese Tatsache habe es ihm (Minister Stresemann) unmöglich gemacht, in der von MacDonald gewünschten Weise auf die Rede zu reagieren. Auch Herriot sei völlig durch diese plötzliche Kundgebung MacDonalds überrascht worden. Um völlig klar zu sehen, habe er (Dr. Stresemann) nunmehr in London offiziell anfragen lassen, ob die englische Regierung: 1. dem Deutschen Reich bei Aufnahme in den Völkerbund einen ständigen Ratssitz garantieren könne, 2. zusichern könne, daß eine etwaige deutsche Erklärung bezüglich Artikel 231 des Versailler Vertrages bei Eintritt in den Völkerbund entgegengenommen würde. Die Antwort sei gestern eingetroffen.

8

Der Brief Parmoors an Stresemann vom 18. 9. ist abgedr. in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 575.

9

Rede MacDonalds vom 4. 9. vor der Völkerbundsversammlung. Vgl. Dok. Nr. 301, Anm. 9.

Der Reichsminister des Auswärtigen trug sodann eine Aufzeichnung des Auswärtigen Amts über die Antwort der englischen Regierung auf die deutsche Anfrage vor10 und fuhr dann fort:

10

Die Antwort der engl. Regierung ist wiedergegeben in der Niederschrift Meissners (Dok. Nr. 304 b).

Auf Grund dieser Orientierung glaube er, daß die Forderung nach einem ständigen Ratssitz vielleicht würde verwirklicht werden können, obgleich nach einer neuen Mitteilung der Tschechoslowakei Außenminister Benesch hier Schwierigkeiten mache. Schwieriger sei es schon mit der Schuldfrage. Die neutralen Staaten seien wohl alle an einem Eintritt Deutschlands stark interessiert. Auf seiten Frankreichs und der kleinen Entente rechne man wohl mit einem deutschen Eintritt und suche daher jetzt auf beschleunigtem Wege wichtige Fragen zu regeln, die gerade für Deutschland von größter Erheblichkeit seien. Er denke an die Fragen der Neutralitätszonen und der Militärkontrolle. Die Vorteile bei einem Eintritt seien: die Mitwirkung Deutschlands in den Fragen, die der Ingerenz des Völkerbundes unterlägen (Minderheitsschutz, Saargebiet) sowie bei den zur Zeit schwebenden großen politischen Fragen der gegenseitigen Unterstützung und Abrüstung. Die Nachteile seien: das Empfinden einer freiwilligen Anerkennung des Versailler Vertrages sowie die Gefährdung deutscher Interessen bei internationalen Konflikten, z. B. zwischen Bund und Rußland, bei der Durchführung der Blockade anderer Staaten usw. Er, Minister Stresemann, komme daher zu folgendem Ergebnis: Die Reichsregierung müsse grundsätzlich ihre Bereitwilligkeit zum Eintritt aussprechen und sofort, dem MacDonaldschen Vorschlage entsprechend, eine Sondierungsaktion einleiten bei den zehn Staaten, die im Rate vertreten seien. Die hierbei zu stellenden Fragen würden zu betreffen haben: 1. ständigen Ratssitz, 2. Schuldfrage, 3. Vertretung im Sekretariat, 4. Beteiligung an Bundesexekutionen,[1053] 5. evtl. die koloniale Frage (allerdings nur in dem Sinne, daß die Anerkennung der deutschen Legitimation zur kolonisatorischen Tätigkeit zu verlangen sei), 6. evtl. auch die Frage der Ruhrräumung sowie 7. die Frage der Hinzuziehung der noch abseits stehenden Länder zum Völkerbund.

Dies seien die Schlußfolgerungen, zu denen er von sich aus gelangt sei; er habe jedoch gestern ein Votum des Gesandten Müller in Bern erbeten, das er zur Verlesung bringen wolle.

Der Minister des Auswärtigen verlas einen soeben eingelaufenen Drahtbericht der Gesandtschaft in Bern zu dieser Frage11.

11

Die Stellungnahme des Gesandten Adolf Müller in Bern zur Frage des Eintritts in den Völkerbund ist in knapper Form wiedergegeben in der Niederschrift Meissners (Dok. Nr. 304 b); vgl. auch Stresemann, Vermächtnis I, S. 579.

