2.166.1 (mu21p): [Finanz- und Koalitionsfragen.]

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Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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[Finanz- und Koalitionsfragen.]

Der Reichskanzler teilte mit, daß das Reichskabinett in seiner Sitzung vom 7. April sich mit den Vorschlägen, welche von den Haushaltssachverständigen[532] der Sozialdemokratie, des Zentrums, der Deutschen Volkspartei, der Demokraten, der Bayerischen Volkspartei gemeinsam vereinbart waren, befaßt habe und daß das Reichskabinett nach eingehender Prüfung beschlossen habe, im Hinblick auf die gesamtpolitischen Notwendigkeiten, insbesondere die rasche Erledigung des Etats, unter Zurückstellung seiner Bedenken auf den Boden dieser Vorschläge zu treten1. Die Hauptbedenken des Reichskabinetts beständen darin, daß ein großer Teil der gestrichenen Ausgaben bald wiederkommen werde, daß es sich also nicht um echte Streichungen handele, sondern um die Verschiebung von Ausgaben, durch die der nächste Reichshaushaltsplan stark vorbelastet werde. Insbesondere sei das Reichskabinett der Meinung, daß ein wesentlicher Teil der Streichungen beim Verkehrsetat illusorisch sei, daß durch die Streichungen Gegenposten in Form von Abstandszahlungen für annullierte Bauaufträge und dergleichen entstehen würden. Das Kabinett sei bei seinem Beschluß ferner von der Voraussetzung ausgegangen, daß die vorliegenden Streichungsvorschläge das äußerste seien, was von der Reichsregierung verlangt werde, daß die Parteien unter keinen Umständen weitere Streichungsanträge stellen würden. Ferner müßten gewisse Verschiebungen im Rahmen des Streichungsprogramms mit Zustimmung des sofort zu bildenden Interfraktionellen Ausschusses der Regierungsparteien zulässig sein. Es sei nunmehr Sache der Fraktionsführer, ihre Fraktionen auf die Vorschläge zu verpflichten. Sofern noch strittige Punkte bestünden, sei jetzt Gelegenheit, sich darüber auszusprechen. Soweit er die Dinge übersehe, sei vor allen Dingen die Behandlung der zweiten Rate für den Panzerkreuzer ein derart strittiger Punkt.

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Siehe Dok. Nr. 165, P. 1.

Der Reichsminister der Finanzen ergänzte die Ausführungen des Reichskanzlers über den Etat. Er führte aus, daß der von den Parteien vorgelegte Reichshaushaltsplan von der stillschweigenden Voraussetzung ausgehe, daß die zur Zeit in Paris schwebenden Reparationsverhandlungen Erleichterungen für Deutschland bringen würden. Die Regierungsvorlage zum Reichshaushaltsplan habe einen Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben auch für den Fall vorgesehen, daß die Pariser Verhandlungen ergebnislos verliefen.

Der Reichskanzler erklärte sodann, die Reichsregierung nehme an, daß die von den Fraktionssachverständigen gemachten Vorschläge von den Parteien beim Haushaltsausschuß in Form bestimmter Anträge eingebracht würden, daß die Reichsregierung alsdann die Vertretung dieser Anträge übernehmen werde. Er schlug vor, nunmehr in eine Erörterung des strittigen Punktes, zweite Rate des Panzerkreuzers, einzutreten. Soweit er informiert sei, wolle die Sozialdemokratie bezüglich dieser Rate ihren bisherigen ablehnenden Standpunkt aufrechterhalten.

Der Abgeordnete Dr. Breitscheid führte aus, daß nicht anzunehmen sei, daß seine Fraktion ihren ablehnenden Standpunkt aufgeben werde. Die Fraktion werde sich zwar erst am folgenden Tage offiziell mit der Angelegenheit befassen, es sei aber sehr wahrscheinlich, daß sie bei ihrer bisherigen ablehnenden Haltung beharren werde. Das einzige, was er versprechen könne, sei, daß die Fraktion auf jede Agitation in der Sache verzichten werde, daß sie keine[533] große Rede zur Begründung ihres Standpunktes halten, daß sie keinen eigenen Streichungsantrag stellen, kurzum, alles vermeiden werde, was die Angelegenheit aufbauschen könne. Er bat, daß die übrigen Fraktionen verstehen möchten, daß seine Fraktion nicht anders handeln könne. Die ablehnende Haltung werde nur die Reichstagsfraktion binden, nicht auch die Reichsminister der Partei.

