1.143.4 (mu22p): 4. Politische Lage.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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4. Politische Lage.

Der Reichskanzler erklärte, daß er es für unerläßlich notwendig halte, das Amt des Reichsministers der Finanzen bis zum kommenden Tage neu zu besetzen, schon allein deshalb, weil die bevorstehende Haager Konferenz eine längere Vakanz unmöglich mache. Er berichtete, daß er bereits am vergangenen Sonnabend, dem 21. Dezember, mit dem Reichsminister Dr. Moldenhauer[1304] wegen Annahme des Amtes verhandelt habe. Dr. Moldenhauer habe sich bereit erklärt, sich mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Reichsfinanzministers betrauen zu lassen, und habe es auch nicht abgelehnt, sich unter Umständen mit der endgültigen Übernahme des Amtes einverstanden zu erklären4. Mit der sozialdemokratischen Fraktion sei vor dem Sturze des Reichsministers Hilferding nicht gesprochen worden. Nach dem Sturze habe bei den Sozialdemokraten die Stimmung vorgeherrscht, daß die Volkspartei für den Rücktritt Dr. Hilferdings verantwortlich sei. Die Fraktion habe daher gewisse Bedenken geäußert, der Volkspartei die Nachfolgerschaft zuzugestehen. Er habe der Fraktion darauf erwidert, daß die Volkspartei keine Bedingungen gestellt habe. In der sozialdemokratischen Fraktion sei Stimmung dafür vorhanden, die Nachfolge Dr. Hilferdings auf den Abgeordneten Dr. Hertz zu übertragen. Eine ausdrückliche Forderung der Fraktion liege jedoch nicht vor. Dr. Hertz selbst habe sich zur Sache noch nicht geäußert. Er glaube aber sagen zu können, daß Dr. Hertz wahrscheinlich schwere Bedenken haben werde, das Amt gerade im gegenwärtigen Augenblick anzunehmen, weil das Amt des Reichsministers der Finanzen im gegenwärtigen Augenblick für die unmittelbar bevorstehenden schwierigen Verhandlungen auf der Haager Konferenz eines mit den Reparationsfragen absolut vertrauten eingearbeiteten Ministers bedürfe. Es liege eine Mitteilung aus London vor, der zufolge der Staatssekretär im britischen Auswärtigen Amt Dalton dem Deutschen Botschaftsrat Dieckhoff erklärt habe, daß weder er (Dalton) noch der Britische Außenminister Henderson die Absicht habe, nach dem Haag zu gehen, weil dort in erster Linie finanzielle Dinge zu erledigen seien, an denen das Auswärtige Amt weniger beteiligt sei. Dr. Hertz werde sich sagen, daß er als Hauptgegenspieler der Gläubigermächte für die auf der Haager Konferenz im Vordergrund des Interesses stehenden finanziellen Fragen nicht genügend eingearbeitet sei5.

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Moldenhauer berichtet, Curtius und Trendelenburg hätten ihn gedrängt, das Ressort zu übernehmen mit Schäffer als StS, da er als einziger Minister „in die Reparationsfrage eingeweiht sei“. Ebenso habe die Begründung des RK gelautet. „Er fügte hinzu, daß Curtius und ich schließlich den Rücktritt von Hilferding erzwungen hätten. Wir hätten mindestens die moralische Verpflichtung, ihm nun aus den Schwierigkeiten zu helfen, in die er dadurch geraten sei“ (BA: Nachlaß Moldenhauer  3, S. 21).

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Hertz erklärte in einer Rundfunkrede, ihm sei das Amt des RFM angetragen worden. An dieser Wendung nahm der RPräs. Anstoß, da er Hertz das Amt nicht angetragen habe, wie Meissner telefonisch Pünder mitteilte; der RPräs. lege auf eine Richtigstellung Wert (27.12.29; R 43 I /1308 , S. 437, hier: S. 437).

