2.167.1 (mu21p): [Haushalt 1929 und Koalitionsbildung.]

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[Haushalt 1929 und Koalitionsbildung.]

Der Reichskanzler eröffnete die Besprechung mit dem Hinweis darauf, daß man sich am Vortage mit dem Wunsch getrennt habe, wieder zusammenzukommen, nachdem die Fraktionen getagt hätten.

Abgeordneter Breitscheid erklärte, daß seine Fraktion sich mit dem Kompromiß über Etat und Steuern einverstanden erklärt habe, daß sie aber auf dem Standpunkt beharre, die 2. Baurate für den Panzerkreuzer ablehnen zu müssen. Diese Entscheidung der Fraktion sei mit großer Mehrheit getroffen worden1. Die Gründe für die Entscheidung brauche er nicht nochmals auseinanderzusetzen. Es seien dieselben, die er bereits in der Besprechung des Vortages zum Ausdruck gebracht habe. Die Fraktion bleibe bei ihren Zugeständnissen, daß sie ihren Ministern eine Trennung von der Fraktion bei der Abstimmung zugestehe, daß kein selbständiger Streichungsantrag zur zweiten Baurate gestellt werde, und daß sie keine Agitation in der Angelegenheit betreiben wolle. Über diese Zugeständnisse hinaus könne die Fraktion nicht gehen. Er wolle auch nicht verschweigen, daß der Beschluß der Fraktion sehr wesentlich durch einen Brief des Abgeordneten Kaas beeinflußt worden sei, den der Abgeordnete Kaas am heutigen Tage an den Reichskanzler gerichtet habe, und der vom Reichskanzler an die Fraktion weitergeleitet worden sei2.[538] Der Brief sei von der Fraktion als ein Ultimatum des Zentrumsführers aufgefaßt worden. Es habe bei der Fraktion der Eindruck bestanden, als wolle das Zentrum auf die Fraktion einen Druck ausüben. Ein derartiges Vorgehen habe man als unerträglich empfunden. Er persönlich glaube nicht, daß der Abgeordnete Kaas eine derartige Absicht mit dem Brief verfolgt habe, es stehe aber fest, daß der Brief eine Wirkung gehabt habe. Er müsse ferner auch zugeben, daß der Brief für die Haltung der Fraktion nicht ausschlaggebend gewesen sei.

1

Die Entscheidung der SPD-Fraktion war mit 93 gegen 23 Stimmen bei zwei Stimmenthaltungen gefallen (Schultheß 1929, S. 61).

2

Kaas hatte dem RK mitgeteilt, er entnehme dem „Vorwärts“, daß die SPD über die Haltung des Zentrums nicht richtig unterrichtet sei. Ihr Ziel sei, bei der außergewöhnlich gespannten innen- und außenpolitischen Lage Deutschlands eine stabile Regierung zu bilden. „Diese Voraussetzung vermöchten meine Parteifreunde naturgemäß als gegeben zu betrachten, wenn die sozialdemokratische RT-Fraktion bei der Abstimmung über die weitere Panzerkreuzerrate eine parlamentarische Haltung einnimmt, die mit unserer Auffassung einer koalitionsmäßig gebundenen Regierung und unserer pflichtmäßigen Sorge um das parlamentarische System vereinbar ist. Meine Partei glaubt der Erwartung Ausdruck geben zu dürfen, daß Sie, Herr RK, und Ihre sozialdemokratischen Ministerkollegen für die Vorlage stimmen. Als letzte, unveräußerliche, sachlich verantwortbare Konzessionslinie betrachtet meine Partei, daß diejenigen sozialdemokratischen Fraktionsmitglieder, welche nicht glauben, zustimmen zu können, sich der Stimme enthalten oder der Abstimmung fernbleiben. – Ich bitte Sie, Herr RK, von dieser meiner Mitteilung gültigst Kenntnis zu nehmen. Sie ist lediglich in der Absicht erfolgt, rechtzeitig dafür Sorge zu tragen, daß die sozialdemokratische RT-Fraktion nicht in Verkennung der Haltung meiner Partei eine Entscheidung trifft, die zu schweren Verwicklungen führen muß“ (Auszugsweise abgedruckt in der „Germania“ vom 10.4.29).