Der Reichskanzler bemerkte hierzu, daß er sich schon früher mit aller Entschiedenheit und Deutlichkeit auf den Standpunkt gestellt habe, daß er nicht nochmals mit seiner Fraktion gegen die Regierungsvorlage stimmen könne2.

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Diese Haltung vertrat Müller auch auf dem Parteitag der SPD in Magdeburg in seiner Rede am 28.5.29. (Protokoll des Parteitags der SPD 1928, S. 82 ff.)

Der Abgeordnete Dr. Stegerwald erklärte, daß er seiner Fraktion über die Mitteilungen des Abgeordneten Breitscheid Bericht erstatten werde. Er verhehle nicht die Schwierigkeiten, die sich nach seiner Auffassung aus der angekündigten Haltung der Sozialdemokratischen Fraktion ergeben würden. Über die Angelegenheit werde sich mit seiner Fraktion um so schwerer reden lassen, als die jetzt zur Debatte stehende zweite Rate nicht die letzte sei, daß der zweiten Rate vielmehr noch eine ganze Reihe weiterer Raten nachfolgen werde, und es sei kaum erträglich, daß in Zukunft bei der Abstimmung über jede weitere Rate der alte Streit wieder auflebe. Man könne in der Sache nur weiter kommen, wenn man sich auf den Standpunkt stelle, daß mit der Bewilligung der ersten Rate die Angelegenheit grundsätzlich erledigt sei.

Der Abgeordnete Dr. Scholz bedauerte, daß durch die Haltung der Sozialdemokratischen Fraktion Schwierigkeiten entstünden. Er wolle seiner Fraktion empfehlen, dem Streichungs- und Deckungsprogramm der Haushaltssachverständigen im Wege des Kompromisses als Ganzes zuzustimmen. Die Annahme dieses Vorschlags durch seine Fraktion sei aber sehr in Frage gestellt, wenn die Sozialdemokratische Fraktion darauf bestehe, an ihrer Taktik festzuhalten. Wenn den Sozialdemokraten die Streichungen im Wehretat nicht weit genug gingen, so lägen die Verhältnisse bei seiner Fraktion genau umgekehrt. Für seine Fraktion gingen die Streichungen gerade im Wehretat unerträglich weit. Man könne zu einer Einigung nur dann kommen, wenn alle Fraktionen Opfer brächten. Zur Gewährleistung einer sicheren Arbeit in der zukünftigen Koalition seien Opfer von allen Seiten nötig. Im übrigen könne er auch nicht gut einsehen, warum die Sozialdemokratische Fraktion in der Frage des Panzerkreuzers noch Schwierigkeiten mache. Der Bau des Panzerkreuzers sei grundsätzlich entschieden; gerade vom demokratischen Standpunkt aus müsse man sich doch einer derartigen Entscheidung der Mehrheit des Reichstags fügen. Wenn alle Fraktionen in ähnlicher Weise wie die Sozialdemokratische Fraktion Ausnahmen bei dem großen Kompromiß beanspruchten, sei ein Zustandekommen der Einigung nicht möglich. Er sehe es kommen, daß in seiner Fraktion entsprechend dem Verhalten der Sozialdemokratischen Fraktion Vorbehalte für andere Positionen des Marine-Etats gemacht werden würden.

Der Abgeordnete Wels verteidigte den Sonderwunsch seiner Fraktion durch den Hinweis auf ihren Kampf gegen die Kommunisten. Es sei schon ein außerordentliches[534] Opfer, daß die Fraktion ihren Ministern gestatte, sich von der Fraktion zu trennen. Dieses Opfer könne nicht weiter gesteigert werden. Er meinte, daß die anderen Fraktionen anerkennen müßten, daß die Sozialdemokratische Fraktion in Konsequenz ihres in der Sache gegenüber den Kommunisten geführten Abwehrkampfes nicht anders handeln könnte, wie der Abgeordnete Breitscheid dies dargelegt habe.

Der Abgeordnete Dr. Haas erklärte, daß auch bei der Demokratischen Fraktion infolge des ablehnenden Verhaltens der Sozialdemokraten Schwierigkeiten entstehen würden, zumal da bekannt sei, daß die Demokratische Fraktion sich früher grundsätzlich gegen den Bau des Panzerkreuzers ausgesprochen habe3. Für die Mitglieder der Demokratischen Fraktion sei es unerträglich, daß sie jetzt für die zweite Rate stimmen sollten, obschon den Sozialdemokraten eine Aufrechterhaltung des ablehnenden Standpunktes zugestanden werden solle.

3

Siehe die Rede des Abg. v. Richthofen in der RT-Debatte am 27.3.28, RT-Bd. 395, S. 13800  ff.