Der Reichskanzler bemerkte weiter, daß er nicht verschweigen dürfe, daß sich auch aus einem zweiten Grunde bei den Sozialdemokraten eine Strömung dagegen geltend gemacht habe, daß die Nachfolge im Reichsfinanzministerium der Deutschen Volkspartei zugestanden werde. Dieser zweite Grund sei der Fall des Staatssekretärs Schmid, der bekanntlich bei der Abstimmung über das Vertrauensvotum zum Finanzprogramm der Reichsregierung gegen die Reichsregierung gestimmt habe, ohne daß daraus irgendwelche Konsequenzen gegen Schmid gezogen worden seien. Der sozialdemokratische Fraktionsvorstand trete am Nachmittage zu einer Sitzung zusammen und müsse alsdann zu abschließenden Entschlüssen kommen. Es sei sicher, daß die Sozialdemokratische[1305] Fraktion darauf bestehen werde, daß sie mit 4 Ministern in der Reichsregierung vertreten bleibe. Möglicherweise werde sie, wenn Dr. Moldenhauer das Finanzministerium übernehme, auf das Reichswirtschaftsministerium Anspruch erheben.

Zum Fall des Staatssekretärs Schmid bemerkte der Reichskanzler, daß er darüber aufs äußerste befremdet sei. Er habe schon vor einiger Zeit, als Staatssekretär Schmid in Düsseldorf eine sehr kritische Rede gegen die Politik der Reichsregierung gehalten habe, diesen zu sich gebeten gehabt, um ihm zu erklären, daß es nicht angängig sei, bei einem Konflikt zwischen seinem Amt als Staatssekretär und seinem Mandat als Reichstagsabgeordneter so stark, wie Schmid es getan habe, gegen die Regierung ausfällig zu werden. Er habe ihm nahegelegt, daß er sich, um den Konflikten in Zukunft aus dem Wege zu gehen, beurlauben lassen könne, wie dies z. B. Staatssekretär Schulz vom Reichsministerium des Innern während der Ministerschaft von Reichsminister a. D. v. Keudell getan habe. Schmid habe damals erklärt, daß er ohnehin beabsichtige, bald aus seinem Amte als Staatssekretär des Reichsministeriums für die besetzten Gebiete auszuscheiden, und es bisher nur deshalb noch nicht getan habe, weil er das Rheinministerium bei den wichtigen und entscheidenden Verhandlungen über die Räumung des besetzten Gebietes nicht im Stich habe lassen wollen6. Was nun aber die Haltung von Herrn Schmid bei der Abstimmung über das Finanzprogramm anlange, so müsse er unumwunden erklären, daß er es nicht verstehe, daß Staatssekretär Schmid nicht so viel Takt und Anstandsgefühl besitze, jetzt aus eigener Initiative um seine Beurlaubung zu bitten7.

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Diese Unterredung hatte am 7. 11. stattgefunden. Schmid hatte dem RK erklärt, er wolle keine Schwierigkeiten machen, müsse aber auf die rechtsgerichtete DVP Rücksicht nehmen. Als Niedersachse neige er zu kräftigen Worten. Er habe sich aber nicht gegen die Politik des RK und des RFMin. gewandt. Beurlauben lassen habe er sich bisher nicht, weil er sich im RMinbesGeb. für unentbehrlich halte. Er werde aber in den Ruhestand mit der Bitte treten, eine neue Disposition zu erhalten (Aufzeichnung Müllers; SPD: Nachlaß Müller  O II).

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Nachdem Wirth erklärt hatte, er werde nichts gegen Schmid unternehmen und diese Einstellung auch von Curtius vertreten worden war, hatte Pünder am 21. 12. mit Schmid gesprochen. Schmid hatte die Ansicht vertreten, die Sache werde nach Beruhigung der Presse erledigt sein. Auf Pünders Frage, ob er nicht zum Jahresende seinen Abschied nehmen wolle, hatte Schmid gemeint, er habe das nur vorgehabt, als er gedacht hätte, der Young-Plan werde früher angenommen und die Geschäfte des Ressorts gingen zurück. Wegen seiner Zukunft habe er sich zwar schon umgetan, aber noch nichts Greifbares gefunden. Er sei erstaunt, daß die Sache nicht erledigt sei, sondern noch im Kabinett besprochen werden solle. RM Wirth habe ihm seine Solidarität versichert (Vermerk Pünders vom 23.12.29; R 43 I /1308 , S. 411-419, hier: S. 411-419).

