2.105.1 (ma31p): [Anlage]

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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Text

RTF

[289] [Anlage]

Der von dem Herrn Reichsarbeitsminister vorgelegte Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes sieht neben den übrigen Gebieten des Arbeiterschutzes auch die gesetzliche Regelung der Höchstarbeitszeit im Rahmen des Washingtoner Übereinkommens über die Arbeitszeit vor. Wie aus den Erklärungen des Vertreters des Reichsarbeitsministeriums in den kommissarischen Beratungen hervorging, beabsichtigt das Reichsarbeitsministerium gleichzeitig oder in kurzer Folge nach der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes den Gesetzentwurf zur Ratifikation des Washingtoner Abkommens vorzulegen.

Es werden also mit der Einbringung des Arbeitsschutzgesetzes die folgenden beiden Fragenkomplexe grundsätzlicher Natur aufgeworfen:

1. Kann Deutschland ohne Schaden für seine Wirtschaft hinsichtlich seiner Arbeitszeitregelung alsbald Bindungen internationaler Art eingehen, d. h. das Washingtoner Abkommen betreffend den 8-Stunden-Tag ratifizieren?

2. Ist – unabhängig von der Ratifikationsfrage – der gegenwärtige Zeitpunkt zu einer endgültigen Neuregelung der innerdeutschen Arbeitszeitbestimmungen geeignet?

I.

1) Der Herr Reichsarbeitsminister selbst hat in seinem Aufsatz „Achtstundentag“ (Reichsarbeitsbl. 1924, Nr. 174) auf die ganz außerordentlich schwierige Lage Deutschlands hingewiesen und wörtlich ausgeführt: „Unsere Verluste, Lasten und Bindungen infolge des Krieges sind so schwer, daß niemand von Deutschland ein Vorangehen in der Frage der Ratifizierung erwarten kann.“ Dieser Satz hat auch heute noch, wo die deutsche Wirtschaft sich in einem gewaltigen Umstellungsprozeß befindet und in immer steigendem Maße die zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Dawesplan nötigen Mittel aufbringen muß, seine volle Geltung, wenn auch mit einer stetigen, aber nur langsamen Besserung unserer Gesamtlage zu rechnen ist.

4

RArbBl. 1924, nichtamtl. Teil, S. 417–420.

Was diese Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Dawesplan selbst anlangt, so darf sie keineswegs durch Druck auf die Arbeitnehmerschaft erzwungen werden. Daher ist auch von seiten des Reichswirtschaftsministeriums keine Gelegenheit versäumt worden, das Unternehmertum davor zu warnen, sich zum Büttel der Ententegläubiger zu machen. – Andererseits dürfte man sich aber täuschen, wenn man glaubt, die Revision des Dawesabkommens durch Ratifikation des Washingtoner Abkommens und die beabsichtigte Neuregelung der Arbeitszeit zu erleichtern. Bisher hat die ausländische Propagandatätigkeit für die Revision ihre Hauptnahrung aus dem Widerstand der gegnerischen Industrieländer gegen die zunehmende Exporttätigkeit Deutschlands gezogen. Die unvermeidliche Steigerung der Produktionskosten durch die beabsichtigte Neuregelung der Arbeitszeit wird möglicherweise unsere Exporttätigkeit schwächen. Es könnte deshalb so kommen, daß nach der Ratifikation des Washing-[290] toner Abkommens das gegnerische Interesse an der Revision des Dawesplanes erlahmen würde.