Der Reichspräsident eröffnete die Debatte und erteilte das Wort dem Reichspostminister welcher die Frage stellte, ob die vom Reichsminister des Auswärtigen vorgeschlagene Sondierung sich noch während der jetzigen Tagung des Völkerbundes durchführen lasse.

Staatssekretär von Maltzan teilte mit, daß dieses zeitlich vielleicht nicht möglich sein werde, daß es jedoch dem Völkerbunde ohne Schwierigkeiten freistehe, eine besondere Session herbeizuführen.

Der Reichswehrminister erklärte, daß er grundsätzlich den Ausführungen des Reichsministers des Auswärtigen beitrete. Die Reichswehr sei an der Frage nach zwei Richtungen hin interessiert: 1. Hinsichtlich der Bundesexekution, welche für Deutschland bei der jetzigen Stärke und Ausrüstung der Reichswehr überhaupt nicht in Frage komme. 2. Hinsichtlich der Militärkontrolle, die nach den zuletzt gefaßten Beschlüssen ohne Mitwirkung des Reichs unter Beteiligung der östlichen Nachbarstaaten durchgeführt werden solle12. Dies gäbe eine ganz unmögliche Lage bei einem etwaigen internationalen Konflikt, wenn die Reichswehr berufen sein sollte, die Neutralität an den[1054] östlichen Grenzen zu wahren. Diese Frage bedürfe also dringend der Aufklärung.

12

Der RWeM bezieht sich hier wohl auf den im Völkerbundsrat erörterten „Organisationsplan für die Ausübung des Untersuchungsrechts in den auf Grund der Verträge von Versailles, Saint-Germain, Trianon und Neuilly der Untersuchung unterworfenen Ländern“ (frz. Text und dt. Übersetzung in R 43 I /484 , Bl. 178-186). Dieser sog. „Investigationsplan“, der am 27.9.24 vom Völkerbundsrat genehmigt wird, regelt die Ausübung der Militärkontrolle in Deutschland, Österreich, Ungarn und Bulgarien durch den Völkerbund, zu der dieser auf Grund der Friedensverträge grundsätzlich berechtigt war (vgl. Art. 213 des VV). Nach dem Plan kann der Völkerbundsrat die Vornahme von Entwaffnungskontrollen in den besiegten Staaten beschließen. Die erforderlichen Kontrollprogramme und Gutachten werden vom Ständigen Rüstungsausschuß des Völkerbundes ausgearbeitet und dem Rat vorgelegt. Im Rüstungsausschuß sollen auch diejenigen Signatarstaaten der Friedensverträge vertreten sein, die nicht dem Völkerbundsrat angehören, jedoch Nachbarstaaten des der Militärkontrolle unterworfenen Staates sind (im Fall einer Kontrolle Deutschlands z. B. Polen). Die Kontrollhandlungen selbst werden von gemischten Untersuchungskommissionen durchgeführt, in denen der jeweils kontrollierte Staat nicht vertreten sein darf.

Eine 14seitige, von Seeckt unterzeichnete Denkschrift der Heeresfriedenskommission (RWeMin.) vom 31. 10. zum Investigationsplan des Völkerbundes kommt zu dem Ergebnis, daß der Plan „für Deutschland unannehmbar“ sei. „Sollte er zur Anwendung gegen Deutschland gebracht werden, so ist die Ausführung der sich aus ihm ergebenden Forderungen, soweit sie über die Bestimmungen des Versailler Vertrages hinausgehen, abzulehnen und die Anwendung von Zwangsmitteln durch den Völkerbund abzuwarten. Tritt Deutschland freilich in den Völkerbund ein, so beraubt es sich jeder Möglichkeit, den Plan abzulehnen; Deutschland vollzieht damit freiwillig seine endgültige, völlige Entwaffnung über die Bestimmungen des Versailler Vertrages hinaus.“ (R 43 I /444 , Bl. 3-6, 24-30 und 516, R 43 I /516 , Bl. 45f, 48-61).

