1.72.1 (ma32p): 1. Bericht über die Genfer Völkerbundstagung.

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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Text

RTF

1. Bericht über die Genfer Völkerbundstagung2.

2

Zum Verlauf der Tagungen der Völkerbundsversammlung und des Völkerbundsrats im September 1927 siehe: Schultheß 1927, S. 517 ff.; ADAP, Serie B, Bd. VI (dort zahlreiche Dokumente ab Dok. Nr. 161); ebd., Bd. VII, Dok. Nr. 9; Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 206 ff.

Einleitend bemerkte der Reichsminister des Auswärtigen daß die allgemeinpolitische Bedeutung der Genfer Völkerbundstagungen seiner Ansicht nach in ständigem Wachsen sei. Er vermute, daß in naher Zukunft auch die Türkei dem Völkerbunde beitreten werde. Die deutsche Delegation habe in Genf erfreuliches Ansehen gehabt. Er glaube, daß sie im Vergleich zu den Delegationen anderer Großmächte besonders günstig zusammengesetzt gewesen sei.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete sodann über die Präsidentenwahl und die Wahl der drei neuen Ratsmitglieder3. Die Vertreter von Kuba und Kanada seien auch die Kandidaten Deutschlands gewesen. An Stelle des finnländischen Delegierten würde Deutschland den Vertreter Portugals vorgezogen haben.

3

Zum Präsidenten der Völkerbundsversammlung wurde Guani (Uruguay) gewählt; neue Mitglieder des Völkerbundsrates wurden de Aguero (Kuba), Dandurand (Kanada) und Voionmaa (Finnland).

Polnischer Vorstoß.

Die Anträge des niederländischen Vertreters Beelaerts4 und des polnischen Delegierten Sokal5 sei den Großmächten überraschend gekommen. Der französische wie der englische Außenminister6 hätten sich in dieser Frage loyal bemüht, mit Deutschland in einer Linie zu bleiben. Chamberlain sei hierbei sogar so schroff vorgegangen, daß er sich im Völkerbund zahlreiche Sympathien verscherzt habe. Naturgemäß seien die kleinen Nationen über das Scheitern dieser[984] Anträge zunächst verstimmt gewesen; durch die Unterzeichnung der Fakultativklausel7 sei es aber gelungen, nicht nur diese Verstimmung von Deutschland abzulenken, sondern im Gegenteil Deutschlands Gewicht bei den kleinen Nationen ganz erheblich zu verstärken.. Dies sei umso bemerkenswerter, als der französische Einfluß im Völkerbund etwas zurückgegangen zu sein scheine. Man habe den Eindruck, als ob die französische Beredsamkeit auf den Gebieten der Sicherheit, der Abrüstung und der Verständigung etwas von ihrer Wirksamkeit verloren habe, da man in der Welt mehr und mehr auf entsprechende Taten Frankreichs warte.

4

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 9 (S. 23 f.).

5

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VI, Dok. Nr. 179, 187; Bd. VII, Dok. Nr. 9 (S. 25 f.).

6

Briand und Chamberlain.

7

Siehe Dok. Nr. 290.

Die Arbeit der Kommissionen.

Die deutschen Vertreter in der juristischen, der Abrüstungs-, der Wirtschafts- und der Finanzkommission hätten zweifellos mit großem Erfolge gearbeitet. Die Beratungen in der Abrüstungskommission hätten zu einem Deutschland befriedigenden Ergebnis insofern geführt, als festgestellt worden sei, daß auch beim gegenwärtigen Stand der Sicherheitsfrage die internationale Abrüstung weiter gefördert werden müsse. Wenn dabei von anderen Staaten Verträge nach dem Vorbilde von Locarno geschlossen werden sollten, wie das z. B. von den baltischen Staaten erwogen werde, so brauche Deutschland dem nicht zu widerstreben, solange es nicht selbst neuen Bindungen unterworfen werden solle. Daß das Genfer Protokoll8 ein für allemal für Deutschland indiskutabel sei, ergebe sich daraus, daß es eine neue Garantie für die Friedensverträge des Jahres 1919 enthalten solle.

8

Genfer Protokoll vom 2.10.24; Text in: Wehberg, Das Genfer Protokoll betr. die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten, S. 159 ff.; Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1318 (Auszug).

Ratstagung.

