1.10.1 (mu22p): 1. Arbeitslosenversicherung.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 7). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

1. Arbeitslosenversicherung.

Der Reichsminister des Innern erstattete zunächst Bericht über seine und des Reichsarbeitsministers Besprechungen mit den im Haag weilenden Reichsministern am Montag, den 12. August1. Er führte aus, daß mehrere Besprechungen stattgefunden hätten. Ein materielles Ergebnis sei nicht erzielt worden. Der Reichsarbeitsminister habe bei diesen Besprechungen seine Bedenken gegen die Vorschläge der Sachverständigenkommission vorgetragen. Er könne wohl objektiv berichten, daß diese Bedenken auf die im Haag weilenden Reichsminister nicht ohne Eindruck geblieben seien. Vor allem habe der Reichsarbeitsminister betont, daß es ihm nicht möglich sei, den Sachverständigen in der Schematisierung der Abzüge zu folgen.

1

Vgl. hierzu auch Severing, Mein Lebensweg II, S. 214. Danach hatte auch der sozialdemokratische Finanz- und Sozialsachverständige Hertz an den Besprechungen im Haag teilgenommen.

Er, der Reichsminister des Innern, habe die Auffassung vertreten, es sei vor allem aus innenpolitischen Gründen besser, die Reform der Arbeitslosenversicherung noch etwas zu vertagen, andernfalls werde die Opposition die politische Situation gegen die Reichsregierung ausnutzen.

Sämtliche 6 Reichsminister hätten im Haag übereinstimmend die Auffassung vertreten, daß jetzt eine Krisis vermieden werden müsse. Der Wunsch der der Delegation angehörenden Reichsminister gehe jedoch dahin, daß die Reichsregierung baldigst eine Vorlage den gesetzgebenden Körperschaften zuleiten, und daß der Sozialpolitische Ausschuß sich um eine Woche vertagen müsse.

Der Reichsarbeitsminister berichtete ergänzend, daß die im Haag anwesenden Reichsminister nach einem Weg gesucht hätten, um ihm, dem Reichsarbeitsminister, eine Überstimmung im Reichskabinett möglich zu machen. Die der Delegation angehörenden Reichsminister hätten vorgeschlagen, er, der Reichsarbeitsminister solle sich im Reichskabinett überstimmen lassen und darauf auch in der Öffentlichkeit hinweisen. Er, der Reichsarbeitsminister, habe jedoch erwidert, daß dieser Weg nicht gangbar sei. Schließlich sei eine Rücksprache[860] mit den Parteiführern von den sechs Reichsministern im Haag als erwünscht bezeichnet worden.

Der Reichsminister des Auswärtigen habe betont, es sei sehr unerfreulich, wenn die Position der Deutschen Delegation im Haag dadurch erschüttert werde, daß man sagen könne, die Reichsregierung habe keine Mehrheit hinter sich.

Der Reichswehrminister führte aus, er habe auch schon vorher den Eindruck gehabt, der Wunsch der der Delegation angehörenden Reichsminister im Haag gehe dahin, daß ein materieller Kabinettsbeschluß gefaßt werde und daß dieser den Beratungen des Sozialpolitischen Ausschusses zugrunde liege.

Der Reichswehrminister verlas daraufhin das über die Besprechungen im Haag am Montag, dem 12. August, von dem Staatssekretär in der Reichskanzlei herausgegebene Communiqué2.

2

Das Communiqué entspricht inhaltlich der telefonischen Mitteilung Pünders an die Rkei vom 12. 8., siehe Anm. 2 zu Dok. Nr. 264.

Der Reichsarbeitsminister erwiderte, daß nach seiner Auffassung die im Haag weilenden Reichsminister den soeben von dem Reichswehrminister angeführten Standpunkt nicht so eindeutig vertreten hätten.