Reichsminister Wirth, mit dem die Angelegenheit besprochen worden sei, habe erklärt, daß er in der Angelegenheit nichts unternehmen könne. Demgegenüber müsse er erklären, daß er es unter keinen Umständen hinnehmen werde, daß Staatssekretär Schmid in einer Kabinettssitzung als Vertreter des Reichsministers für die besetzten Gebiete erscheine. Er habe über den Fall Schmid übrigens auch mit dem Herrn Reichspräsidenten gesprochen, und der Herr Reichspräsident habe volles Verständnis für seine, des Reichskanzlers, Auffassung gezeigt.

[1306] Abschließend erklärte der Reichskanzler, daß er daran festhalten müsse, das Reichsfinanzministerium bis zum folgenden Tage unter allen Umständen neu zu besetzen. Falls dies nicht gelingen sollte, müsse er sich vorbehalten, das Kabinett vor die Frage der Gesamtdemission zu stellen.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte, daß er sich in der Tat dem Reichskanzler gegenüber am vergangenen Sonnabend [21. 12.] bereit erklärt habe, das Finanzministerium zu übernehmen, wenn eine derartige Forderung an ihn gestellt werden sollte. Er stelle ausdrücklich fest, daß weder er noch seine Fraktion jemals den Sturz des Reichsministers Hilferding gefordert habe, und daß weder er noch seine Fraktion jemals Ansprüche auf das Reichsfinanzministerium geäußert hätten. Irgendwelche Differenzen mit der Sozialdemokratie wegen des Finanzministeriums halte er für überaus bedenklich, denn die bevorstehende schwere Arbeit dieses Winters könne nur bei vollster Harmonie aller Kabinettsmitglieder untereinander bewältigt werden. In erster Linie halte er Dr. Hertz für den geeigneten Nachfolger Dr. Hilferdings. Falls dieser jedoch zur Annahme des Amtes nicht bereit sein sollte, würde er schweren Herzens einem an ihn gerichteten Appell zur Übernahme des Amtes Folge leisten8.

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Die Ernennungsurkunden für Moldenhauer als RFM und Schmidt als RWiM wurden am 23. 12. der Rkei von StS Meissner zugesandt (R 43 I /1308 , S. 421-425, hier: S. 421-425).

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete erklärte zum Fall des Staatssekretärs Schmid, er sei bisher der Auffassung gewesen, daß ein Verbleiben des Staatssekretärs Schmid im Rheinministerium Gegenstand eines Kompromisses zwischen den Fraktionen sei, der geschlossen wurde, als er, Dr. Wirth, in das Ministerium als Minister eintrat. Bekanntlich habe damals ein Etatsvermerk bestanden, demzufolge das Ministerium nur einen Staatssekretär oder einen Minister haben dürfe. Dieser Vermerk sei erst nach Zustandekommen des vorgenannten Kompromisses aufgehoben worden. Aus diesem Grunde habe er bisher gegen Schmid wegen seiner Abstimmung gegen die Reichsregierung nichts unternommen. Er werde sich zu irgendwelchen Schritten gegen Staatssekretär Schmid auch erst dann für befugt halten, wenn das Gesamtkabinett dies beschließen sollte.

Der Reichskanzler erwiderte unter Zustimmung von Reichsminister Moldenhauer, daß weder ihm noch Herrn Dr. Moldenhauer von einem derartigen Kompromiß etwas bekannt sei, jedenfalls sei er als Reichskanzler mit dem Kompromiß nicht befaßt worden.