In der Behandlung der Danziger Frage habe sich als bedauerlich herausgestellt, daß zu vielerlei auf einmal von Danzig vorgebracht worden sei. Auch sei die Verbindung zwischen der Danziger Vertretung und der deutschen Delegation von seiten Danzigs nicht gründlich genug vorbereitet und durchgeführt worden. Immerhin sei Deutschland jetzt bereits anerkannter Protektor aller Danziger Wünsche geworden. Wenn nicht mehr erreicht worden sei, so liege das an den von Danzig im Jahre 1920 unterzeichneten sehr ungünstigen Verträgen.

Bezüglich der Herstellung von Flugzeugmaterial sei ein Erfolg für Danzig erzielt worden.

Bezüglich der Verlegung des polnischen Kriegshafens von der Westerplatte nach Gdingen und der Exterritorialität der Westerplatte sei wenigstens Vertagung erreicht worden9.

9

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VI, Dok. Nr. 162, 205.

Ebenso sei der Streit um den Kreuzer „Salamis“ vertagt10.

10

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 180.

[985] Im übrigen habe der Rat sich noch besonders mit dem ungarisch-rumänischen Streitfall beschäftigt11. In Zusammenhang hiermit habe Herr Benesch angekündigt, daß er an Deutschland in Sachen des deutschen Großgrundbesitzes in der Tschechoslowakei herantreten werde, um zu vermeiden, daß diese Frage etwa auch vor den Völkerbund käme.

11

Zum ungar.-rumän. Optantenstreit siehe ADAP, Serie B, Bd. VI, Dok. Nr. 209; Bd. VII, Dok. Nr. 130; Schultheß 1927, S. 532 f.

Die Aufnahme Geheimrat Kastls in die Mandatskommission sei ohne Widerstand vor sich gegangen.

Tannenbergrede.

Die Rede des Herrn Reichspräsidenten in Tannenberg12 habe zunächst in Genf keine Schwierigkeiten hervorgerufen. Erst das Kaisertelegramm13 habe eine unerfreuliche Stimmung erzeugt. Diese habe der Reichsminister des Auswärtigen durch ein Matin-Interview zu beseitigen versucht14. Bedauerlicherweise habe Herr Breitscheid, noch ehe er das Interview gekannt habe, sich außerhalb des Kreises der Delegation ablehnend geäußert. Als dann die unerhörte Rede von Herrn Jaspar15 bekannt geworden sei, habe man die Verhandlungen mit Belgien über ein Einvernehmen bezüglich der Franktireurfrage abgebrochen und auf den diplomatischen Weg verwiesen. Der Gesandte von Keller habe Anweisung, weitere Erklärungen der Belgier abzuwarten16.

12

In seiner Rede anläßlich der Einweihung des Tannenberg-Denkmals bei Hohenstein am 18.9.27 hatte RPräs. v. Hindenburg ausgeführt: „Das Tannenberg-Nationaldenkmal gilt in erster Linie dem Gedächtnis derer, die für die Befreiung der Heimat gefallen sind. Ihr Andenken, aber auch die Ehre meiner noch lebenden Kameraden verpflichten mich dazu, in dieser Stunde und an dieser Stätte feierlich zu erklären: Die Anklage, daß Deutschland schuld sei an diesem größten aller Kriege, weisen wir, weist das deutsche Volk in allen seinen Schichten einmütig zurück! Nicht Neid, Haß oder Eroberungslust gaben uns die Waffen in die Hand. Der Krieg war uns vielmehr das äußerste, mit den schwersten Opfern des ganzen Volkes verbundene Mittel der Selbstbehauptung einer Welt von Feinden gegenüber. Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt. Deutschland ist jederzeit bereit, dies vor unparteiischen Richtern nachzuweisen.“ Text: Schulheß 1927, S. 153.

13

Telegramm Wilhelms II. an Hindenburg zur Einweihung des Tannenberg-Denkmals; siehe Schultheß 1927, S. 154.

14

Zum Matin-Interview Stresemanns siehe: Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 198 ff.

15

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 17, Anm. 5.

16

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 17.

Besprechungen mit den Locarnomächten.

Bezüglich der Truppenverminderung im Rheinland habe Briand zwei Noten zugesagt: 1. eine allgemeine mit der Ankündigung der Truppenverminderung, die bekanntlich eingetroffen sei17, 2. eine ins einzelne gehende Aufstellung der neuen Dislokation. Hiervon sei bisher nur nichtamtlich ein französischer Entwurf mitgeteilt worden18. Die amtliche Übermittelung sei noch nicht erfolgt, angeblich, weil das erforderliche Material von England noch nicht bekannt sei.