Der Reichsminister des Innern führte aus, daß der Reichsarbeitsminister bei der Besprechung im Haag die Möglichkeit erörtert habe, die schwierigen Fragen der Beitragserhöhung und des Leistungsabbaus aus einer Vorlage der Regierung vorläufig herauszulassen. Die der Delegation angehörenden Reichsminister hätten jedoch erklärt, daß das unmöglich sei.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg vertrat die Auffassung, daß das Kabinett den Entschluß des Vizepräsidenten Esser, die Beratungen des Sozialpolitischen Ausschusses nicht zu vertagen, nicht ohne weiteres hinzunehmen brauche3.

3

Esser hatte zu MinR Feßler gesagt, daß eine Vertagung nicht ohne weiteres möglich sei. „Die Anberaumung des Termins beruhe auf einem Beschluß sämtlicher Parteiführer, die er bei einer Vertagung erst um ihre Zustimmung befragen müsse. Auch der Ausschuß habe die Sitzung beschlossen, und er selbst habe die bestimmte Zusage gegeben, daß sie stattfinden werde.“ Unterstützt worden war Essers Haltung durch Scholz, der erklärte, er sei über die Verzögerung „entrüstet“ und wolle seiner Ansicht im Sozialpolitischen Ausschuß Ausdruck geben (Vermerk Feßlers vom 14.8.29; R 43 I /2035 , Bl. 342 f., hier: Bl. 342 f.).

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte aus, daß in der für den 15. August in Aussicht genommenen Parteiführerbesprechung auch nicht viel erreicht werden könne. Er, der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, werde jeden Weg mitgehen, auf dem eine Krisis vermieden werden könne, bis die Verhandlungen im Haag abgeschlossen seien. Die große Schwierigkeit bestehe jedoch darin, einen derartigen Weg zu finden. Es sei einmal zu prüfen, ob nicht noch eine Regierungsvorlage vom Kabinett verabschiedet werden könne. Nach seiner Ansicht sei das nicht möglich. Es bestehe jedoch vielleicht die Möglichkeit, die weitere Initiative dem Reichstag zu überlassen. In der Frage der Agrarreform sei er so vorgegangen; die Situation habe da allerdings wesentlich anders gelegen als jetzt.

Der Reichsarbeitsminister stimmte diesen Ausführungen im wesentlichen zu.

[861] Der Reichsminister des Innern betonte, daß jedenfalls zunächst die Parteiführer unterrichtet werden müßten. Materiell werde man allerdings auch in einer Parteiführerbesprechung nicht weiterkommen. Heute (14. August) dürften keine materiellen Beschlüsse gefaßt werden.

Der Reichsminister der Justiz erklärte, keine besonderen Bedenken dagegen zu haben, daß der Sozialpolitische Ausschuß am 15. August zusammentrete. Es werde möglich sein, den Ausschuß nach seiner Sitzung um acht Tage zu vertagen. Es müsse nun zunächst die Besprechung mit den Parteiführern abgewartet werden.

Der Reichsverkehrsminister äußerte sich in demselben Sinne.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg erklärte, wenn er richtig über die Auffassung des Reichswirtschaftsministers unterrichtet sei, so lege dieser entscheidendes Gewicht darauf, daß das Problem der Arbeitslosenversicherungsreform nicht im Sozialpolitischen Ausschuß versande. Die Regierung müsse deshalb die Initiative haben.

Staatssekretär Schmid machte davon Mitteilung, daß er inzwischen mit dem Führer der Deutschen Volkspartei, dem Abgeordneten Dr. Scholz, gesprochen habe. Nach der von Dr. Scholz vertretenen Ansicht werde die Deutsche Volkspartei einer Vertagung der Beratungen des Sozialpolitischen Ausschusses um eine Woche keine Schwierigkeiten in den Weg legen. Dr. Scholz scheine jedoch die Auffassung zu vertreten, daß die Verhandlungen des Ausschusses nur auf der Grundlage einer Regierungsvorlage möglich seien. Die Volkspartei werde wohl die Bitte äußern, daß das Reichskabinett zu den Reformproblemen Stellung nehme.