Der Abgeordnete Leicht führte aus, daß man bei Beurteilung der Angelegenheit vor allen Dingen auf die parlamentarische Lage Rücksicht nehmen müsse. Sicher sei, daß die Kommunisten sich schon deshalb gegen die Sozialdemokraten wenden würden, weil diese ihren Ministern eine Sonderstellung einräumten. Ferner müßte die Sozialdemokratische Fraktion den Panzerkreuzer in dem Sinne billigen, daß sie für den Gesamtetat stimme, der die Deckung für die zweite Rate mit enthalte. Im Endeffekt sei die Sache für die Sozialdemokratie mithin die gleiche. Das Schlimmste aber sei, daß die zweite Rate gefährdet sei, wenn die Sozialdemokratie dagegen stimme. Es sei so gut wie sicher, daß die Deutschnationalen die Situation ausnützen würden, um das Kabinett zu desavouieren und zu Fall zu bringen. Die Konsequenzen, die entstehen würden, wenn die Regierung in der Panzerkreuzerfrage in der Minderheit bleibe, seien unabsehbar. Nach Lage der Dinge sei es daher das einzig Richtige, daß die Sozialdemokraten bei der Abstimmung über die zweite Rate des Panzerkreuzers Stimmenthaltung übten. Das ganze Kompromiß sei gefährdet, wenn für eine Fraktion Ausnahmen konzediert würden.

Der Abgeordnete Dr. Stegerwald bemerkte noch, daß er für die Haltung seiner Fraktion nicht garantieren könne, wenn die Sozialdemokraten gegen die zweite Rate stimmten. Denn auch in seiner Fraktion seien starke Strömungen gegen den Panzerkreuzer vorhanden, und er könne den Gegnern des Panzerkreuzers in seiner Fraktion nicht zumuten, ihre gegenteilige Überzeugung zu verleugnen, wenn die Sozialdemokratische Fraktion im Interesse des höheren Ziels der Gesamtkoalition nicht ein gleiches tun wolle. Auch er meinte, daß die Sozialdemokratie sich in der Sache bescheiden könne, nachdem der Reichstag zweimal, das erste Mal in der Zusammensetzung des alten Reichstags, das zweite Mal in der Zusammensetzung des jetzigen Reichstags, sich für den Panzerkreuzer entschieden habe.

Der Abgeordnete Dr. Breitscheid übernahm nochmals die Verteidigung des Standpunktes der Sozialdemokratie. Er erklärte, daß er die vorgetragenen[535] Argumente der übrigen Fraktionsführer seiner Fraktion mitteilen werde. Gleichwohl könne er für seine Fraktion heute ein Nachgeben in der Sache kaum in Aussicht stellen. In der Sozialdemokratischen Fraktion, die die größte sei, lägen die Verhältnisse eben ganz besonders schwierig. Es seien Imponderabilien im Spiel, mit denen man rechnen müsse. Zum Parteitag lägen über 100 Anträge gegen den Panzerkreuzer vor, und es sei sicher, daß die Mehrheit dieser Anträge vom Parteitag angenommen werden würde. Der Parteitag werde in dieser Frage über die Führer einfach hinweggehen. Die Partei komme, wenn sie nachgebe, in der Sache gegenüber der Kommunistischen Fraktion in eine absolut unmögliche Lage. Hinzu komme, daß gerade im jetzigen Augenblick der Wahlkampf in Sachsen zu führen sei4. Es liege in der Struktur der Partei begründet, daß sie in der Panzerkreuzerfrage an der bisherigen Linie festhalten müsse. Die Befürchtung des Abgeordneten Leicht, die dahin ging, daß die zweite Rate und damit der Bau des Panzerkreuzers gefährdet sei, wenn die Sozialdemokraten dagegen stimmten, teile er nicht. Er meinte, bei den ersten Abstimmungen über den Panzerkreuzer sei die Situation weitaus gefährlicher gewesen. Wenn sich bei den ersten Abstimmungen eine Mehrheit für den Panzerkreuzer gefunden habe, werde sie mit noch größerer Sicherheit bei der Abstimmung für die zweite Rate vorhanden sein.

4

Die sächsischen Landtagswahlen fanden am 12. 5. statt.