Wie dem auch sei, man wird zur Frage der Ratifizierung des Washingtoner Abkommens durch Deutschland und eines innerdeutschen Arbeitsschutzgesetzes nicht Stellung nehmen können, ohne den gegenwärtigen Stand der Arbeitszeitfrage im Ausland und die Aussichten der Ratifizierung durch die in Frage kommenden fremden Staaten einer eingehenden Würdigung unterzogen zu haben. Hier ergibt sich nun folgendes Bild:

2) Das Washingtoner Abkommen betr. den 8-Stunden-Tag ist bisher – abgesehen von Belgien, über das noch weiter unten zu sprechen sein wird – von neun Staaten ratifiziert worden, und zwar von Griechenland, Rumänien, Indien, Tschechoslowakei, Bulgarien, Österreich, Italien, Chile und Lettland. Von diesen Ratifikationen sind diejenigen von Österreich, Italien und Lettland nur unter der Bedingung des Beitritts der anderen großen Industriestaaten erfolgt, während die chilenische Ratifikation keine praktische Bedeutung hat, da sie ohne Zustimmung des dortigen Parlaments erfolgt ist. Bisher hat also nur ein einziger Staat, dessen Industrie für die europäische und besonders für die deutsche Wirtschaft von einiger Bedeutung ist, nämlich die Tschechoslowakei, das Abkommen ratifiziert.

In einem Teil der der bisherigen Ratifikationsgemeinschaft angehörigen Staaten hat zudem, wie aus dem letzten Bericht des Direktors des Internationalen Arbeitsamts5 hervorgeht, trotz der erfolgten Ratifikation die Anpassung der innerstaatlichen Gesetzgebung an die Vorschriften des Washingtoner Abkommens nur sehr geringe Fortschritte gemacht. So hat die Griechische Regierung den Direktor des Internationalen Arbeitsamts wissen lassen, daß sie sich bis jetzt noch nicht in der Lage gesehen habe, die einheimische Gesetzgebung den übernommenen Verpflichtungen in vollem Umfange anzupassen. Das gleiche gilt von Rumänien, wo nach einer kürzlich bekannt gewordenen Erhebung des rumänischen Arbeitsministeriums, die sich auf etwa die Hälfte aller in der rumänischen Industrie beschäftigten Personen erstreckte, noch 31% aller industriellen Arbeiter länger als 48 Stunden wöchentlich arbeiten. In der Tschechoslowakei ist nach dem erwähnten Bericht des Direktors des Internationalen Arbeitsamts die Zahl der Überstunden im Jahre 1925 rd. 5mal so groß gewesen als im Jahre 1921.

5

Albert Thomas.

3) Hinsichtlich der Länder, die noch nicht ratifiziert haben, ist hervorzuheben, daß der schwedische Reichstag kürzlich eine Regierungsvorlage abgelehnt hat, durch die die schwedischen Arbeitszeitbestimmungen in der Weise neu geregelt werden sollten, daß sie die Ratifikation des Washingtoner Abkommens ermöglicht hätten. Auch der Schweizerische Nationalrat hat unlängst einen sozialistischen Antrag auf Ratifikation des Washingtoner Abkommens über den 8-Stunden-Tag abgelehnt. Aus statistischen Mitteilungen des Schweizerischen Arbeitsamts geht hervor, daß dort im dritten Quartal des Vorjahres noch fast ⅓ der Industriearbeiterschaft über 48 Stunden wöchentlich arbeitete.[291] Namentlich in der Textil- und Metallindustrie wird dort die 48-Stunden-Woche für einen großen Teil der beschäftigten Arbeiter überschritten.

Bei der zunehmenden Bedeutung der amerikanischen Konkurrenz für die europäische Wirtschaft verdient ferner hervorgehoben zu werden, daß auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, die im allgemeinen wohl die kürzesten Arbeitszeiten von allen Industrieländern aufzuweisen haben, der 8-Stunden-Tag noch keineswegs vorherrschend ist. Sehr wichtiges Material über diese Frage findet sich in dem kürzlich erschienenen Bericht deutscher Gewerkschaftsführer über ihre Amerikareise. Nach der hierin niedergelegten Ansicht der deutschen Gewerkschaftsführer haben zurzeit noch nicht viel mehr als die Hälfte der amerikanischen Arbeiter die 48stündige oder eine noch kürzere Arbeitswoche erreicht.