17

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VI, Dok. Nr. 172.

18

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 208.

Die gemeinsame Besprechung der Vertreter der Locarnomächte19 habe ergeben,[986] daß das Recht Deutschlands aus Artikel 431 des Friedensvertrages auf die Räumung des Rheinlandes unbestritten sei. Herr Chamberlain und Herr Briand hätten auch ausdrücklich erklärt, daß der deutsche Außenminister hiervon in seinem Berichte vor dem Reichskabinett Gebrauch machen könne. Chamberlain insbesondere habe aber dringend davor gewarnt, daß Deutschland sich bei einer etwaigen Aktion für die Rheinlandräumung auf den § 431 in erster Linie stütze. In den Händen der Juristen könne dieser Paragraph sicherlich manche Auslegung finden, die der Räumung abträglich sein würde. Insbesondere stehe doch fest, daß Deutschland gewisse Bedingungen des Friedensvertrages, die tatsächlich unerfüllbar seien, eben nicht erfüllt habe. Nach Ansicht des Reichsministers des Auswärtigen habe Herr Chamberlain sich hierbei auf die Auslieferung der sogenannten Kriegsverbrecher bezogen. Chamberlain habe im übrigen die Besetzung des Rheinlandes als ein europäisches Unglück bezeichnet; England werde jeden Tag begrüßen, um den sie verkürzt werden könne. Briand habe seinerseits sehr befürwortet, mit einer Aktion für die Rheinlandräumung bis nach den französischen Wahlen20 zu warten. Allgemein erwarte man von den französischen Wahlen einen Sieg der Verständigungspolitik. Eine vorzeitige Räumungsdebatte könne aber den Gegnern der Räumung unerwünschte Argumente in die Hand geben.

19

Am 14.9.27 in Genf; siehe die Aufzeichnung Stresemanns vom 15. 9. in: ADAP, Serie B, Bd. VI, Dok. Nr. 203.

20

Im April 1928.

Auf die Anfrage Chamberlains, wie Poincaré zu Locarno stehe, habe Briand mit einem Hinweis auf die allmähliche Wandlung der Einstellung Poincarés gegenüber Deutschland geantwortet.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete, er habe erklärt, daß die Reichsregierung sich den Zeitpunkt ihrer Aktion vorbehalten müsse. Er stelle jedenfalls fest, daß das Recht Deutschlands auf die Räumung nicht in Zweifel gezogen sei.

Über das russisch-französische Verhältnis habe Briand mitgeteilt, daß die französische Regierung Rakowski aus Paris zu beseitigen beabsichtige21. Die Verhandlungen über die Vorkriegsschulden und die Erwägung eines Nichtangriffspaktes zwischen Rußland und Frankreich bzw. Rußland und Polen hätten noch zu keinerlei positivem Ergebnis geführt. Er beabsichtige jedenfalls, Deutschland hierüber auf dem laufenden zu halten.

21

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VI, Dok. Nr. 210.

In einer besonderen Besprechung habe Vandervelde erklärt, daß er in der Rheinlandfrage wie die übrigen Locarnomächte denke22. Die Frage Eupen-Malmedy würde zweckmäßigerweise im Zusammenhang mit den anderen großen Fragen zu verhandeln sein. Auch in Belgien sei mit baldigen Wahlen zu rechnen.

22

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 215.

Der Reichskanzler dankte dem Reichsminister des Auswärtigen für seine Ausführungen und stellte fest, daß diesmal auch die Verbindung zwischen Genf und Berlin, für die besonders die Anwesenheit des Staatssekretärs in der Reichskanzlei in Genf wertvoll gewesen sei, reibungslos vor sich gegangen sei. Er begrüße es sehr, daß bezüglich der Rheinlandräumung die Anwendung des[987] § 431 als gefährlich bezeichnet worden sei. Auch er glaube, daß die juristische Auslegung dieses Artikels Gefahren in sich berge.

Der Tannenbergrede des Herrn Reichspräsidenten23 habe er zugestimmt. Vielleicht würde es die gesamte Behandlung der Schuldfrage sehr erleichtern, wenn den anderen Mächten klargemacht werden könne, daß Deutschland hier nur um seine Ehre kämpfe und sich nicht etwa auf diesem Wege von den materiellen Bestimmungen des Friedensvertrages bzw. den Reparationsleistungen befreien wolle24.

