2.192.1 (mu21p): [Reparationsfrage.]

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Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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[Reparationsfrage.]

Eingangs der Sitzung nahmen die Mitglieder des Reichskabinetts eingehende Darlegungen der zuständigen Ministerialdirektoren Dr. Dorn und Dr. Schäffer über die rechtliche und wirtschaftliche Seite des Transferproblems entgegen. Die Darlegungen zeigten den Kabinettsmitgliedern, daß ein sicheres Funktionieren der Transferbestimmungen im deutschen Interesse in keiner Weise gewährleistet sei1. Ministerialdirektor Dr. Schäffer beendet seine Ausführungen mit der Feststellung, daß nach seiner Auffassung das Transferexperiment unbedingt scheitern müsse, weil seine Nachteile für die deutsche Wirtschaft zu groß seien, als daß die Wirtschaft bereit wäre, diese Nachteile auf sich zu nehmen. Seine Folgen wären Zusammenbrüche zahlreicher Unternehmungen, die hierzu nicht würdig wären. Die Ausführungen der beiden Ministerialdirektoren ergänzte darauf Reichsminister Dr. Hilferding und begann mit der Feststellung, daß das, was in der deutschen Öffentlichkeit als Transferschutz geschätzt werde, tatsächlich überhaupt nicht existiere. Er schilderte dann die Lage der Reichsfinanzen im Zusammenhang mit der allgemeinen politischen Lage und setzte die großen Differenzen zwischen dem geltenden Dawes-Plan und den vorgeschlagenen Youngschen Ziffern auseinander. In einer solchen Situation auf 800 Millionen jährlich zu verzichten, sei nicht denkbar. Ein Abschluß in Paris eröffne aber außerdem ganz neue Möglichkeiten für Kredite und Anleihen. Die Reichsregierung wäre dann auch in der Lage, einen Finanzreformplan aufzustellen, mit dem der Reichsfinanzminister stehen und fallen müsse. Durch etwaige Steuerermäßigungen könne ein Rückfluß der ganz legal abgeströmten Kapitalien erreicht werden. Ohne irgendwie einem Sachverständigen nahetreten zu wollen, müsse er doch erklären, daß er es für eine verantwortungsvolle Politik geradezu als eine Pflichtverletzung ansehe, in diesen letzten entscheidenden Dingen eines Volkes sich nur auf den Sachverständigen zu verlassen. Entweder lasse sich die Dawes-Krise durchführen oder lasse sich nicht durchführen. Letzteres stehe für ihn fest. Er wolle nur darauf hinweisen, daß z. B. ein Jahr schlechter Konjunktur für Deutschland einen Ausfall von rund 10 Milliarden an geringerer Produktion ausmache. Andere Schätzungen gingen auf etwa 7½ Milliarden. Errechnet auf der Basis von zusätzlichen 1½ Millionen Erwerbslosen. Deutschland verlöre also in einem solchen[625] Jahr vier Dawes-Annuitäten oder sechs Young-Jahre. Präsident Schacht habe gestern mit einer gewissen Richtigkeit von der dann notwendigerweise eintretenden größeren Arbeitslosigkeit, geringeren Löhnen und anderen wirtschaftlichen und sozialen Folgeerscheinungen gesprochen; aber wie dies alles in Wirklichkeit aussehen werde – einschließlich aller politischen Folgen – habe er nicht angesagt. Was z. B. die völlige Kreditabsperrung bedeute, sähen wir augenblicklich an Rußland. Ob denn wirklich irgend jemand glaube, daß wir die Verringerung unserer großen Ausfuhr auf einen Bruchteil der gegenwärtigen Zahlen auch nur ein Jahr aushalten könnten2? Die politischen und sozialen Folgen einer solchen Krisis wären überhaupt nicht auszudenken. Nach seiner Meinung wäre eine künstliche Dawes-Krise mit der Absperrung vom Ausland usw. ein uferloses Abenteuer, das keine verantwortungsvolle Regierung übernehmen könne, schließlich wisse doch auch niemand, daß 1650 Millionen noch zu zahlen wären, 200 Millionen mehr aber nicht. Wollte Deutschland im Falle der Dawes-Krise von den Transferschutzbestimmungen Gebrauch machen, käme es zweifellos in einen politischen Konflikt mit dem Transferkomitee. Neben der Ermäßigung der Zahlen müsse doch auch die Freistellung der Pfänder und Kontrollen beabsichtigt werden. Die Freistellung der Reichsbank bringe schon einen erhöhten Reichsbankgewinn von 45 Millionen für das Reich. Die Reichsbahn hätte wieder neue Anleihemöglichkeiten und könne dadurch ihre Einnahmen voraussichtlich um 150 Millionen verbessern. Schon allein aus diesen zwei Beispielen ersehe man, daß die Befreiung der Pfänder auch materiell viel bedeute. Aber von allem Materiellen abgesehen, wäre die gesamte deutsche Politik bei Ablehnung des Youngschen Planes absolut festgefahren. Wenn wir heute ablehnten, würden wir voraussichtlich erst nach langer Zeit und wahrscheinlich nach überaus großen Opfern erst wieder zu einem Ausgangspunkt kommen, der schlechter sei als der heutige. Aus allen diesen Gründen sei eine positive Einstellung des Reichskabinetts für ihn ganz klar, völlige Einhelligkeit des Kabinetts sei aber nötig.