4) Besonders wichtig für die deutschen Entschlüsse in der Ratifikationsfrage muß natürlich das Verhalten der an der Londoner Konferenz der Arbeitsminister vom März 1926 beteiligten Länder6 sein. Hierzu hat sich der Direktor des Internationalen Arbeitsamts, Albert Thomas, kürzlich in einem ausführlichen Artikel in der „Revue International du Travail“ geäußert, der auch in der deutschen Presse lebhaften Widerhall gefunden hat. In Anlehnung an diesen Aufsatz ist folgendes hervorzuheben:

6

Londoner Konferenz der Arbeitsminister von Belgien, Deutschland, England, Frankreich und Italien über die Arbeitszeitfrage vom 15. bis 19.3.26. – Mit Schreiben vom 26.6.26 an den StSRkei übersandte der RArbM: 1) den Text einer Erklärung über die Ergebnisse der Londoner Konferenz, 2) die Protokolle der Vollsitzungen der Konferenz, 3) eine Aufzeichnung über Sonderverhandlungen zwischen Deutschland und England betr. Art. 14 des Washingtoner Arbeitszeitabkommens (R 43 I /2074 , Bl. 52–125).

Die Englische Regierung, von der die Einladung zu der Londoner Konferenz der Arbeitsminister ausgegangen war, hat im Zusammenhang mit der Krise im englischen Bergbau im Sommer des Jahres ein Gesetz eingebracht, das am 6. Juli 1926 die Zustimmung des Parlaments gefunden hat. Nach diesem Gesetz (Coal Mines Bill) wird auf die Dauer von 5 Jahren die zulässige Arbeitszeit im Bergbau unter Tage von 7 auf 8 Stunden täglich erhöht. Es ist zwar zuzugeben, daß dieses Gesetz nur von fakultativer Bedeutung ist und daß es zudem formell mit dem Washingtoner Abkommen über den 8-Stunden-Tag, das für die Bergarbeiter unter Tage keine Sonderregelung vorsieht, in Einklang zu bringen ist. Auf der anderen Seite ist aber trotz der beruhigenden Erklärungen der englischen Regierung die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß eine Verlängerung der Arbeitszeit der bergmännischen Belegschaft Rückwirkungen auf die Arbeitszeit der übrigen Industriearbeiter haben wird. Damit würde naturgemäß die Ratifikation für England praktisch unmöglich gemacht. Es verdient weiterhin ernsthafte Beachtung, daß nach Verabschiedung des eben erwähnten Gesetzes, welches die Arbeitszeit im Bergbau verlängerte, dem englischen Parlament der Entwurf eines Fabrikgesetzes (sogen. Factory Bill) vorgelegt worden ist, welches die bestehenden, auf die Industriearbeit bezüglichen Vorschriften zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfassen und durch einige neue Vorschriften ergänzen soll. Im Zusammenhang mit dem Problem der internationalen Regelung der Arbeitszeit ist zu diesem Entwurf festzustellen, daß er[292] keinerlei Vorschriften über die Begrenzung der Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Industriearbeiter vorsieht, sondern sich vielmehr in dieser Beziehung auf Frauen und Kinder beschränkt.

Schließlich muß auch hinsichtlich des Willens der englischen Regierung zur Ratifikation zu denken geben, daß der englische Regierungsvertreter auf der Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz vom Mai–Juni 1926, also mehrere Monate nach der Londoner Konferenz der Arbeitsminister, die Erklärung abgegeben hat, die englische Regierung habe infolge der inneren Krise noch keine Zeit gefunden, die Ratifikationsfrage mit der nötigen Ruhe zu studieren; ähnlich hat sich der Vertreter der englischen Regierung auch auf der letzten Tagung des Internationalen Arbeitsamts im Oktober 1926 geäußert. Andere Äußerungen der englischen Regierung, die deren Absicht, das Washingtoner Abkommen zu ratifizieren, zum Ausdruck gebracht hätten, sind diesseits nicht bekannt geworden.

Selbst wenn aber die englische Regierung eine Ratifikationsbill einbringen würde, kann es zweifelhaft sein, ob das englische Parlament der Ratifikation zustimmen würde, nachdem es im Frühjahr 1925 ein entsprechendes, von der Arbeiterregierung eingebrachtes Gesetz abgelehnt hat.

