1.202.1 (mu22p): 1. Deckungsvorschläge zum Haushalt 1930.

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1. Deckungsvorschläge zum Haushalt 1930.

Nach Eröffnung der Sitzung führte der Reichskanzler aus, daß die letzte Ministerbesprechung am vergangenen Freitag abgebrochen sei, um nach Verständigungsmöglichkeiten zu suchen1. Inzwischen sei der Beschluß der Volkspartei ergangen, nach dem ein Notopfer für die Festbesoldeten ausgeschlossen sei. Auch die Demokratische Partei habe einen Beschluß gefaßt. Den Inhalt der beiden Beschlüsse setze er als bekannt voraus2. Wie schon früher, so halte[1517] er es auch jetzt für unbedingt notwendig, das Kabinett zusammenzuhalten, insbesondere um die Young-Gesetze im Reichstag zu verabschieden. Zu erwägen sei bei der gegebenen politischen Lage, ob eine Einigung im Kabinett möglich sei, sowohl hinsichtlich der Steuergesetzgebung als auch hinsichtlich der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung. Vielleicht sei eine Einigung auf der Basis zu erzielen, daß für 1930 einmalig Zuschläge zur Einkommensteuer erhoben und für das Etatsjahr 1931 Steuersenkungsvorschläge gesetzlich festgelegt würden. Bei der Arbeitslosenversicherung sei vielleicht die Freiwilligkeit ein geeigneter Weg. 150 Millionen sollten durch Verkauf der Vorzugsaktien gedeckt werden. Die restlichen 100 Millionen sollten im Wege der Autonomie der Reichsanstalt Deckung finden, teilweise durch Zuschlagserhöhung um ¼%, teilweise durch Erzielung von Ersparnissen. Nach seiner Auffassung werde in wenigen Tagen eine Einigung mit den Parteien nicht möglich sein, aber möglich erscheine ihm eine Einigung im Kabinett, auf Grund der die Young-Gesetze zur Verabschiedung gebracht würden und die Vorlage des Etats so an den Reichsrat erfolge. Er habe in den heutigen Morgenstunden bereits eine Unterredung mit Herrn Minister Moldenhauer gehabt. In dieser Unterredung sei ihm mitgeteilt worden, daß der Reichsverband der Industrie eine Ermächtigung zur Regelung der Steuergesetzgebung angeregt habe. In einer kürzlichen Besprechung mit Vertretern der Landwirtschaft sei ihm nahegelegt worden, sich auch auf landwirtschaftlichen Gebieten für die Ausgestaltung der Zölle eine Ermächtigung geben zu lassen3. Er zweifle allerdings daran, ob die Parteien den Weg der Ermächtigung mitgehen würden. Wenn es nicht möglich sei, im Kabinett eine Einigung herbeizuführen, dann sehe er keinen Weg, das Kabinett zusammenzuhalten. Nach seiner Auffassung sei es notwendig, heute Vormittag[1518] zu einer abschließenden Entscheidung zu kommen, um sodann mit den Vorständen der Fraktionen verhandeln zu können. Er verkenne durchaus nicht, daß sich, auch wenn eine Einigung innerhalb des Kabinetts erzielt werde, noch große Schwierigkeiten ergäben.

1

Siehe Dok. Nr. 457.

