1.161.2 (mu22p): 2. Frage der Erhöhung der Zollsätze für Roggen und Weizen.

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2. Frage der Erhöhung der Zollsätze für Roggen und Weizen.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß die Reichsregierung nach dem neuen Zollgesetze die notwendigen Ausführungsverordnungen zu treffen habe. Danach seien die zuständigen Reichsminister zum Erlaß der Verordnung befugt. Es sei[1371] an ihn die Anregung herangetragen worden, daß die Verordnung durch das Gesamtkabinett erlassen würde, weil es sich um eine hochpolitische Angelegenheit handele13. Es sei aber unmöglich, das Wort „Reichsregierung“ einmal in diesem und dann in dem anderen Sinne auszulegen. Beim Stahlhelmverbot habe sich das Kabinett auf den Standpunkt gestellt, daß zu dem Erlaß der Verordnung der zuständige Reichsminister allein berechtigt sei. Auch jetzt könne nicht anders entschieden werden.

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Das Gerücht von der Heraufsetzung der Getreidezölle habe zu einem spürbaren Preisrückgang geführt, hatte MinR Feßler in seinem Referentenvortrag zu diesem Tagesordnungspunkt mitgeteilt. „Bei dieser Sachlage möchte die Zollerhöhung vorgenommen werden. Sie wird von allen Interessenten erwartet, ihr Ausbleiben würde eine ganz starke Wirkung ausüben. Durch die Zollnovelle ist mindestens im Unterbewußtsein auch der oppositionellen Landwirte der Eindruck entstanden, daß das politisch Mögliche für sie geschieht. Eine gewisse Solidarität des ganzen Volkes im Interesse der Landwirtschaft trat bei der Abstimmung im RT deutlich in Erscheinung. – Es dürfte erwünscht sein, diese Wirkung nicht dadurch aufs Spiel zu setzen, daß die Zollerhöhung für Weizen abgelehnt wird“ (13.1.30; R 43 I /2425 , Bl. 284, hier: Bl. 284).

Ministerialdirektor Ernst schlug vor, die neuen Zölle von 9,– M für Roggen und 9,50 für Weizen mit Wirkung vom 20. Januar 1930 in Kraft zu setzen. Nach Auffassung des Reichsfinanzministerium sei für die Heraufsetzung nicht allein die Marktbeobachtung in der Vergangenheit entscheidend. Der Reichstag habe die automatische Lösung der Frage abgelehnt und der Reichsregierung die Vollmacht erteilt, nach ihrem Ermessen zu entscheiden, „wenn die Lage des Getreide-Marktes es erfordert.“ Nach der Entwicklung des Marktes treffe diese Voraussetzung jetzt zu. Auch der Weltmarkt sei für den Preis ungünstig. Rußland habe ebenfalls mit Lieferung von Weizen und Roggen begonnen. Von dort seien starke Preisunterbietungen zu befürchten14. Käme die Zollerhöhung nicht, so würde der Markt stark gedrückt werden.

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Rußland werde demnächst mit dem Export von Brotgetreide beginnen, hatte Botschafter v. Dirksen telegrafiert. Für Januar und Februar seien 200 000 Tonnen Schiffsraum zum Getreidetransport gechartert worden; ab Mai solle monatlich die Ausfuhr von 50 000 t Getreide sichergestellt werden. In den nächsten Tagen sei die Weisung für den Transport von 10 000 t Weizen zu erwarten. „Ergebnis der diesjährigen Getreidebereitstellung ist derart, daß es nur auf Kosten weitgehender Ausschöpfung bäuerlicher Getreidevorräte, zum Teil einschließlich der für Eigenkonsum bestimmten erreicht werden konnte“ (Telegramm Nr. 17 vom 9.1.30; R 43 I /138 , Bl. 152 f., hier: Bl. 152 f.).