Der Reichskanzler stimmte dem Vorschlage des Reichsministers des Auswärtigen zu und legte dabei insbesondere Gewicht darauf, daß in der grundsätzlichen Bereitwilligkeit zum Eintritt ein einstimmiger Beschluß erfolge. Von Bedeutung erschiene ihm auch bei der Frage des ständigen Ratssitzes, daß andere Staaten das gleiche Ziel verfolgten. Die Sondierung müsse beschleunigt durchgeführt und es müsse zum Ausdruck gebracht werden, daß deutscherseits auch in der Vergangenheit in dieser Frage nichts versäumt sei.

Staatssekretär v. Maltzan wies darauf hin, daß die Sondierung entweder bei den Völkerbundsdelegationen in Genf oder bei den einzelnen in Frage kommenden Regierungen erfolgen könne; der erstere Weg sei der schnellere, der zweite der zuverlässigere.

Der Vizekanzler erklärte, daß er mit den Ausführungen des Reichsministers des Auswärtigen grundsätzlich einverstanden sei und betonte die Notwendigkeit, die vorliegenden Fragen ohne parteipolitische Voreingenommenheit zu betrachten. Er persönlich habe einen hohen Glauben an den Völkerbund. Er erachte jedoch die vom Gesandten Müller empfohlene kritische Zurückhaltung für durchaus angebracht. Hinsichtlich der bei der Sondierung zu klärenden Punkte halte er für wesentlich: die Frage des ständigen Ratssitzes, die Schuldfrage und die Vertretung im Sekretariat; von den anderen seien am wichtigsten die Frage der Teilnahme an der Bundesexekution und der Zulassung des Durchmarsches.

Der Reichsverkehrsminister stimmte den Vorrednern bei und führte aus, daß die Politik des letzten Jahres eine Politik der Konsolidierung und Rehabilitierung gewesen sei. Auf dem Gebiet der Rehabilitierung liege als letzte Konsequenz der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund; ein solcher Eintritt bedinge auch viele praktische Vorteile für das Reich. Hinsichtlich der zu stellenden Bedingungen erachte er die Klärung der Durchmarschfrage für am wesentlichsten. Ein Aufrollen der Frage der Ruhrbesetzung erscheine ihm eher als Belastung denn als Förderung der Aktion.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte, daß das politische Ziel durch den Minister Stresemann in richtiger Weise gewiesen sei. Auch er halte die Ablehnung der Bundesexekutive mit für den wichtigsten Punkt bei der Sondierung.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft richtete an den Reichsminister des Auswärtigen die Frage, warum gerade der Graf Kessler zum deutschen Beobachter in Genf bestimmt sei13; die Auswahl dieser Persönlichkeit habe den Hauptgrund für die schweren Presseangriffe gebildet14.

13

Vgl. Dok. Nr. 295, Anm. 2.

14

Vgl. hierzu das Schreiben Stresemanns an den dt. Gesandten in Bern vom 29. 9., in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 570 ff.

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte, daß der Graf Kessler sich bei verschiedenen Gelegenheiten gut bewährt habe und gerade im vorliegenden Fall, wo er nicht Vertreter der Reichsregierung für den Völkerbund, sondern[1055] lediglich Vertrauensmann für den Verkehr mit dem englischen Ministerpräsidenten gewesen sei, sich infolge seiner Beziehungen zur englischen Arbeiterpartei besonders geeignet habe.

Der Reichspräsident stimmte den Ausführungen des Reichsministers des Auswärtigen zu und wies darauf hin, daß Graf Kessler bereits bei früheren Gelegenheiten gezeigt habe, daß er für derartige Aufträge Qualitäten besäße. In der Sache selber sei er grundsätzlich dem Völkerbundsgedanken sehr zugetan. Allerdings sei der durch den Versailler Vertrag geschaffene Völkerbund nicht nach seinem Wunsche; daher habe er stets kühle Zurückhaltung empfohlen und halte auch jetzt an diesem Grundsatze fest. Abgesehen davon sei er jedoch durch die gesamte politische Entwicklung der letzten Zeit zu der Überzeugung gelangt, daß eine baldige aktive politische Tätigkeit im Völkerbunde erwünscht sei. Gerade die bevorstehende Übernahme der Militärkontrolle durch den Völkerbund lasse es nach seiner Auffassung zweckmäßig erscheinen, daß Deutschland bald in die Lage komme, aktiv im Völkerbund mitzubestimmen.