2

Der Beschluß der DVP-Fraktion war am 2. 3. einstimmig gefaßt worden, nachdem am Vortage schon der Fraktionsvorstand sich einmütig im Anschluß an die Unterredung des Parteivorsitzenden Scholz mit dem RPräs. gegen das Notopfer der Festbesoldeten ausgesprochen hatte (BA: R 45 II /66 , Bl. 174 f., hier: Bl. 174 f. und 67, R 43 I /67 , Bl. 211, hier: Bl. 211). Vor der Fraktion hatte Scholz noch darauf hingewiesen, daß seine Ansichten mit denen der DDP-Politiker Koch-Weser und Meyer übereinstimmen würden und daß er Kontakt zu Brüning halte (BA: R 45 II /67 , Bl. 211, hier: Bl. 211). Von der DVP war erklärt worden: „Die Deutsche Volkspartei ist der Auffassung, daß das Kernstück jeder Finanzreform eine Entlastung der Wirtschaft, die Wiederherstellung der Rentabilität in Landwirtschaft, Handel, Handwerk und Industrie sowie die Förderung der Kapitalbildung sein muß. Nur auf diesem Wege ist es möglich, das größte soziale Übel, die Arbeitslosigkeit, wirksam zu bekämpfen und aus dem Drei-Millionen-Heer der Erwerbslosen einen möglichst großen Teil wieder in die Wirtschaft einzugliedern. – Nachdem die Entwicklung der Finanz- und Kassenlage des Reiches die von allen Seiten als notwendig erkannte Senkung der direkten Steuern für das Jahr 1930 unmöglich gemacht hat, muß die gesetzliche Festlegung einer solchen Senkung für das Jahr 1931 gefordert werden. – Unvereinbar hiermit wäre eine neue Erhöhung der direkten Steuern, gleichviel unter welcher Bezeichnung sie erfolgt. – Das sogenannte Notopfer würde außerdem den Willen zur Reform auf der Ausgabenseite des Reichshaushaltes im Keime ersticken. Im Zusammenhang mit dem Reichshaushalt für 1930 müssen daher folgende Maßnahmen getroffen werden: Gesetzliche Sicherung der Ausgabensenkung in Reich, Ländern und Gemeinden, insbesondere auch durch Sanierung der ALV unter Vermeidung jeder weiteren Erhöhung von direkten Steuern, gesetzliche Festlegung einer Senkung dieser Steuern von Beginn des nächsten Haushaltsjahres an“ (MNN, 3.3.30). Die DDP hatte – gleichfalls am 2. 3. – in einer Entschließung erklärt, sie trage schwere Bedenken gegen die Erhöhung der direkten Steuern und gegen das Notopfer. „Der Ernst der Lage, das Anwachsen radikaler Strömungen in der Politik würde aber nach ihrer Ansicht eine Regierungskrise fast zur Katastrophe machen. Deshalb stellt die Fraktion anheim zu prüfen, ob nicht doch ohne Nachteil für die Kapitalbildung die wirtschaftlich Leistungsfähigeren durch einen einmaligen und provisorischen Notbetrag zur Linderung der gegenwärtigen Finanznot beitragen und zugleich einer künftigen wirtschaftlichen Finanzreform den Weg bereiten können. – Es müsse allerdings gefordert werden, daß die Mehrzahlung im Jahre 1931 zurückerstattet werde. Dabei wäre gleichzeitig festzustellen, daß die direkten Steuern im nächsten Haushaltsjahr gesenkt werden müßten“ (a.a.O.).

3

Siehe Dok. Nr. 456.

Im Anschluß hieran hob der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft hervor, daß der Reichskanzler zur Deckung der fehlenden 100 Mio in der Arbeitslosenversicherung 2 Lösungen zur Erörterung gestellt habe, nämlich

a)

Erhebung eines Einkommensteuerzuschlages in Verbindung mit einem Abschlag für 1931,

b)

Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung um ¼% und Durchführung gewisser Reformen, beides durch Beschluß des Vorstandes der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung.

Soweit er die bisherigen Verhandlungen verstanden habe, würde wohl die eine Lösung die andere ausschließen.

Demgegenüber betonte der Reichskanzler daß in seinem Vorschlag kein Widerspruch enthalten sei. Neben der Erhöhung eines besonderen Zuschlages zur Einkommensteuer würden noch die auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung vorgesehenen Maßnahmen notwendig sein.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete warf die Frage auf, wie weit auf Grund des gestrigen Beschlusses der Volkspartei der Reichsminister der Finanzen noch gehen könne. Bei den neu auszuarbeitenden Plänen werde nicht nur ein Zuschlag zur Einkommensteuer, sondern auch ein Zuschlag zur Körperschaftssteuer zu erwägen sein.

Der Reichsminister der Finanzen legte dar, daß das Notopfer Ablehnung aus 2 Gründen gefunden habe:

1. Die Einführung eines besonderen Notopfers für die Beamten gefährde die von seinen Parteifreunden angestrebte Reform der Arbeitslosenversicherung und sei zudem sozial ungerecht, weil reichere Bevölkerungsschichten bei dem Notopfer der Festbesoldeten freigelassen würden;

2. eine Senkung der Einkommensteuer könne unmöglich mit einer Erhöhung der Steuern beginnen.