Der Reichswehrminister vertrat die Auffassung, daß es wohl möglich sein werde, eine Vertagung des Sozialpolitischen Ausschusses zu erreichen. Darin werde wohl auch zunächst das Ziel bestehen, das mit der Parteiführerbesprechung erreicht werden müsse, Es ergebe sich jedoch die Frage, was in acht Tagen geschehen solle.

Der Reichsarbeitsminister erwiderte, daß die Haltung der Regierungsparteien sich in dieser Zeit geklärt haben werde. Man werde dann wenigstens diesen Fortschritt erzielt haben.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg äußerte den Wunsch, noch zu den Zahlen Stellung zu nehmen, die Staatssekretär Dr. Popitz in der Ministerbesprechung am 10. August mitgeteilt hatte. Er wies u. a. darauf hin, daß die Sachverständigenkommission mit höheren Ausgaben gerechnet habe als Staatssekretär Dr. Popitz, nämlich mit insgesamt 50 Millionen Mark Mehrausgaben4.

4

Vgl. Dok. Nr. 262.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg äußerte den Wunsch, daß die Referenten des Reichsarbeits-, Reichsfinanz- und Reichswirtschaftsministeriums noch heute (14. August) sich über die zugrunde zu legenden Zahlen aussprächen.

Staatssekretär Dr. Popitz erwiderte, daß dieser Punkt sicherlich von großer Bedeutung sei. Er habe eine schriftliche Aufstellung des Zahlenbildes, das er am 10. August in der Ministerbesprechung entwickelt habe, den Ressorts[862] mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet5. Es habe jedoch kein Ressort bisher Stellung genommen, insbesondere nicht das Reichsarbeitsministerium. Er halte die Schätzung der Einnahmen für nicht so bedeutsam. Von hervorragender Bedeutung sei jedoch die Frage der Ausgaben. Hierbei müsse er auf folgendes hinweisen:

5

Siehe Dok. Nr. 263.

Er habe Ministerialdirektor Dr. Weigert wiederholt gefragt, ob in der Unkostenziffer von 80 M für jeden Arbeitslosen sämtliche Ausgaben enthalten seien, also auch die Unkosten der Arbeitslosenversicherungsanstalt und die Leistungen für produktive Zwecke. Ministerialdirektor Weigert habe mehrfach erklärt, daß in dieser Ziffer sämtliche Ausgaben enthalten seien.

Der Reichsarbeitsminister erwiderte hierauf, daß in der Ziffer von 80 Millionen nicht sämtliche Ausgaben enthalten seien.

Staatssekretär Dr. Popitz erklärte, dann eventuell den Vorwurf subjektiver Irreführung durch Ministerialdirektor Dr. Weigert erheben zu müssen.

Der Reichsarbeitsminister wies diesen Vorwurf zurück. Er erklärte, daß dieser Vorwurf schon deshalb nicht angebracht sei, weil nicht nur in den Ressorts, sondern auch im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags und in sonstigen Kreisen hervorragende Sachverständige vorhanden seien, die eine bewußte Irreführung jederzeit widerlegen könnten.

Das Reichskabinett kam zu folgendem Ergebnis:

Das Reichsarbeitsministerium wird noch heute (14. August) eine Referentenbesprechung veranlassen, in der die der Arbeitslosenversicherungsreform zugrunde zu legenden Zahlen erörtert und klargestellt werden sollen. Zu der Besprechung ist das Reichsfinanz- und das Reichswirtschaftsministerium einzuladen6.

6

Siehe Dok. Nr. 267.

Die Berichterstattung bei der Parteiführerbesprechung am 15. August, 11 Uhr vormittags, übernimmt der Reichsarbeitsminister7.

7

Siehe Dok. Nr. 268.

Die Frage der Einwirkung des Geburtenrückganges auf die Höhe der Leistungen der Arbeitslosenversicherungsanstalt bleibt einer späteren Prüfung vorbehalten.

Extras (Fußzeile):