Was Italien angeht, so braucht wohl nur an die bekannte Verordnung des italienischen Ministerrats vom 30. Juni 1926 betr. die Einführung des 9-Stunden-Tages erinnert zu werden, um die Verschiebung der Situation zu kennzeichnen, die in diesem Lande seit der Londoner Konferenz der Arbeitsminister eingetreten ist. Die Tragweite dieser Verordnung auf internationalem Gebiet wird auch nicht durch die Erklärungen des italienischen Vertreters auf der letzten Genfer Tagung abgeschwächt.

In Frankreich hatte die Kammer der Abgeordneten bereits unter dem 8. Juli 1925 einstimmig einen Gesetzentwurf angenommen, welcher die Regierung zur Ratifikation ermächtigt, jedoch vorbehaltlich der Ratifikation durch Deutschland. Im Juni 1926 hat der damit befaßte Ausschuß des Senats diesen Beschluß der Kammer gebilligt. Damit hat zweifellos die Ratifikation in Frankreich gewisse formelle Fortschritte gemacht. Auf der andern Seite darf man aber nicht verkennen, daß das französische Kabinett seit der Londoner Ministerkonferenz7, auf der sich der französische Arbeitsminister8 warm für die Ratifikation eingesetzt hatte, gewechselt hat und daß die Stellungnahme des neuen Kabinetts9 gegenüber der Ratifikationsfrage noch ungewiß ist. Gerade im Zusammenhang mit der Stabilisierung der französischen Währung scheint ein Abweichen von der bisher in der Ratifikationsfrage von Frankreich eingenommenen Stellung durchaus im Bereiche des Möglichen zu liegen. Hat doch z. B. der zur Untersuchung des Problems der Frankenstabilisierung eingesetzte Sachverständigenausschuß im Interesse der Steigerung der französischen Produktion empfohlen, zwar nicht mit dem Grundsatz des 8-Stunden-Tages zu brechen, immerhin[293] aber die französische Arbeitszeitgesetzgebung möglichst liberal zu handhaben. Dabei wird nach den hier zur Verfügung stehenden Unterlagen und Berichten in Frankreich das 8-Stunden-Tag-Gesetz bereits so gehandhabt, daß praktisch der 9-Stunden-Tag vorherrschend ist. Der französische Arbeitsminister hat ja auf der Londoner Konferenz der Arbeitsminister auch das Zugeständnis gemacht, daß eine Ratifikation des Washingtoner Abkommens gewisse Änderungen der französischen Arbeitszeitgesetzgebung erforderlich machen würde. Erklärungen der französischen Regierung darüber, daß derartige Änderungen der französischen Arbeitszeitgesetzgebung in Angriff genommen worden seien, sind jedoch nicht bekannt geworden.

7

Siehe Anm. 6.

8
 

Durafour, Arbeitsminister im Kabinett Briand.

9

Am 23.7.26 war eine neue frz. Regierung unter MinPräs. Poincaré gebildet worden.

In Belgien hat inzwischen die Ratifikation die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften gefunden; die Erklärung der Ratifikation durch die belgische Regierung ist bereits erfolgt. Die Bedeutung des Vorangehens der belgischen Regierung für die internationale Arbeitszeitregelung darf keineswegs verkannt werden. Auf der anderen Seite ist aber zu betonen, daß die Ratifikation durch Belgien allein die internationalen Konkurrenzverhältnisse nicht in einer so entscheidenden Weise zu beeinflussen vermag, daß Deutschland nunmehr unbedenklich auch seinerseits ratifizieren könnte.