Wenn es gelingen sollte, hinsichtlich der Senkung für das Jahr 1931 konkrete Vorschläge aufzustellen, dann würde es vielleicht möglich sein, einmalig eine direkte Steuer zu schaffen. Er wolle nicht verschweigen, daß nach den ihm gewordenen Mitteilungen in der Wirtschaft ein starker Pessimismus herrsche. Er habe schon den Mut, Vorschläge aufzustellen, aber es habe nach seiner Auffassung keinen Zweck, solchen Vorschlägen zuzustimmen, wenn man nicht eine gewisse Sicherheit habe, daß die Parteien diesen Vorschlägen folgten. Jedenfalls könne er heute nur sagen, daß das Notopfer der Festbesoldeten für seine Fraktion vollkommen ausgeschlossen sei. Zu der vom Reichskanzler gestreiften Frage eines Ermächtigungsgesetzes wolle er nur sagen, daß ihm der Weg eines solchen Gesetzes an und für sich am liebsten sei. Er hoffe, daß im Laufe der Zeit auf allen Seiten Besinnung eintreten werde. Zunächst sei es nach seiner Meinung notwendig, die Young-Gesetze zu verabschieden und in den Tagen bis zur Verabschiedung der Young-Gesetze zu einer Verständigung zu kommen.

[1519] Der Reichsminister des Innern führte aus, daß er es verstehe, wenn der Reichsminister der Finanzen ohne seine Partei keinen Vorschlag machen wolle. Nach seiner Meinung könne man aber die Situation am besten meistern, wenn man nun endlich aus dem Stadium der Fraktionsbesprechungen herauskomme. Er wende sich mit aller Schärfe gegen die Verhandlungen mit den Fraktionen, da nach seiner Meinung jetzt die Hauptsache sei, eine Einigung im Kabinett zu erzielen. Demission des Kabinetts bedeute bei der gegenwärtigen Lage mindestens eine 3–4 wöchige Krise. Das habe zur Folge, daß die neuen Steuern (Biersteuer pp.) nicht fließen würden und daß Ende März eine ebenso schlechte und ungünstige Situation bestehen werde wie im Dezember 29. Vielleicht sei die Situation im März noch viel schlechter. Unbedingt notwendig sei daher zur Zeit eine geschlossene Reichsregierung. Sei eine solche Zusammenfassung des Reichskabinetts nicht zu erreichen, dann werde der deutschen Öffentlichkeit ein Beispiel der Zerfahrenheit gegeben. Letzten Endes sollte man sich daher vom Herrn Reichspräsidenten die Ermächtigung geben lassen, den Reichstag aufzulösen. In der Zwischenzeit bis zu den Neuwahlen müßten alle die notwendigen Maßnahmen im Wege des Art. 48 der R.Verf. getroffen werden.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies darauf hin, daß eine Einigung im Kabinett in wenigen Tagen erfolgen müsse. Das Zentrum halte nach wie vor an der Ordnung der steuerlichen Dinge vor Verabschiedung der Young-Gesetze fest und werde sich nicht davon abbringen lassen. Nach seinen Informationen sei es unmöglich, das Zentrum herumzuwerfen. Er richte an den Herrn Reichsminister der Finanzen die Frage, ob im Reichsfinanzministerium gewisse Vorarbeiten bereits getroffen seien, um beurteilen zu können, ob auch neben der Einkommensteuer die Körperschaftssteuer mit einem Zuschlag belegt werden könne.

Der Reichsminister der Finanzen legte dar, daß eine Zwangsanleihe nicht möglich sei. Er richtete an den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft die Frage, was in der Entschließung der Demokratischen Partei unter „höherem Einkommen“ zu verstehen sei. Auch er wünsche keine weiteren Fraktionsbesprechungen, halte aber eine Fühlungnahme mit einigen Parteifreunden für erforderlich. Er könne sich durchaus eine Verständigung im Kabinett denken. Da aber noch große Fragen offen seien, könne er sich auch vorstellen, daß insbesondere wegen des Senkungsgesetzes bei den Sozialdemokraten Schwierigkeiten entstehen würden. Das Senkungsgesetz werde vor allen Dingen zwei wesentliche Bestimmungen enthalten:

a)

Festsetzung der laufenden Ausgaben für das Etatsjahr 1931;

b)

Festlegung der Senkung bestimmter Steuern unter Angabe eines bestimmten Betrages.