1

Zur Bedeutung des Transfers in der Reparationsfrage s. H. Schacht, Das Ende der Reparationen, S. 34 ff.

2

Der deutsche Export hatte 1927 einen Wert von 14,23 Mrd. RM, 1928 von 14 Mrd. RM und 1929 von 13,45 Mrd. RM (Horkenbach I, Tabelle XXII).

Reichsminister Dr. Stresemann tritt vorstehenden Äußerungen im wesentlichen bei und ergänzt sie noch dahin, daß die Russen mit der etwaigen deutschen Ablehnung zweifellos auf eine neue Aktion für die Weltrevolution spekulierten. Es sei nicht unwahrscheinlich, daß der gestrige 1. Mai und sein blutiger Ablauf in Berlin bereits ein Vorläufer dieser Gedankengänge gewesen sei3.

3

Zu den Berliner Unruhen am 1.5.29 siehe Dok. Nr. 197, P. 1.

Reichsminister von Guérard erklärte, daß er unter dem Eindruck der heutigen Darlegungen nunmehr die Zahlen des Young-Vorschlages akzeptiere. Die Bedeutung des Transferschutzes werde eben offensichtlich weithin auch von ihm selber bisher falsch beurteilt. Auch bezüglich dieses Punktes müsse deshalb eine Propaganda in der Öffentlichkeit einsetzen. Nach der materiellen Seite erscheine ihm die Einarbeitung einer neuen Prüfungsmöglichkeit in den Entwurf dringend erwünscht.

[626] Reichsminister Dr. Curtius erläuterte auf mehrfache Rückfragen das gegenwärtige Bankschema und namentlich die Möglichkeit der Aufnahme von Depositen und äußerte sich sodann über die Formulierungen hinsichtlich der Revisionsmöglichkeit. Er stellt dann an Hand von eigens hergestellten Tabellen die verschiedenen Zahlenreihen gegenüber und erinnert dann an die Zeit des Friedens von Tilsit, wo Stein und Hardenberg genau so gehandelt hätten, wie heute die Reichsregierung handeln müsse. In mühevollen und geradezu schmählichen Verhandlungen hätten es die damaligen deutschen Staatsmänner versucht und langsam auch erreicht, die damaligen Kriegskontributionen immer wieder herabzusetzen4. Schließlich sei ein Rest politischer Schuld übrig geblieben, der 1811 getilgt worden ist. Schon heute könne man sagen, daß der Rest von politischer Schuld, der endgültig auf Deutschland hängen bleibe, die 750–1000 Millionen ungeschützter Annuität sei. Verfolge man die ganze Entwicklung des Reparationsplanes seit Kriegsende, so sei nach seiner Meinung es nicht zu verantworten, die Pariser Konferenz jetzt noch zum Scheitern zu bringen.

4

Im Frieden von Tilsit (9.7.1807) war Preußen gezwungen worden, 2906 Quadratmeilen mit 5 184 000 Einwohnern abzutreten. Der Reststaat bestand noch aus 2168 Quadratmeilen mit 5,2 Millionen Einwohnern. Durch die Konvention von Königsberg (12.7.1807) wurde Preußen außerdem eine Kontribution von 513 744 000 Franken auferlegt. Diese Zahlung wurde am 8.9.1808 auf 140 Millionen gesenkt, und während des Erfurter Kongresses erließ Napoleon weitere 20 Millionen. Bis zur Erfüllung der Kontribution sollten französische Truppen in Preußen stationiert und vom preußischen Staat verpflegt und besoldet werden. Da Steins Versuche, eine weitere Modifizierung zu erreichen, fehlschlugen, intensivierte er seine Politik gegen Napoleon, die zu seinem Sturz führte. Sein Nachfolger wurde Hardenberg. Vgl. zu den Fakten F. W. Ghillay, Europ. Chronik I, 1865, S. 459 ff.; Freiherr vom Stein … Bd. 2, hg. E. Botzenhardt, 1936, S. 250 ff., 515 ff., 542 ff.