5) Bei einer Würdigung der vorstehend geschilderten Gesamtlage muß man zu dem Ergebnis kommen, daß sich seit der Londoner Konferenz der Arbeitsminister die Situation in den wichtigsten außerdeutschen Industriestaaten – abgesehen von Belgien – in einem der Durchführung der Ratifikation ungünstigen Sinne verschoben hat, eine Tatsache, die auch der Direktor des Internationalen Arbeitsamtes in seinem eingangs erwähnten Aufsatz besonders betont. Damit ist aber auch Deutschland die Möglichkeit der Ratifikation vorläufig genommen; denn Deutschland kann doch nur dann ohne untragbare einseitige Verschiebung der Konkurrenzverhältnisse auf dem Weltmarkt hinsichtlich der Arbeitszeit internationale Bindungen eingehen, wenn es die Gewißheit hat, daß nicht nur das eine oder andere Land die in Washington vereinbarten Bindungen eingehen wird, sondern daß alle wichtigen europäischen Industriestaaten gleichzeitig formell ratifizieren und darüber hinaus ihre innere Gesetzgebung in volle Übereinstimmung mit dem Washingtoner Abkommen bringen.

Nun ist zwar von dem Reichsarbeitsministerium eine Form der Ratifikation beabsichtigt, die das Abkommen für Deutschland nur bei gleichzeitigem Inkrafttreten in den anderen, an der Londoner Konferenz beteiligten Ländern wirksam werden läßt. Durch diese Form wird aber nur ein Teil der Bedenken ausgeräumt, die einer Ratifizierung durch Deutschland entgegenstehen. Einmal hat Deutschland, wenn es nur die gleichzeitige formelle Ratifizierung seitens der anderen Industriestaaten verlangt, keine Gewähr dafür, daß in diesen Ländern auch die innere Arbeitszeitgesetzgebung dem Washingtoner Abkommen alsbald angepaßt wird, und daß nicht vielmehr, wie dies z. B. bei Griechenland und Rumänien der Fall gewesen ist, trotz der erfolgten Ratifikation eine Änderung der innerstaatlichen Arbeitszeitgesetzgebung unterbleibt. Gerade auf den letzten Punkt kommt es aber für die internationalen Konferenzverhältnisse10[294] an, wenn die Gefahr eines „sozialen Dumpings“ vermieden werden soll.

10

Muß heißen: Konkurrenzverhältnisse.

Auf der Tagung des Internationalen Arbeitsamts vom Mai d. Js. hat der Vertreter des Reichsarbeitsministeriums erklärt, Deutschland werde erst dann ratifizieren, wenn es seine innere Gesetzgebung dem Washingtoner Abkommen angeglichen habe. Das würde also bedeuten, daß Deutschland, auch wenn es selbst nur bedingt ratifiziert, sich, ohne das Vorgehen der anderen Länder abzuwarten, dem Washingtoner Abkommen unterwirft und somit materiell die unbedingte Ratifikation vorwegnimmt, wenn auch mit der Maßgabe, daß eine feste internationale Bindung seinerseits zunächst nicht vorliegt. Außenpolitische Gründe können zu diesem Verfahren nicht zwingen. Bestimmen doch die Artikel 16 und 19 des Washingtoner Abkommens betreffend den Achtstundentag ausdrücklich, daß diejenigen Staaten, die dieses Abkommen ratifizieren, sich verpflichten, seine Vorschriften in ihrem Gebiete zur Anwendung zu bringen; nicht aber ist gesagt, daß nur dann ratifiziert werden darf, wenn die Arbeitszeitgesetzgebung dem Abkommen bereits entspricht. Für den Fall also, daß Deutschland sich zu einer durch den Beitritt der anderen großen Industriestaaten Europas bedingten Ratifikation entschließt, braucht es seine innere Gesetzgebung erst dann umzugestalten, wenn eine Ratifikationsgemeinschaft von der nötigen Tragfähigkeit sich gebildet hat und die deutsche Ratifikation demnach wirksam geworden ist. Es ist dagegen nicht erforderlich, daß Deutschland schon jetzt mit Rücksicht auf eine zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehene Ratifikation, deren Wirksamwerden zudem durch die beizufügende Bedingung ungewiß ist, eine Umgestaltung seiner Arbeitszeitgesetze vornimmt.

II.