Bei Senkung der Steuern rechne er als Minimum mit der Summe von 700 Millionen, die gesetzlich festgelegt werden müsse. Bei der Entschließung seiner Partei werde die Entlastung der Wirtschaft von Steuern in den Vordergrund geschoben werden. Er werde sich in der Zwischenzeit die Frage nochmals überlegen. Bei der Arbeitslosenversicherung habe er daran gedacht, dem Vorstand der Anstalt eine gewisse Initiative einzuräumen, z. B. in der Verwaltungsreform. Die verbleibende Differenz müsse durch Erhöhung des Beitrages in gewissen[1520] Grenzen gedeckt werden. Darüber hinaus solle ein Notstock gebildet werden, um zu verhindern, daß in Zukunft zu starke Senkungen der Leistungen eintreten müßten. Dieser Notstock soll erforderlichenfalls in den Wintermonaten zur Verfügung gestellt werden.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft brachte zum Ausdruck, daß unter „höherem Einkommen“ alle die Einkommen verstanden würden, die erfaßt werden müßten, um den erforderlichen Geldbedarf zu decken; an eine bestimmte Summe sei nicht gedacht worden.

Der Reichsminister der Finanzen setzte noch einmal eingehend auseinander, daß er auf das Notopfer der Festbesoldeten in keinem Fall zurückgreifen werde. Dies sei für ihn ganz unmöglich. Die Kombination eines Zuschlages zur Einkommensteuer sei für ihn nicht ausgeschlossen; sie lasse sich fördern, und er hoffe, bis Mittwoch [5. 3.] soweit zu sein, daß er bestimmte Erklärungen im Kabinett abgeben könne4.

4

Siehe Dok. Nr. 460, P. 2; 461; 462.

Der Reichsarbeitsminister betonte, daß er bereit sei, jeden Weg der Verständigung mitzumachen, sofern dieser Weg keine weitere Zersetzung der Arbeitslosen mit sich bringe. ¼% Erhöhung der Zuschläge werde 75 Millionen ergeben. Dieser Betrag werde nach seinen Unterlagen nicht ausreichen, um die Unkosten der Versicherung zu decken. Wenn man zu einer Erhöhung der Beiträge käme, so solle man schon um ½% erhöhen, um den Tatsachen gerecht zu werden. Auch die Bildung eines Notstockes sei erwünscht. Die Erhöhung der Beiträge dem Vorstand der Anstalt zu überlassen, sei nicht ohne Bedenken. Nach den bisherigen Erfahrungen werde sicherlich eine Verständigung im Vorstand der Reichsanstalt nicht erzielt werden, insbesondere, wenn sich nicht einmal die politischen Parteien einigen könnten. Der Reichstag habe nicht den Mut gehabt, sich zu verständigen, und erst recht werde der Vorstand diesen Mut nicht aufbringen. Eine weitere Reform in der Arbeitslosenversicherung sei nicht durchführbar. Der Sparkommissar sei bereits eingespannt, um das Problem der Reform zu überprüfen. Trotzdem schlage er vor, dem Vorstand das Recht zu geben, ½% der Beiträge zu erhöhen. Wenn man sich im Vorstand nicht einige, dann werde er, der Reichsarbeitsminister, schon die Entscheidung treffen. Vielleicht komme man auf diesem Wege über die bestehenden Schwierigkeiten hinweg. Schließlich müsse er noch einmal betonen, daß er auf die Zuschußpflicht des Reichs nicht verzichten könne.