Ein wichtiger Punkt sei ferner die Sicherheits- und Neutralitätsfrage: Über die Räumung der Kölner Zone zum 10. Januar 1925 werde es sicherlich zu schwierigen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England kommen, die nur zu lösen sein würden, wenn eine Lösung für die Sicherheitsfrage erreicht sei. Daher habe Deutschland ein dringendes Interesse am Eintritt. Wichtig sei ferner die Abrüstungsfrage: wenn nämlich zu Ende dieses Jahres die deutsche Entwaffnung durchgeführt sei, dann sei es die deutsche Aufgabe, die Frage der Abrüstung auch der übrigen Nationen aufzuwerfen. Um die Führung in dieser allgemeinen Abrüstungsaktion übernehmen zu können, sei es jedoch erforderlich, daß Deutschland Mitglied des Völkerbundes sei.

Es müsse aber mit großer Behutsamkeit vorgegangen werden, damit Fehlschläge vermieden würden. Er, der Reichspräsident, sei daher mit dem Außenminister dahin einig, daß der Rat des Herrn MacDonald zu befolgen und eine Sondierungsaktion einzuleiten sei. Er halte es auch für richtig, diese Sondierung offiziell und unmittelbar bei den in Frage kommenden Regierungen vorzunehmen. Hierbei werde es sich ergeben, wie diese Regierungen zu der ganzen Frage eingestellt seien: Hätten sie ein lebhaftes Interesse am deutschen Eintritt, so würden sie ihrerseits für die erforderliche Beschleunigung sorgen.

Was die einzelnen Voraussetzungen anbelange, so stimme er dem Herrn Außenminister auch darin zu, daß ein ständiger Ratssitz erforderlich sei. Was den Artikel 1 der Satzung anbelangt, so sei er selbstverständlich auch sinngemäß mit einer Ablehnung des Artikel 231 des Versailler Vertrages einverstanden. Es müsse jedoch hier mit großer Sorgfalt die Formel gewählt werden, damit Herriot nicht vor eine unmögliche Situation gestellt werde. Vielleicht könne man an die Äußerungen MacDonalds in seiner bekannten Genfer Rede anknüpfen und sich etwa dahin ausdrücken, daß eine neue Hinnahme des Vertrages von Versailles oder gar eine Zustimmung zu Artikel 231 für Deutschland nicht möglich sei. Auch sei zu untersuchen, ob Artikel 231 die eigentliche[1056] sedes materiae sei oder nicht vielmehr die Mantelnote15. Auch der Eintritt in das Sekretariat sei erforderlich. Die Ablehnung der Beteiligung an Bundesexekutionen und der Zulassung des Durchmarsches würde sich nach dem Vorgang der Schweiz wohl unschwer begründen lassen. Hinsichtlich der Ruhrräumung sehe er keine außenpolitische Gefahr, da der deutsche Rechtsstandpunkt in dieser Beziehung sehr stark sei. Die Kolonialfrage sei vielleicht zweckmäßigerweise nicht anzuschneiden, da sie sachlich nicht in diesen Zusammenhang hineingehöre; ebenso trage er Bedenken gegen eine indirekte Aufforderung der anderen Staaten zum Eintritt in den Bund; dies könne als unerwünschte Einmischung von den betroffenen Staaten empfunden werden. Schließlich gebe er jedoch zu erwägen, ob nicht die Frage der allgemeinen Abrüstung aufgeworfen werden könne.

15

Mantelnote zur Antwort der all. und assoz. Mächte vom 16.6.19 auf die Bemerkungen der dt. Delegation zu den Friedensbedingungen; abgedr. in: Materialien betr. die Friedensverhandlungen, Teil IV, Berlin 1919, S. 77 ff.

Sehr wesentlich sei die Unterrichtung der Öffentlichkeit über das Ergebnis der jetzigen Besprechung; man müsse dabei die deutsche Bereitwilligkeit zum Eintritt stark in den Vordergrund stellen; ferner müsse zum Ausdruck gebracht werden, daß die beschlossene Sondierungsaktion nur eine Fortsetzung bisheriger Maßnahmen sei. Für die sehr wichtige Frage der Formulierung sei es vielleicht zweckmäßig, noch einmal zusammenzukommen.