1) Die zweite Frage, ob unabhängig von dem Ratifikationsplan der gegenwärtige Zeitpunkt für geeignet angesehen werden kann, um eine Neuregelung der innerdeutschen Arbeitszeitgesetzgebung vorzunehmen, kann vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus nicht bejaht werden. Der Erlaß der jetzt geltenden Arbeitszeitverordnung11 hat sich seinerzeit als notwendig herausgestellt, um der von der Gefahr des völligen Erliegens bedrohten Wirtschaft die Möglichkeit des Wiederaufrichtens zu geben. Gewiß ist die Arbeitszeitverordnung als Notmaßnahme vorübergehenden Charakters gedacht gewesen und mit Recht in den Regierungserklärungen der letzten Kabinette als solche bezeichnet worden. Es kann aber nicht anerkannt werden, daß sich die Lage der deutschen Wirtschaft seit dem Erlaß der Arbeitszeitverordnung schon in einer solchen Weise gefestigt habe, daß eine Beschränkung der Möglichkeiten hinsichtlich der Ausnutzung der Arbeitszeit, wie sie die Arbeitszeitverordnung im Interesse einer Produktionssteigerung zuläßt, gerechtfertigt wäre. Die deutsche Wirtschaft kann noch keineswegs als gesundet angesehen werden; sie befindet sich trotz einzelner Belebungserscheinungen im ganzen noch im Zustand der Depression.[295] Unser Aufstieg wird langsam sein, Tempo und Dauer ist noch nicht zu übersehen. Die Rationalisierung ist noch keineswegs beendigt. Nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in großen Teilen der Industrie steht die Hauptarbeit noch bevor. Dazu kommt die starke Abhängigkeit vom ausländischen Kreditmarkt und die Unübersichtlichkeit weltwirtschaftlicher Zusammenhänge, die einen unmittelbaren Einfluß auf die deutsche Wirtschaft haben.

11

„Verordnung über die Arbeitszeit“ vom 21.12.23 (RGBl. I, S. 1249 ).

2) Eine Neuregelung der Arbeitszeit für die Wirtschaft ist immer von tief einschneidender Bedeutung und kann daher nur bei klarer Erkenntnis der Gesamtlage der Wirtschaft ohne Schädigung für das Volksganze in die Tat umgesetzt werden. Weil sowohl ein sicheres Urteil über die Lage unserer Wirtschaft als auch über die Einwirkung von Arbeitszeit und Arbeitslohn auf die Arbeitsleistung auf Grund der bisherigen Unterlagen noch nicht möglich war, ist im Frühjahr d. Js. die Wirtschaftsenquete eingeleitet worden12, deren Untersuchungsergebnisse, besonders die des Arbeitsleistungsausschusses, auf die endgültige Gestaltung des Arbeitsschutzgesetzes von größter Bedeutung sein müssen. Die Untersuchungen des Arbeitsleistungsausschusses sind in vollem Gang. Es erscheint nicht angängig, das Arbeitsschutzgesetz ohne die Ergebnisse der Enquete auf diesem Gebiete verabschieden zu wollen, da der Enqueteausschuß in erster Linie gerade zur Aufklärung der mit Arbeitszeit und Arbeitslohn zusammenhängenden Fragen eingesetzt worden ist13.

12

Gemeint sind die Erhebungen des durch Gesetz vom 15.4.26 (RGBl. I, S. 195 ) gebildeten „Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft“ (Enqueteausschuß).

13

Hierzu heißt es in einer Aufzeichnung des MinR Feßler vom 16. 11.: Der 4. Unterausschuß des Enqueteausschusses, der sich mit der Frage der Wirkung der Arbeitszeit und des Arbeitslohns auf die Arbeitsleistung beschäftige, habe bereits mit Erhebungen in einigen Hütten- und Grubenbetrieben des Westens begonnen; die Erhebungen sollen im Dezember für den Bergbau und die Eisenhütten abgeschlossen werden. „Das Programm der weiteren Erörterungen ist so umfangreich, daß es voraussichtlich erst in etwa 2 Jahren erledigt werden kann. Darüber, inwieweit tatsächlich in der Industrie jetzt Überstunden geleistet werden, werden Feststellungen nur nebenbei getroffen. Demnach dürften die Arbeiten für die aktuelle Frage der Arbeitszeitregelung nur eine verhältnismäßig geringe Bedeutung haben.“ (R 43 I /2059 , Bl. 295–296).