Der Reichsverkehrsminister legte dar, daß ihm in sachlicher Hinsicht das Verständnis fehle für das, um was man streite, da der Streitgegenstand zur Zeit nur noch 100 Millionen betrage. Ein Industrieller sei ganz vor kurzem bei ihm gewesen und habe die bisherigen Maßnahmen der Regierung kritisiert. Demgegenüber habe er geltend gemacht, daß die Kritik an den finanziellen Maßnahmen der Regierung ganz unbegründet sei, da das Etatsjahr 1930 und das Etatsjahr 1931 erhebliche Besserungen für die Wirtschaft mit sich bringen würden. Berücksichtige man die Kreuger-Anleihe in Höhe von 500 Millionen, die kommende Post- und Eisenbahnanleihe in Höhe von 400 Millionen, den Wegfall[1521] des Tilgungsfonds in Höhe von 450 Millionen im Jahre 1931, die für 1931 beabsichtigte Steuersenkung in Höhe von 700 Millionen und die kommenden Erleichterungen durch den Young-Plan in Höhe von 600–700 Millionen, so müsse man doch zugeben, daß in der kommenden Zeit die Lage der Wirtschaft sich wesentlich bessern werde, da alle die genannten Summen der Wirtschaft zugute kämen. Die im Jahre 1929/30 eingetretenen Spannungen würden sich in der Zukunft ausräumen [lassen]. In industriellen Kreisen träume man immer von einer anderen Regierung. Nach seiner Meinung könne sie aber gewiß keine Besserung bringen. Auch die gegenwärtige Regierung habe durch den Beimahlungszwang und durch die Maßnahmen auf dem Gebiete der Roggenwirtschaft der Landwirtschaft wesentlich geholfen. Er lege sich im gegenwärtigen Augenblick die Frage vor, was soll jetzt praktisch werden, wenn die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Sozialdemokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei nicht behoben würden. Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu senken, habe finanziell gar keinen Zweck, weil dadurch den Gemeinden auf dem Gebiete der Wohlfahrt neue Belastungen auferlegt würden. Es käme nur in Frage, die Vorschläge des Reichsministers für die besetzten Gebiete, die er in der letzten Ministerbesprechung gemacht habe, wieder aufzugreifen. Die Einkommensteuer betrage für 1930 3 Milliarden; davon entfielen 1500 Millionen auf die Lohnsteuer. Die Körperschaftssteuer könne nach seiner Meinung nicht herangezogen werden, weil dies in den Kreisen der Wirtschaft neue Unruhen verursachen werde. Bis Mittwoch könne nach seiner Meinung eine Basis im Kabinett geschaffen werden. Wenn der Reichstag dann dem Beschluß des Kabinetts nicht folge, dann käme nur die Auflösung des Reichstags in Frage. Es müsse sodann mit dem Artikel 48 der Reichsverfassung regiert und alle die staatsnotwendigen Maßnahmen getroffen werden.

Der Reichskanzler erklärte sich damit einverstanden, daß der Reichsminister der Finanzen bis Mittwoch abschließende Vorschläge mache. Auch er werde mit seinen Freunden Fühlung nehmen, damit das Reichskabinett nicht völlig von den Parteien desavouiert werde. Voraussetzung sei aber eine Einigung im Kabinett. Neben den Differenzen mit der Volkspartei bestehe aber auch die Verlautbarung des Zentrums zu den Young-Gesetzen, die hinsichtlich der Verabschiedung dieser Gesetze auch gewisse Schwierigkeiten mit sich bringen werde5. Sei die Geschlossenheit des Kabinetts nicht zu erzielen, dann käme nur die Demission des Gesamtkabinetts in Frage. Das sei die Feststellung einer Tatsache, an der man nicht vorübergehen könne. Was die Auflösung des Reichstags angehe, so erfordere die Auflösung die Zustimmung des Herrn Reichspräsidenten. Er habe dieserhalb mit dem Herrn Reichspräsidenten noch nicht gesprochen. Er könne sich aber vorstellen, daß der Herr Reichspräsident nicht seine Zustimmung gebe. Ein Rumpfkabinett (z. Beispiel auf Grundlage der Weimarer Koalition) komme für ihn nicht in Frage6.

5

Siehe Dok. Nr. 426, P. 2.