Der Reichskanzler stimmte den Ausführungen des Herrn Reichspräsidenten zu und unterstrich die Bedeutung der Sicherheitsfrage für die künftige deutsche Außenpolitik. Zur Ruhrfrage erinnere er an die Herriot-Formel in London, wonach es durchaus zulässig sei, vor Ablauf der Maximalfrist bei gegebener Gelegenheit die Frage der schnelleren Räumung aufzuwerfen16.

16

Bei Beendigung der Londoner Konferenz hatten Herriot und Theunis die schriftliche Zusage gegeben, die Ruhrräumung innerhalb einer Maximalfrist von einem Jahr vorzunehmen; s. Anhang, Dok. Nr. 10, Anm. 5. Vgl. auch Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 43.

Der Reichsminister der Finanzen verwies auf den engen Zusammenhang, der zwischen der jetzigen Frage und der Frage der Anleihe unter dem Sachverständigengutachten bestehe. Nach Nachrichten der Botschaft von London und des Reichsbankpräsidenten machten die amerikanischen Banken und Bankiers Schwierigkeiten mit Rücksicht auf die noch ungeklärte Frage der Ruhrräumung sowie die Räumung der Kölner Zone. Er (Minister Dr. Luther) halte es daher für sehr erwünscht, wenn die Frage der Ruhrräumung bei der jetzigen Sondierungsaktion mit berührt werde.

Auf Ersuchen des Herrn Reichspräsidenten übernahm der Reichsminister des Auswärtigen unter Mitwirkung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei sowie des Herrn Reichspressechefs den Entwurf einer Mitteilung an die Presse über das Ergebnis der Sitzung. Es wurde die aus der Anlage ersichtliche Mitteilung beschlossen und zur Veröffentlichung übergeben17.

17

Bis hierher ist das Protokoll von MinR Kiep verfaßt; der restliche Teil stammt von MinDir. Kempner.

In der oben erwähnten Pressemitteilung über das Ergebnis dieser Ministerratssitzung heißt es: Nach eingehender Erörterung habe sich Einmütigkeit darüber ergeben, „daß die RReg. den alsbaldigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund erstrebt. […] Selbstverständlich kann Deutschlands Mitwirkung nur die einer gleichberechtigten Hauptmacht sein. […] In Ausführung dieser Entschließung wird die RReg. durch das AA bei den im Völkerbundsrat vertretenen Mächten abschließend feststellen, ob die für die Stellung des dt. Antrages erforderlichen Garantien, die sich sowohl auf Deutschlands Stellung im Völkerbund wie auf bestimmte andere hiermit untrennbar zusammenhängende Fragen beziehen, gewährleistet sind.“ Das Pressekommuniqué ist abgedr. in: Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1371 a; Schultheß 1924, S. 83.

[1057] Der Reichsminister des Auswärtigen Daß den auswärtigen Mächten mitzuteilende Memorandum würde mit tunlichster Beschleunigung im Auswärtigen Amt aufgesetzt werden. Wie schon ausgeführt, denke er die folgenden Fragen darin zu erörtern: ständigen Ratssitz; Sitz im Sekretariat; Unmöglichkeit der Teilnahme an Völkerbundsexekution; grundsätzlicher Anspruch auf Mandate über Kolonien; beschleunigte Ruhrräumung. Das Memorandum werde er dem Kabinett zur Genehmigung vorlegen und dann durch die auswärtigen Missionschefs den Mächten übergeben lassen.

Der Reichsminister des Innern fragt, ob die Frage der Notifizierung18 damit erledigt sei.

18

Gemeint ist die Notifizierung der Erklärung der RReg. zur Kriegsschuldfrage vom 29. 8. (Dok. Nr. 290).

Der Reichsminister des Auswärtigen Das hängt ab von der Formulierung des Memorandums.

Der Reichspräsident Vielleicht könne man inoffiziell in Genf sondieren, ob nicht die jetzige Völkerbundstagung auf einige Wochen oder Monate vertagt werden könne. Auf diese Weise sei die größere Wahrscheinlichkeit gegeben, daß in einigen Monaten eine weitere Sitzung stattfände, als wenn ohne formale Vertagung in einiger Zeit eine Sitzung neu einberufen werden sollte. Er bäte jedenfalls das Auswärtige Amt, diese Frage zu prüfen.

Hierauf wurde die Sitzung geschlossen19.

19

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 306, P. 3.

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