Abgeordneter Kaas erwiderte, daß der Brief nur den Zweck verfolgt habe, aufklärend zu wirken. Der Brief sei veranlaßt worden durch eine Notiz in der Morgenausgabe des Vorwärts, aus der er den Eindruck gewonnen habe, als bestehe bei der Sozialdemokratie die Meinung, daß das Zentrum sich ohne weiteres damit abfinden werde, wenn die Sozialdemokratie bezüglich der Etat-Position der 2. Rate des Panzerkreuzers bei ihrer bisherigen ablehnenden Haltung verharre. Da diese Meinung irrig gewesen sei, habe er sich für verpflichtet gehalten, den Reichskanzler so früh wie möglich über die wahre Stimmung des Zentrums zu unterrichten. Er habe nicht beabsichtigt, daß der Reichskanzler den Brief seiner Fraktion vorlege, habe es vielmehr dem Reichskanzler überlassen wollen, in welcher Weise er von der Information Gebrauch mache. Natürlich habe er nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß der Reichskanzler den Brief an die Fraktion weitergegeben habe. Auch aus der Form seines Briefes habe die Sozialdemokratische Fraktion nicht den Eindruck gewinnen können, als beabsichtige das Zentrum die Ausübung eines Druckes auf die Sozialdemokraten. Die starke Majorität – 93 Stimmen gegen 29 – mit der der Beschluß der Sozialdemokratischen Fraktion zustandegekommen sei, beweise im übrigen wohl zur Genüge, daß der Brief nicht ausschlaggebend gewesen sein könne.

Abgeordneter Scholz erklärte, daß er selbstverständlich darauf verzichte, an der Beschlußfassung der Sozialdemokratie Kritik zu üben. Jede Fraktion müsse selbst wissen, was sie tue. Auch den Brief des Zentrumsführers Kaas wolle er nicht kritisieren. Im Zusammenhang mit der Aussprache darüber falle ihm nur das Goethewort ein „Geschriebene Briefe sind unsere größten Feinde“. Seine Fraktion habe die Beratungen zur Sache noch nicht zu Ende führen können, zumal da die endgültige Stellungnahme der Fraktion naturgemäß sehr wesentlich von der erst spät bekannt gewordenen Entscheidung der Sozialdemokratischen Fraktion abhängig sei. Die Fraktion werde ihre Beratungen fortsetzen, nachdem die Entscheidung der Sozialdemokratie nunmehr gefallen sei.

Abgeordneter Leicht erklärte, daß in seiner Fraktion die Auffassung allgemein gewesen sei, daß der bereits in der Besprechung des Vortages angedeutete Weg der Stimmenthaltung der Sozialdemokraten bei der Etats-Position der 2. Baurate der beste sei.

Der Abgeordnete Haas nahm Bezug auf seine Ausführungen in der gestrigen Besprechung und erklärte, daß sie von der Fraktion gebilligt worden seien. Vom Standpunkte der Demokraten aus sei es eine unerträgliche parlamentarische Situation, daß eine in der Regierung vertretene Fraktion in einer wesentlichen Angelegenheit gegen die Regierung stimme. Die Zukunft erfülle ihn daher mit größter Sorge. Nach seiner Meinung müsse die Regierung nunmehr[539] sofort zu einer Entscheidung kommen. Er halte es für das Reichtigste, daß der Reichskanzler trotz allem nunmehr die Erweiterung des Kabinetts vornehme und versuche, den Etat auf der Basis der Vorschläge der Parteien zur Annahme zu bringen.