23

Siehe oben Anm. 12.

24

Bei einer Unterredung zwischen RK Marx und Bunau-Varilla (Eigentümer des „Matin“) am 17.10.27 kam der RK auch „auf die Rede des Herrn Reichspräsidenten in Tannenberg und die aus diesem Anlaß und über die Kriegsschuldfrage in Frankreich entfachte Diskussion zu sprechen. Er wies darauf hin, daß in der französischen Öffentlichkeit, insbesondere auch im ‚Matin‘ die irrtümliche These vertreten sei, daß man deutscherseits durch eine Diskussion über die Kriegsschuldfrage eine Diskussion über die Rechtsgrundlage des Versailler Friedensvertrages überhaupt entfachen und die Zahlungen der Reparationsverpflichtungen umgehen wolle. Das sei durchaus nicht der Fall und ein unbegründeter Verdacht […]. Sein Standpunkt und der Standpunkt des Kabinetts, auch wenn er in einem offiziellen Beschluß nicht Ausdruck gefunden hätte, sei ein ganz anderer. Es handelte sich nicht um eine beabsichtigte Nichterfüllung der Reparationsverpflichtungen. Eine solche sei schon durch die Annahme des Dawes-Plans in London unmöglich, und Deutschland wäre sich darüber klar, daß es die Reparationsverpflichtungen erfüllen müsse, nicht wegen Artikel 231 des Versailler Vertrages, sondern weil es den Krieg verloren hätte. Aber es handele sich bei der Behauptung, daß Deutschland allein am Kriege schuld sei, um eine Ehrenfrage, um einen Vorwurf, den das deutsche Volk nicht auf sich sitzen lassen könne. Er hoffe, daß diese Frage durch die Forschung und die Wissenschaft eine unparteiische Klärung finden würde, und er würde im geeigneten Augenblick Gelegenheit nehmen, auch öffentlich in diesem Sinne eine Erklärung abzugeben.“ (Aufzeichnung Zechlins über eine Unterredung zwischen dem RK und Bunau-Varilla vom 17. 10., in R 43 I /66 , S. 579–582; vgl. dazu ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 42, bes. Anm. 2). Siehe auch die Ausführungen über die Tannenbergrede Hindenburgs und die Kriegsschuldfrage in der Rede des RK Marx auf der Kundgebung der Zentrumspartei am 30.10.27 in Essen (WTB-Bericht in R 43 I /2658 , Bl. 31–33; vgl. auch: Politisches Jahrbuch 1927/28, S. 113).

Der Reichsminister der Justiz stellte fest, daß auch nach seiner Ansicht die diesmalige Völkerbundstagung viel mehr positive Momente gezeigt habe als die früheren. Auch in dem Inhalt der Besprechungen der Locarno-Minister sehe er eine Verbesserung des deutschen Standpunktes. Als bedauerlich müsse er nach wie vor bezeichnen, daß die Truppenverminderung ein ungünstiges Ausmaß habe. Er lasse dahingestellt, ob bezüglich Truppenverminderung und Rheinlandräumung der Enttäuschung Deutschlands nicht noch stärker hätte Ausdruck gegeben werden können.

Sehr begrüßt habe er das Interview des Reichsministers des Auswärtigen im „Matin“.

In der Weiterbehandlung der in Genf noch nicht zur Lösung gelangten Fragen sehe er gewisse Schwierigkeiten voraus, wolle aber hierzu keine Anträge stellen. Über die im Reichstag zu machenden Mitteilungen werde man sich noch verständigen müssen.

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte hierauf, daß er beabsichtige, vor der wohl erst im Spätherbst zu erwartenden großen Debatte über Außenpolitik25 im Reichskabinett eine nochmalige Beratung herbeizuführen.

25

Die nächste große außenpolitische Debatte im RT fand vom 30. 1. bis 1.2.28 statt (RT-Bd. 394, S. 12489  ff., 12517 ff., 12539 ff.).

[988] Der Reichskanzler schloß die Besprechung dieses Gegenstandes mit Worten des Dankes namens der Reichsregierung für den Reichsminister des Auswärtigen und alle in Genf tätig gewesenen Herren. Es wurde nebenstehende Verlautbarung für die Presse vereinbart26.

26

In der Verlautbarung wurde lediglich mitgeteilt, daß das Kabinett den Bericht des RAM über die Tagung des Völkerbundes entgegengenommen habe.

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