Die „Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Arbeitsleistung“ (IV. Unterausschuß des Enqueteausschusses) erschienen in 9 Bänden zwischen 1927 und 1930.

3) Das gilt umsomehr, als der Entwurf des Arbeitsschutzgesetzes einen grundsätzlichen Systemwechsel bedeutet. Den Achtstundentag als Grundsatz legt auch die jetzt gültige Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923 gesetzlich fest. Aber der Schwerpunkt in der Arbeitszeitfrage liegt nach dieser Verordnung bei den tariflichen Abmachungen der Parteien, die die Arbeitszeit abweichend von dem gesetzlichen Grundsatz regeln können, wobei den verantwortlichen Behörden lediglich gewisse Vetorechte eingeräumt sind, um sozialpolitische Mißgriffe zu verhüten. Das Arbeitsschutzgesetz dagegen will den Tarifparteien hinsichtlich der Arbeitszeitfrage das Selbstbestimmungsrecht im wesentlichen nehmen, möglichst viele Fragen gesetzlich regeln und wohl auch den Behörden einen verstärkten Einfluß zuweisen. Die nach der Arbeitszeitverordnung gegebene Möglichkeit, durch tarifliche Vereinbarungen einen Spielraum von jährlich rund 600 Mehrarbeitsstunden auszunutzen, wird dadurch erheblich eingeengt, daß die zulässigen Mehrarbeitsstunden auf jährlich 250,[296] in Ausnahmefällen auf jährlich 360 festgesetzt werden sollen, wobei noch dazu ein Zwang zur Bezahlung eines Überstundenzuschlags von 25% auf den Stundenlohn vorgesehen ist14. Das in weiten Teilen der Wirtschaft heute noch übliche und auch von dem Herrn Reichsarbeitsminister gelegentlich der Chefbesprechung im Reichstag am 20. Oktober abends noch für erforderlich erklärte kontinuierliche Zweischichtensystem wird durch den Entwurf voraussichtlich unmöglich gemacht werden.

14

Nach § 14 des Entwurfs eines Arbeitsschutzgesetzes; vgl. Anm. 1.

4) Lehnt man die Art der Arbeitszeitregelung, wie sie in dem Entwurf des Arbeitsschutzgesetzes vorgesehen ist, im gegenwärtigen Zeitpunkt ab, so bedeutet das keineswegs eine grundsätzliche Gegnerschaft gegenüber dem Achtstundentag. Es besteht weniger ein Unterschied im Ziel, als in den Wegen. Man kann den Achtstundentag erreichen einmal im Wege der allmählichen Verkürzung der Arbeitszeit entsprechend dem Fortschreiten der technischen Rationalisierung, die es ohne Schädigung der Wirtschaft erlaubt, dem Drängen der Arbeiterschaft nach Verkürzung der Arbeitszeit Schritt für Schritt nachzugeben; auf der anderen Seite kann man im Wege der Gesetzgebung den Achtstundentag mit einem Schlage für alle Betriebe einführen, ohne Rücksicht auf den Stand der Entwicklung in den einzelnen Industrien. Es liegt auf der Hand, daß der letztere Weg zwar kürzer, aber dafür bedenklicher ist, und daß er zu den schwersten Rückschlägen führen kann; denn jede gesetzliche Regelung der Arbeitszeitfrage, besonders wenn dies in einer erschöpfenden, möglichst viele Fälle kasuistisch regelnden Form geschieht, bedeutet bei der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen Tatbestände, denen eine solche Regelung gerecht werden soll, bis zu einem gewissen Grade ein Experiment. Vom wirtschaftlichen Standpunkt ist der andere Weg, der die Verkürzung der Arbeitszeit in die Tarifverhandlungen legt, sicherlich vorzuziehen.