Der Reichskanzler erklärte, daß er keine Möglichkeit sehe, wie der Etat angenommen werden solle. Die Fraktionen würden sich ja wohl noch am gleichen Abend nochmals mit der durch den Entschluß der Sozialdemokratie geschaffenen Lage befassen. Spätestens am morgigen Tage müsse die Situation geklärt werden. Die für den 10. April anberaumte 1. Sitzung des Haushaltausschusses zur Beratung des Etats 1929 müsse abgesagt werden, da die Regierung ja nicht wissen könne, welchen Etat sie vertreten solle – die Regierungsvorlage oder den Vorschlag der Parteien. Nach seiner Meinung sei es unmöglich, die Dinge nunmehr einfach treiben zu lassen. Die Situation werde noch schwieriger werden, wenn in den nächsten Wochen durch die Haltung der Deutschnationalen die 2. Baurate für den Panzerkreuzer von der Mehrheit des Reichstags abgelehnt und dadurch eine Regierungskrise hervorgerufen werde. Eine derartige Krise sei hoffnungslos, weil sie unnatürlich sei.

In der nachfolgenden Aussprache wurde allgemein die Ansicht geteilt, daß der Haushaltsausschuß mit seinen Beratungen über den Etat noch nicht beginnen könne und daß die für den 10. anberaumte Sitzung daher vertagt werden müsse3. Man war ferner allgemein der Meinung, daß nunmehr zunächst dem Kabinett Gelegenheit gegeben werden müsse, möglichst bald zu einem Entschluß zu kommen. Die Hauptsorge sei die, sobald wie möglich zu einer festen Regierung zu kommen. Jeder Tag ohne ordnungsmäßigen Etat sei verhängnisvoll. Ebenso sei es ein absolut unmöglicher und nicht zu verantwortender Zustand, daß die Pariser Reparationsverhandlungen in ihr kritisches Stadium getreten seien, während in Berlin eine feste Regierung fehle. Von4 den Vertretern der bürgerlichen Parteien wurde sodann noch erwogen, ob man nicht versuchen solle, zu gemeinsamen Entschlüssen zu kommen, bevor man in die Fraktionssitzungen zurückkehre. Die gemeinsame Besprechung wurde daher unterbrochen. Zwischen den Vertretern des Zentrums, der Deutschen Volkspartei,[540] der Demokraten und der Bayerischen Volkspartei wurde die Beratung in internem Kreise fortgesetzt5.

3

Dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, Heimann, teilte der StSRkei noch am gleichen Tag mit: „Namens des Herrn RK und des Herrn RFM beehre ich mich mitzuteilen, daß die RReg. angesichts der gegenwärtigen politischen Lage und auf Grund der soeben beim Herrn RK stattgehabten Fraktionsführerbesprechung hiermit den Wunsch aussprechen muß, die für morgen vormittag angesetzte Beratung des Reichshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1929 abzusagen“ (BA: Nachlaß Pünder  36). Die Sitzung des Haushaltsausschusses fand dann am 15. 4. statt.

4

Der Schluß der Niederschrift lautete zunächst: „Von den Vertretern der bürgerlichen Parteien wurde sodann erwogen, ob man nicht versuchen wolle, zu gemeinsamen Beschlüssen zu kommen, bevor man in die Fraktionssitzungen zurückkehre, um dort über die durch den Beschluß der Sozialdemokraten geschaffene Lage weiter zu beraten. Die gemeinsame Besprechung wurde daher unterbrochen und im internen Kreise zwischen den Vertretern des Zentrums, der Deutschen Volkspartei, der Demokraten und der Bayerischen Volkspartei einerseits sowie den Vertretern der Sozialdemokratie andererseits getrennt fortgesetzt.“ Darunter war mit Bleistift geschrieben worden: „(wurde die Beratung im internen Kreise fortgesetzt?)“.

5

Darüber berichtete Scholz abends der DVP-Fraktion, die bürgerlichen Parteien hätten „unter dem Vorsitz von Stresemann weitergetagt. Scholz hat vorgeschlagen, das Kabinett möge jedenfalls im Amt bleiben und versuchen, mit den Parteien […] mit dem alten Ziel zu verhandeln“. Ein Antrag aus der Fraktion auf Aussprache über den evtl. Rücktritt des Kabinetts wurde abgelehnt (9.4.29, 20.50 Uhr; R 45 II /67 , Bl. 139).

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