Es wird dann die Frage erörtert, ob vor einer etwaigen Entschlußfassung des Reichskabinetts noch der von Präsident Schacht in Aussicht gestellte Kurierbericht abgewartet werden solle, wovon man dann aber absah.

Reichsminister Dr. Stegerwald schließt sich nach näheren wirtschaftlichen Ausführungen dem Vorschlage, die Youngschen Zahlen anzunehmen, an, hält aber doch noch eine stärkere Revisionsmöglichkeit und stärkeren Transferschutz für notwendig.

Reichsminister Dr. Wirth weist darauf hin, wie notwendig das heutige laute Durchdenken des Transferschutzes nach der rechtlichen und wirtschaftlichen Seite hin gewesen sei. Die Ausführungen des Präsidenten Schacht hätten doch nicht für sich allein genügen dürfen, die Grundlage für die Kabinettsentschließung zu bilden. In diesem Zusammenhang weist er auf die auffallende Tatsache hin, daß gestern binnen zwei Stunden Präsident Schacht eine völlig veränderte Haltung eingenommen habe.

Reichsminister Dietrich knüpfte hieran an und bemerkte, was ihm die Lage so erschwere, sei die Undurchsichtigkeit der Haltung des Präsidenten Schacht. An eine katastrophale Entwicklung der deutschen Wirtschaft glaube er nicht, dafür sei sie viel zu kompliziert und international verflochten. Sie wäre sonst auch schon in früheren Jahren zusammengebrochen. Er glaube auch nicht an die furchtbare Entwicklung des Dawes-Plans. Aber alles dies sei für ihn nicht entscheidend. Sehr wichtig sei für ihn die Frage, ob wirklich eine völlige Freistellung[627] von Pfändern und Kontrollen erfolge. Man müsse bedenken, daß wir von dieser Unterschrift nie mehr herunterkämen. Da sie eine wirtschaftliche Unterschrift sei, müßten wir dieses Versprechen immer erfüllen.

Möglichkeiten einer Revision sehe er einstweilen noch nicht, er könne sich daher heute noch nicht entschließen, Ja und Amen zu sagen.

Reichsminister Dr. Stresemann weist darauf hin, daß die Absendung eines Telegramms nach Paris jetzt zeitlich absolut notwendig sei. Dieses Telegramm brauche natürlich noch nicht die restlose Billigung des Youngschen Planes zu enthalten, wohl aber Mitteilungen über die Stimmungen des Kabinetts, damit nicht auf Grund der gestrigen Abendbesprechung Präsident Schacht seine Kollegen in Paris bestimme, den Young-Plan abzulehnen.

Im gleichen Sinne äußern sich die Reichsminister Dr. Hilferding und Dr. Curtius. Nachdem sich die Reichsminister Dr. Schätzel und Dr. Groener gleichfalls für die Zustimmung zu den Young-Zahlen ausgesprochen hatten, wurde einstimmig folgendes Telegramm nach Paris beschlossen:

„Nur für Botschafter.

Bitte folgendes an alle vier Sachverständigen weiterzugeben:

Einhellige Auffassung des Gesamtkabinetts bewegt sich in Richtung der zu gestern nachmittag vom Reichskanzler einberufenen Besprechung mit den Reichsministern Hilferding, Stresemann, Curtius und Wirth.“

Die Ministerbesprechung währte bis 3 Uhr nachmittags. Da während der Sitzung Herr Reichskanzler Müller von einem leichten Unwohlsein befallen worden war, wurde die Sitzung weiterhin von Reichsminister Dr. Stresemann geleitet. Über den Ausgang der Besprechung wurde der Herr Reichskanzler durch Staatssekretär Dr. Pünder unterrichtet, wobei er sich völlig einverstanden erklärte.

In Erwiderung auf das vorstehend wiedergegebene Telegramm an Präsident Schacht lief am 3. Mai mittags nachfolgendes Telegramm aus Paris ein5:

5

Als Telegramm Nr. 336 vom 3.5.29 in R 43 I /287 , Bl. 12.

Schacht bittet mich, auch im Namen seiner Mitarbeiter folgendes Telegramm zu übermitteln:

Für Herrn Reichsminister:

Erbitte mit heutigem Kurier schriftliche Erläuterungen des uns gestern durch Außenminister via Botschafter übermittelten Telegramms über gestrige Entschließung Ministerbesprechung, da Wortlaut Telegramm sehr unbestimmt.

Schluß des Telegramms.

Hoesch.“

Dieses Telegramm machte eine weitere Ministerbesprechung am 3. Mai erforderlich, zumal auf Grund der Erklärung des Präsidenten Schacht kurz vor seiner Wiederabreise nach Paris bis dahin auch der Kurierbericht von ihm zu erwarten war6.

6

Siehe Dok. Nr. 191.

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