1.2.6 (ma31p): 6. Sozialpolitik

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6. Sozialpolitik

Im sozialpolitischen Teil seiner Regierungserklärung vom 3. Februar 1927 hatte Reichskanzler Marx die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Verabschiedung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes sowie gesetzliche Maßnahmen zur Verkürzung der Arbeitszeit als besonders dringlich bezeichnet. Bereits in einer der ersten Kabinettssitzungen legte Arbeitsminister Brauns den Entwurf eines „Arbeitszeitnotgesetzes“ vor, das verschiedene Härten der Ende 1923 nach der Währungsstabilisierung erlassenen Arbeitszeitverordnung mildern und eine Reduzierung übermäßig langer Arbeitszeiten bewirken sollte. Eine schnelle Verabschiedung dieser Vorlage schien um so notwendiger, als die Sozialdemokraten inzwischen einen weiter reichenden Gegenantrag eingebracht hatten. Die Vorlage von Brauns basierte auf einem Entwurf, über den sich bereits die Koalitionsparteien der vorangegangenen Reichsregierung verständigt hatten, ging jedoch in einigen Punkten zugunsten der Arbeitnehmer darüber hinaus, beseitigte insbesondere die von den Gewerkschaften scharf bekämpfte Vorschrift über die Straflosigkeit des Arbeitgebers bei Annahme „freiwilliger“ Mehrarbeit. Da aber Wirtschaftsminister Curtius einige der von Brauns beantragten Verbesserungen für bedenklich hielt, weil er negative Rückwirkungen auf die Konjunktur und die Ertragslage der Industrie befürchtete, konnte sich das Kabinett nur zu einer vorläufigen Verabschiedung des Entwurfs entschließen. Die Weiterberatung der strittigen Fragen wurde einem Unterausschuß des Interfraktionellen Ausschusses der Regierungsparteien überlassen. Hier kam es zu[LXVI] heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaftsvertretern des Zentrums und den Arbeitgeberrepräsentanten der DNVP und vor allem der Volkspartei, so daß erst nach zahlreichen Ausschußsitzungen unter vermittelnder Einwirkung des Arbeitsministeriums ein Kompromiß über die Fassung des Notgesetzes erzielt werden konnte. Das Gesetz ließ auch weiterhin eine Überschreitung des achtstündigen Normalarbeitstages durch tarifliche Vereinbarung oder behördliche Genehmigung zu, hob aber die umstrittene Bestimmung über die Straffreiheit freiwilliger Mehrarbeit auf und führte als wichtigste Neuerung einen obligatorischen Lohnzuschlag für Mehrarbeit ein, der in der Regel 25% betragen sollte. Das als Übergangslösung gedachte Arbeitszeitnotgesetz löste bei der Linksopposition heftige Kritik aus und wurde im Reichstag nur mit knapper Mehrheit angenommen156. In der Folgezeit erwies sich jedoch der Überstundenzuschlag im Zusammenhang mit der steigenden Konjunktur und der Stärkung der tarifpolitischen Position der Gewerkschaften als wirksames Mittel zur Einschränkung der Mehrarbeit157.

156

Dok. Nr. 181, P. 2; 187, P. 1; 188, Ministerbesprechung (S. 551 f.); 207, P. 2; 208.

157

Vgl. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 351.

Ergänzt wurde das Notgesetz durch Sonderregelungen für Schwerarbeiter. Die Arbeitszeitverordnung von 1923 ermächtigte den Reichsarbeitsminister, für Gewerbezweige und Arbeitergruppen mit gesundheitsgefährdender Tätigkeit die Einführung des Achtstundentages anzuordnen. Brauns machte von dieser Vollmacht Gebrauch und erließ bereits im Februar 1927 eine entsprechende Verordnung für Gaswerke, Metall- und Glashütten158.

158

Dok. Nr. 181, P. 1.

Im Juli stimmte das Kabinett einer Verordnung des Arbeitsministers zu, derzufolge auch in den Stahl- und Walzwerken der Großeisenindustrie der Übergang zum Achtstundentag und damit vom Zwei- zum Dreischichtensystem vollzogen werden sollte, und zwar mit Wirkung vom 1. Januar 1928. Diese Regelung stieß indes auf den Widerstand der Unternehmer, die unter Hinweis auf gravierende finanzielle, technische und personelle Umstellungsprobleme den Reichsarbeitsminister drängten, das Inkrafttreten der Verordnung hinauszuschieben. Als dann die Metallarbeitergewerkschaften der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie die bestehenden Tarifabkommen kündigten, die pünktliche Durchführung der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich forderten und Kompromißverhandlungen zwischen den Tarifparteien nicht zur Einigung führten, zeigten die Unternehmer in einem aufsehenerregenden Schritt Anfang Dezember 1927 dem Arbeitsminister vorsorglich die Stillegung ihrer Betriebe an. Im Kabinett, das sich mit dem Konflikt wegen seiner erheblichen wirtschafts- und allgemeinpolitischen Tragweite befaßte, trat Wirtschaftsminister Curtius als Fürsprecher der Industriellen auf, wobei er die kostensteigernde Wirkung der Arbeitszeitverkürzung stark unterstrich. Brauns hingegen kritisierte das Vorgehen der Unternehmer und lehnte den von ihnen vorgeschlagenen Terminplan für die Umstellung auf den Dreischichtbetrieb als indiskutabel ab. Er erklärte sich zwar bereit, den Schwierigkeiten der Industrie nach Möglichkeit Rechnung zu tragen und den Wirtschaftsminister an den weiteren Verhandlungen zu beteiligen. Zugleich betonte er aber seine alleinige Zuständigkeit und drohte mit seinem Rücktritt, falls das Kabinett seiner Auffassung nicht zustimme.[LXVII] Nach der von Brauns am 12. Dezember 1927 getroffenen Entscheidung hatte ein Teil der Stahl- und Walzwerke die verkürzte Arbeitszeit zum vorgesehenen Zeitpunkt einzuführen, während den übrigen Betrieben eine begrenzte Übergangsfrist gewährt wurde159. Auf dieser Basis erging im Tarifstreit der Eisenindustrie ein Schiedsspruch, der nach seiner Ablehnung durch die Kontrahenten vom Arbeitsminister für verbindlich erklärt wurde160. Auch der Arbeitskonflikt im Ruhrkohlenbergbau im April 1928 konnte angesichts der Kompromißunwilligkeit der Tarifparteien nur mit Hilfe des Instruments der amtlichen Verbindlichkeitserklärung beigelegt werden, nachdem das Kabinett vorübergehend sogar die Anwendung des Artikels 48 der Reichsverfassung erwogen hatte161.