Der Reichskanzler erklärte, daß wegen des Roggenzolles keine Meinungsverschiedenheiten beständen. Dagegen sei es möglich, daß sich die Verhältnisse auf dem Weizenmarkte anders entwickeln würden als vorgesehen. Es bestehe die Gefahr, daß der Zoll in wenigen Monaten wieder herabgesetzt werden müsse.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft ging auf die Streitfrage, ob der Zolländerung lediglich die Vergangenheit zugrunde zu legen sei, oder nicht, nicht ein. Er hielt aber die erstere Alternative für richtig nach dem Wortlaut des Gesetzes hinsichtlich der ersten Prüfung. Es sei nach seiner Auffassung ausgeschlossen, daß der Roggenpreis in diesem Erntejahre auf 230 M hinaufgehen werde. Die Ernte sei anscheinend noch besser ausgefallen als geschätzt wurde. Der Saatenstand sei so günstig, daß mit einer Rekordernte gerechnet werden müsse.

[1372] Die Auseinandersetzungen mit Polen seien noch nicht beendet. Polen sei bereit, auf die Ausfuhr von Roggen zu verzichten, wenn Deutschland eine gewisse Menge aufnähme15. Auch mit den Russen habe er verhandelt. Sie beabsichtigten, mit dem Getreide ihre Schulden zu bezahlen. Welche Waren sie ausführen wollten, würde sich danach richten, wie die Weltmarktlage zu beurteilen sei. Ihre Haltung sei also ganz unübersichtlich. Sie würden auf die Ausfuhr von Roggen verzichten, wenn Deutschland ihnen Weizen abnähme.

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Siehe dazu Dok. Nr. 365, P. 6.

Die Lage auf dem Roggenmarkte sei hoffnungslos. Der Überschuß müsse im Inlande verwertet werden. Die Verschleuderung des Roggens ins Ausland sei volkswirtschaftlich nicht zu verantworten.

Die Bewegung auf dem Weizenmarkte habe mit der Zollfrage auf das Engste zusammengehangen. Die Preise seien sofort gefallen als Zweifel in die Zollerhöhung geäußert wurden. Der Weizenpreis könne durch Vermahlungszwang und durch Vorratsbildung bei der Getreidehandels-Gesellschaft beeinflußt werden. Diese werde Weizen jetzt kaufen, um ihn zur Regulierung des Preises nötigenfalls wieder auf den Markt zu werfen. Der Vermahlungszwang solle für Februar noch einmal in der bisherigen Höhe verordnet werden16. Dann aber werde sich seine Aufrechterhaltung nach der Marktlage richten. Wenn der Weizenpreis steige, so sei zu hoffen, daß auch der Roggenpreis in eine Aufwärtsbewegung eintreten werde.

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Das RKab. billigte in der Ministerbesprechung vom 22.1.30 nachmittags, P. 3, den Vermahlungszwang für Inlandweizen für Februar auf 50% festzusetzen, da der Weltweizenpreis sinke. Im Beschlußverfahren wurde der Vermahlungssatz am 24. 2. auch für den März aufrechterhalten (R 43 I /2542 , Bl. 240, hier: Bl. 240).

Es sei beabsichtigt, die Zölle bis 1. September auf der vorgeschlagenen Höhe zu belassen, dann werde sich die weitere Regelung nach der neuen Ernte in Deutschland, Amerika und Argentinien richten17. Nach Möglichkeit sollten die neuen Zölle dann auch auf 1 Jahr gehalten werden.

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Dazu heißt es in der Kabinettsvorlage des REM: „Es ist zwar richtig, daß die amtlichen argentinischen Erntemeldungen nur von einer erheblich geringeren Ernte sprechen gegenüber der des letzten Jahres. Diese Meldungen müssen aber als tendenziös bezeichnet werden, da sie früher als sonst üblich erfolgt sind und die argentinische Ernte noch nicht abgeschlossen ist. Beachtliche Schätzungen von privater Seite lassen die Ernteaussichten Argentiniens wesentlich besser erscheinen, als nach den amtlichen Schätzungen angenommen werden muß. Dazu kommt aber, daß selbst bei geringer argentinischer Weizenernte die Vorräte Nordamerikas für absehbare Zeit eine entscheidende Rolle auf dem Weltweizenmarkt spielen werden. Diese Vorräte werden nach wie vor preisdrückend wirken, zumal nicht abzusehen ist, welche Wirkung die exportfördernden Maßnahmen der Vereinigten Staaten haben werden. In Handelskreisen rechnet man stark damit, daß Amerika seine erheblichen Vorräte gegen Schluß des Erntejahres um jeden Preis abstoßen wird, da ihm sonst die Lagerungsmöglichkeiten für die neue Ernte fehlen“ (9.1.30; R 43 I /2425 , Bl. 282 f., hier: Bl. 282 f.).