Es ist zuzugeben, daß nicht nur ein hoher Lohnstandard, sondern auch eine Verkürzung der Arbeitszeit einen starken Antrieb zur technischen Rationalisierung bedeutet und daß insofern auch vom wirtschaftlichen Standpunkt ein Interesse an einer Verkürzung der Arbeitszeit besteht. Dem Rationalisierungsprozeß sind aber im Tempo Grenzen gesetzt, besonders dann, wenn das Kapital, das die notwendige Voraussetzung jeden technischen Fortschritts bildet, nur schwer und teuer zu haben ist. Man wird daher in Situationen, in denen, wie gegenwärtig, die Beschaffung des Kapitals für die Unternehmungen noch sehr schwierig ist – darüber darf die Flüssigkeit des Geldmarktes und Leichtigkeit für die öffentliche Hand und die Großunternehmung, Auslandsanleihen zu erhalten, nicht täuschen –, die Rationalisierung nicht mit den beiden treibenden Momenten (Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung) gleichzeitig fördern können, ohne viele – auch an sich gesunde – Betriebe in die Gefahr des Erliegens zu bringen. Nun hat die Entwicklung in Deutschland seit dem Inkrafttreten der Arbeitszeitverordnung gezeigt, daß die Arbeiterschaft den entscheidenden Wert in erster Linie auf Erhöhung des Lohnniveaus gelegt und Verlängerung der Arbeitszeit demgegenüber in Kauf genommen hat. Es ist der Arbeiterschaft seit der Währungsstabilisierung gelungen, im Tarifkampfe[297] ihre Löhne ganz wesentlich zu steigern und das erreichte Lohnniveau auch seit dem Einsetzen der Krise im wesentlichen zu halten. Das würde ihr nicht möglich gewesen sein, wenn sie nach dem Erlaß der Arbeitszeitverordnung einer Arbeitszeitverlängerung sich widersetzt oder späterhin generell eine Arbeitszeitverkürzung hätte durchsetzen wollen. Würde jetzt auf Grund gesetzgeberischer Maßnahmen die Arbeitszeitverkürzung eintreten, die im Tarifkampfe von der Arbeiterschaft nicht erzielt worden ist, so würde das zweifellos eine Vermehrung der Belegschaft in den Betrieben und damit eine Erhöhung der Unkosten zur Folge haben. Das müßte einen Lohndruck hervorrufen, dem die Arbeiterschaft bei der heutigen Arbeitslosigkeit kaum standhalten könnte15.

15

Am 13.11.26 übersandte der RArbM der Rkei die Begründung zum Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes. Im Begleitschreiben wies der RArbM die vom RWiM ausgesprochene Warnung vor einer überstürzten Beratung und Beschlußfassung über den GesEntw. als unbegründet zurück. Der GesEntw. sei seit über zwei Jahren im RArbMin. sorgfältig vorbereitet worden; dabei hätten eingehende Besprechungen mit den Reichsressorts, den Länderregierungen sowie den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden stattgefunden. „Im Interesse einer ruhigen und sachlichen Weiterberatung der Arbeitszeitfrage, auf die das Reichsarbeitsministerium besonderen Wert legt, ist es, wie ich schon in meinem Schreiben vom 29. Oktober d. J. betont habe [siehe Anm. 1], besonders wichtig, daß die Beschlußfassung des Kabinetts nunmehr möglichst schnell erfolgt, da andernfalls der von den Spitzengewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei angekündigten Einbringung eines Notgesetzes zur Regelung der Arbeitszeit nicht wirksam entgegengetreten werden kann.“ (R 43 I /2019 , Bl. 243–244). Siehe auch das Schreiben des RArbM an sämtliche RM vom 22.11.26 (Dok. Nr. 123).

Das Kabinett begann mit der Beratung des Arbeitsschutzgesetzes am 24. 11. (Dok. Nr. 125, P. 3). Zuvor fand am 9. 11. eine Besprechung mit der Vereinigung der Dt. Arbeitgeber-Verbände und am 13. 11. eine Besprechung mit Gewerkschaftsvertretern über die Arbeitszeitfrage statt (Dok. Nr. 110 und Nr. 117).

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