159

Dok. Nr. 277, P. 2; 366, P. 2; 369, P. 2.

160

Zum Schiedsspruch siehe Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik, S. 356 ff.

161

Dok. Nr. 458, P. 1; 465; 467, P. 1.

 

Von großer sozialpolitischer Bedeutung war die Umwandlung der Erwerbslosenfürsorge in eine Arbeitslosenversicherung. Der bereits vom Kabinett Luther verabschiedete Entwurf eines Arbeitslosenversicherungsgesetzes war während seiner Beratung im Reichsrat im Herbst 1926 – teilweise auf Antrag des damaligen Kabinetts Marx III – verschiedentlich abgeändert worden. So hatte man u. a. den Versicherungsbeitrag auf 3% des Grundlohns heraufgesetzt, die Staffelung der Unterstützungssätze nach Lohnklassen verbessert und für langfristig Erwerbslose eine Krisenfürsorge eingefügt162. In den Verhandlungen des Sozialpolitischen Ausschusses des Reichstags, die nach der Umbildung des Kabinetts im Februar 1927 begannen, ist der Entwurf einer gründlichen Revision unterzogen worden. Vor allem der organisatorische Teil wurde gemäß einer Entschließung des Ausschusses vom Reichsarbeitsministerium neu gefaßt. Danach sollten die Aufgaben der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsvermittlung zusammengefaßt und einer selbständigen Reichsanstalt mit einem eigenen regionalen und lokalen Unterbau aus Landesarbeits- und Arbeitsämtern übertragen werden; in allen Instanzen der der Aufsicht des Reichsarbeitsministers unterstellten Anstalt waren Selbstverwaltungsgremien zu bilden, die sich drittelparitätisch aus Vertetern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Gebietskörperschaften zusammensetzten163. Unerfüllt blieb die Forderung der bürgerlichen Angestelltenverbände nach Errichtung besonderer Ersatzkassen für Angestellte, da hierdurch, wie Brauns vor dem Kabinett darlegte, das im Gesetz verankerte Prinzip der Einheitsversicherung durchbrochen und die Leistungsfähigkeit des Systems zu Lasten des Reichs vermindert worden wäre; hinzu kam, daß die Sozialdemokraten gegen eine Aufsplitterung der Arbeitslosenversicherung scharf opponierten und gegebenenfalls mit einer Verschleppung der parlamentarischen Verhandlungen drohten, was die Reichsregierung schon aus finanzpolitischen Gründen unbedingt zu vermeiden wünschte164. Nachdem man sich in dieser Frage verständigt hatte, stand der Verabschiedung der Vorlage nichts mehr im Wege. Am 7. Juli 1927 nahm der Reichstag das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung mit einer imponierenden, von den Sozialdemokraten bis zu den Deutschnationalen reichenden[LXVIII] Mehrheit an. Damit war „der letzte Stein in das Fundament der deutschen Sozialversicherung gesetzt“165.

162

Dok. Nr. 87, P. 5; 108, P. 1; 115, P. 2; 120, P. 2.

163

Dok. Nr. 186, Anm. 7.

164

Dok. Nr. 231, P. 6.

165

Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie 1927, S. 114.

In der Folgezeit ergaben sich erhebliche Reibungen mit den Landesregierungen, als der Vorstand der neuerrichteten Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung daran ging, großräumige Landesarbeitsamtsbezirke nach Maßgabe wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Zweckmäßigkeit zu schaffen, wobei mitunter mehrere Länder und Provinzen zu einem Bezirk zusammengelegt wurden. Dennoch haben sich die Länder mit der neuen Bezirkseinteilung, die von der unitarisch eingestellten Öffentlichkeit als Beitrag zu einer rationalen Territorial- und Verwaltungsreform begrüßt wurde, schließlich abgefunden. Nur die bayerische Regierung protestierte nachdrücklich gegen die Zusammenlegung der bayerischen Pfalz mit dem benachbarten Baden und Württemberg zu einem einheitlichen Landesarbeitsamt „Südwestdeutschland“, mit dem Ergebnis, daß der diesbezügliche Beschluß der Reichsanstalt nicht ausgeführt wurde und die Pfalz weiterhin dem bayerischen Landesarbeitsamt unterstellt blieb166.

166

Dok. Nr. 320; 322; 325; 328, P. 1; 338.

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