Futtergerste und Mais seien weiter im Preise sehr gedrückt, da das Ausland zu Verkäufen gezwungen sei. Lagerräume seien in Deutschland nur etwa für 40 000–50 000 t greifbar. Dies deute auf große Vorräte in Deutschland hin. Die Welt ersticke in Getreide. Was die Amerikaner im Frühjahr mit ihrem Weizen machen würden, sei noch nicht abzusehen. Vielleicht werde es erforderlich sein, ein Gesetz zur Förderung des Roggenbrot-Konsums zu erlassen. Weizen werde nur ganz schwach ausgemahlen. Das Nachmehl würde billig verkauft[1373] und von den Bäckern mit Roggen vermischt, zu Graubrot verarbeitet und verkauft18.

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Einer entsprechenden Vorlage des REM stimmte das Kabinett in der Sitzung vom 7. 2. unter P. 2 zu. In seiner Vorlage hatte der REM erklärt, Deutschland habe eine Überproduktion an Roggen. Gleichzeitig mit der Hebung des inländischen Roggenbrotverzehrs müsse eine Verminderung der Weizeneinfuhr erreicht werden. „Roggenbrot“ solle künftig nur ein Brot mit 95% Roggen und 5% Weizenmehl genannt werden dürfen. Bei genügender Kennzeichnung könne die landschaftliche Geschmacksrichtung berücksichtigt werden. „Mischbrote“ dürften nur zu 3% Backmittel enthalten, die nicht aus Roggen oder Weizen bestünden (1.2.30; R 43 I /2542 , Bl. 172-178, hier: Bl. 172-178).

Der Reichsarbeitsminister trug Bedenken, dem Vorschlage des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft zu folgen. Das Ziel des Zollgesetzes sei, dem Landwirt die Preise zu sichern. Wahrscheinlich habe dieser aber bei der starken Kapitalknappheit seine Vorräte schon ziemlich ausverkauft, so daß nur der Handel den Vorteil von der Zollerhöhung haben würde. Dies gehe auch aus den Klagen der Landwirte hervor. Er halte deswegen eine Erhöhung des Weizenpreises um 10 M für die to für ausreichend.

Dadurch würden die Konsumenten nicht übermäßig zugunsten des Handels belastet. Dabei müßte angekündigt werden, daß eine weitere Zollerhöhung erfolgen würde, wenn es nötig sei.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft widersprach der Auffassung des Reichsarbeitsministers. Verschiedene Meldungen deuten darauf hin, daß die Landwirte noch ziemlich erhebliche Vorräte an Weizen und Roggen in Händen hätten. Soweit er bevorschußt sei, sei der Preis nicht gebunden. Käme die Weizenzollerhöhung nicht in vollem Ausmaße, so würde dies eine große Beunruhigung auslösen, zumal die Erhöhung bereits im Vorwärts angekündigt worden sei.

Auch Ministerialdirektor Ernst nahm an, daß Landwirte einen Teil ihrer Weizenvorräte zurückbehalten hätten in der Hoffnung auf Preissteigerung. Die Regierung könne nach dem Zollgesetze nur prüfen, wie sich die Marktlage entwickele, nicht, wem die Zollerhöhung zugute komme.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erläuterte die Lage noch dahin, daß der Handel keine Bestände habe, er kaufe erst, wenn er verkauft habe. Die Mühlen hätten sehr große Bestände. Sie fürchten aber alle einen Preissturz.

Der Reichsverkehrsminister sprach sich für den Vorschlag des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft aus. Der bewegliche Roggenzoll sei ein Experiment. Durch Vermahlungszwang und Preisbeeinflussung seitens der Getreidehandels-Gesellschaft könnten übermäßige Preissteigerungen vermieden werden.

Nach eingehender Aussprache stellte der Reichskanzler das Einverständnis des Kabinetts damit fest, daß die zuständigen Reichsminister die vorgeschlagene Verordnung über die Erhöhung des Weizen- und Roggenzolles erlassen19.

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Zu weiteren Entwicklung siehe Dok. Nr. 443, P. 2.

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