Der Reichsminister der Justiz bemerkte, daß er mit Staatssekretär Schmid sehr lange zusammen gearbeitet habe. Er kenne ihn vor allen Dingen aus den langen Jahren, in denen er, Reichsminister von Guérard, im Haushaltsausschuß des Reichstags Berichterstatter für den Haushalt des Reichsministeriums gewesen sei, und er müsse seine dienstliche Tüchtigkeit anerkennen. Durch die Abstimmung Schmids gegen das Reichskabinett fühle er sich jedoch aufs schwerste betroffen. Nach seiner Meinung sei es Sache der volksparteilichen Mitglieder des Reichskabinetts, sich zur Sache zunächst zu äußern.

Der Reichswirtschaftsminister erwiderte, daß ihm von einem Kompromiß der Fraktionen, von dem der Rheinminister gesprochen habe, nichts bekannt[1307] sei. In der Sache selbst stimme er der Auffassung des Reichskanzlers zu. Er halte es für einen unmöglichen Zustand, daß ein Staatssekretär sich derart gegen die Reichsregierung verhalte, wie Schmid es getan habe. Er habe auch mit Schmid gesprochen, dieser habe ihm erwidert, daß er demnächst, nach Räumung der 3. Zone, aus dem Reichsdienst ausscheiden wolle. Er halte eine Beurlaubung für geboten und rege an, den Reichsminister Wirth zu veranlassen, Staatssekretär Schmid über die Stimmung des Kabinetts gegen ihn zu unterrichten und ihm eine Beurlaubung nahezulegen.

Der Reichsminister des Innern erklärte, er halte das regierungsfeindliche Verhalten von Staatssekretär Schmid in der jetzigen überaus schwierigen Zeit, in der von jedem Beamten erwartet werden müsse, daß er die Regierung unterstütze, für so bedenklich, daß er nicht gezögert haben würde, das Ausscheiden eines solchen Staatssekretärs beim Kabinett zu beantragen. Jedenfalls müsse er es ablehnen, an einer Kabinettssitzung teilzunehmen, in der Staatssekretär Schmid als Vertreter des Rheinministeriums anwesend sei.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft schloß sich dieser Auffassung an und meinte, es sei eine geradezu monströse Zumutung, mit Staatssekretär Schmid noch weiterhin im Kabinett zusammenzuarbeiten.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete führte aus, daß Staatssekretär Schmid sachlich stets mit ihm loyal zusammengearbeitet habe und daß er aus diesem Grunde und wegen des nach seiner Auffassung bestehenden Kompromisses der Fraktionen über seine und Staatssekretär Schmids gleichzeitige Angehörigkeit zum Rheinministerium keinen Anlaß habe, gegen ihn vorzugehen. Er sei aber bereit, Staatssekretär Schmid von den geäußerten Beschwerden des Kabinetts zu unterrichten.

Der Reichskanzler betonte, daß der Reichsminister für die besetzten Gebiete Staatssekretär Schmid von den geäußerten ernsten Beschwerden gegen ihn in Kenntnis setzen und daß er ihm demzufolge seine Beurlaubung nahelegen müsse und daß ferner eine etwaige Teilnahme des Staatssekretärs Schmid an Kabinettssitzungen unmöglich sei. Bei der Übermittlung der Auffassung des Kabinetts dürfe der Reichsminister beim Staatssekretär Schmid nicht die Auffassung aufkommen lassen, daß die Angelegenheit mit diesem Schritt abgeschlossen sei, wenn er keine Konsequenzen aus dem Vorgebrachten ziehen werde. Das Kabinett müsse absolute Entschließungsfreiheit behalten, gegen Staatssekretär Schmid weitere Beschlüsse zu fassen, falls dieser nicht aus eigener Initiative zu Entschlüssen kommen sollte.

Dieser Auftrag an den Reichsminister für die besetzten Gebiete wurde vom Kabinett gebilligt9.

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Die Beurlaubung Schmids erfolgte am 30.12.29 (Vermerk Feßlers; R 43 I /1308 , gefunden in R 43 I /995 , Bl. 257, hier: Bl. 257), jedoch behandelte das Kabinett Brüning bereits am 4.4.30 die Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte durch den StS, die am 27. 4. erfolgte (R 43 I /1308 , gefunden in R 43 I /1442 , Bl. 235-238, 363-372, hier: Bl. 235-238, 363-372).

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