Der Abgeordnete Dr. Scholz erwiderte, daß bei der Deutschen Volkspartei die Verhältnisse im umgekehrten Sinne genau so schwierig lägen wie bei den Sozialdemokraten. Die Zustimmung der Volkspartei zu den Streichungen beim Wehretat werde seiner Fraktion von der deutschnationalen Opposition ebenso angekreidet, wie die Haltung der Sozialdemokratie von den Kommunisten angegriffen werde. Der Reichstag habe in doppelter Zusammensetzung den Panzerkreuzer grundsätzlich genehmigt. Durch den zur Erörterung stehenden Kompromiß müsse die ganze politische Atmosphäre bereinigt werden. Für die Deutsche Volkspartei sei es unerträglich, wenn bei einem so provokatorisch wirkenden Gegenstand wie dem Panzerkreuzer vor der Öffentlichkeit ein Zwiespalt innerhalb der Regierungsparteien sich offenbare. Die Autorität der Koalition empfange durch einen derartig eklatanten Zwiespalt einen kaum wiedergutzumachenden Stoß.

Der Reichsminister des Auswärtigen wies gegenüber den Ausführungen des Abgeordneten Breitscheid, in denen er sich gegen die Gefährdung der zweiten Rate aussprach, darauf hin, daß bei den Deutschnationalen nach den letzten Abstimmungen über den Panzerkreuzer wesentliche Veränderungen vor sich gegangen seien. Der Abgeordnete Hugenberg sei zum Parteivorsitzenden gewählt worden5. Damit hätten bei der Opposition die radikaleren Anschauungen die Oberhand gewonnen. Es sei sicher, daß die Deutschnationalen die Gelegenheit benutzen würden, um der Regierung Schwierigkeiten zu machen.

5

Hugenbergs Wahl war während der Vertretertagung der DNVP am 20./21.10.28 erfolgt.

Der Reichskanzler bemerkte, daß es im Volke den besten Eindruck gemacht habe, daß man sich über den Etat und seine Deckung so rasch geeinigt[536] habe. Niemand im Volke aber werde es verstehen, wenn dieser große Erfolg jetzt durch den Panzerkreuzer wieder gefährdet werde. Alle Parteien müßten mitwirken, daß das große Ziel der Einigung nun auch endgültig und vollständig erreicht werde. Nach seiner Meinung müsse man wirklich überlegen, ob nicht die Stimmenthaltung der Sozialdemokraten zur Aufrechterhaltung ihres grundsätzlichen Protestes in der Sache genüge. Das oberste Ziel, dem alle Fraktionen zustreben müßten, sei das Zustandebringen einer festen Regierung, ohne die die Pariser Verhandlungen nicht erfolgversprechend weitergeführt werden könnten. Es sei keine Zeit mehr zu langen Verhandlungen. Eine Fortführung der Regierungsgeschäfte in dem Dämmerlicht, das bisher obgewaltet habe, sei weiterhin nicht möglich. Die Regierung müsse auf eine feste Grundlage gestellt werden. Ein Kompromiß unter den Parteien sei daher eine gebieterische Notwendigkeit.

Der Abgeordnete Leicht gab nochmals zu bedenken, daß die Deutschnationalen darauf brennten, die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. Im übrigen müßten die Sozialdemokraten bedenken, daß bisher die Koalition noch nicht zustande gekommen sei, und daß es daher keiner Partei verdacht werden könne, wenn sie auch für sich Ausnahmen in Anspruch nehmen wolle, sofern einer anderen Fraktion die Möglichkeit hierzu zugestanden werde.

Auch der Abgeordnete Dr. Cremer hob hervor, daß die Deutschnationalen die Schwierigkeiten der Koalitionsparteien in der Panzerkreuzerfrage als Sprengpulver gegen die Regierung benutzen würden. Ein offener Zwiespalt der Koalitionsparteien in dieser die öffentliche Meinung so wesentlich interessierenden Frage werde der Autorität der Regierung unerträglichen Abbruch tun.

Der Abgeordnete Dr. Stegerwald bemerkte, daß auch er eine Stimmenthaltung der Sozialdemokraten für die konsequentere Haltung halte, nachdem der Reichstag in zwei Abstimmungen den Bau des Panzerkreuzers genehmigt habe.

In der weiteren Aussprache wurden neue Gesichtspunkte zur Sache nicht mehr vorgebracht.

Der Reichskanzler erklärte abschließend nochmals, daß die Fraktionen unbedingt zu einem Kompromiß kommen müßten, und daß zu diesem Zweck die Besprechung fortgesetzt werden müsse, nachdem sich die Fraktionen am folgenden Tage mit der Sache befaßt haben würden.

Mit allseitigem Einverständnis wurde daraufhin in Aussicht genommen, am folgenden Tage nachmittags 6 Uhr im gleichen Kreise wieder zusammenzukommen6.

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Siehe Dok. Nr. 167.

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