6

Zur parteipolitischen Lage war dem RK von StS Pünder nach einem Gespräch mit Brüning mitgeteilt worden: „Im weiteren Verlauf meiner Besprechung mit Herrn Dr. Brüning teilte mir dieser für mich persönlich – dann aber auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin auch zur Weitergabe an den RK – mit, daß nach seiner recht intimen, aber völlig zuverlässigen Orientierung die Deutsche Volkspartei seit kurzer Zeit ganz klar auf eine Sprengung des Kabinetts hinarbeite; ihr Ziel sei eine Minderheitsregierung der bisherigen Regierungsparteien ohne die Sozialdemokratie. Der Plan sei gewesen, eine solche Minderheitsregierung einige Monate ohne zu starke Belastung möglichst an der Arbeit zu lassen, da bis dahin der weitere Plan für die Gründung der neuen ‚Staatspartei‘ unter Führung des früheren RK Dr. Luther perfekt sein werde. Die letzten Pläne seien vorgestern Abend im engsten Kreise unter Beteiligung von maßgebenden Persönlichkeiten von Koch-Weser bis Treviranus – beide einschließlich – durchgesprochen worden. – Auf Grund vorstehender Mitteilung ist auch die Beantwortung meiner an Herrn Brüning gestellten Frage, wie sich wohl das Zentrum zu einer etwaigen Minderheitsregierung ohne die Deutsche Volkspartei stellen werde, ganz klar: Herr Dr. Brüning antwortete nämlich mit dem Hinweis, daß dies keine Frage des Zentrums sei, sondern der Demokraten. Nach den vorangegangenen vorerwähnten Besprechungen, die unter engster Beteiligung des Herrn Abgeordneten Koch-Weser stattgefunden hätten, halte er es für ganz ausgeschlossen, daß die Demokraten im gegenwärtigen Augenblick sich an der Weimarer Koalition beteiligen würden, um eben nicht ihr höheres Ziel, nämlich die Gründung der ‚Staatspartei‘ zu gefährden“ (1.3.30; SPD: Nachlaß Müller  O III; abgedruckt bei R. Morsey, „Neue Quellen zur Vorgeschichte der Reichskanzlerschaft Brünings“, als Dok. Nr. 3, S. 216 f.).

[1522] Der Reichsminister der Finanzen schloß sich dieser Auffassung des Reichskanzlers an. Er freue sich, daß der Reichsarbeitsminister seinen Gedankengängen über die Sanierung der Arbeitslosenversicherung gefolgt sei. Über die Frage der Beitragserhöhung werde sich sicherlich eine Verständigung im Kabinett finden lassen. Allerdings müsse er betonen, daß letzten Endes nicht der Reichsarbeitsminister allein über die Frage der Erhöhung der Beiträge zu bestimmen habe. Mindestens müsse seine Zustimmung eingeholt werden. Der Vorstand könne nach seiner Meinung ermächtigt werden, die Beiträge bis zu ½% zu erhöhen oder die Leistungen anderweit festzusetzen. Die erwähnte Besitzabgabe könne zur Bildung des Notstockes herangezogen werden. Dieser Notstock soll aber erst dann eingreifen, wenn nicht andere Mittel zur Deckung der Ausgaben der Arbeitslosenversicherung bereitgestellt werden könnten. Die Besitzabgabe müsse in der Hauptsache zur Deckung des Finanzbedarfs herangezogen werden. Er sei bereit, den Entwurf eines Gesetzes über die Steuersenkung pp. morgen den Ministern zuzuleiten, und in einer morgigen Ministerbesprechung zur Debatte zu stellen7. Den Rest der dann noch anstehenden Fragen könne er allerdings erst am Mittwoch zur Diskussion im Kabinett bringen.

7

Der GesEntw. lag erst am 5. 3. vor (R 43 I /2363 , Bl. 83-115, hier: Bl. 83-115).

Der Reichsminister der Justiz führte aus, daß er die politische Lage ebenso beurteile wie der Reichskanzler. Er halte es für unbedingt notwendig, daß das Kabinett morgen zusammentrete. Zur Frage des Ermächtigungsgesetzes wolle er nur sagen, daß er hiergegen gewisse Bedenken habe, weil im Reichstag die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht zu erreichen sein werde. Die Anwendung des Art. 48 der Reichsverfassung halte er für sehr bedenklich, weil hiermit dem Herrn Reichspräsidenten die Verantwortung zugewiesen werde. Hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung habe er ebenfalls Bedenken, daß die letzte Entscheidung über die Beitragserhöhung dem Kabinett zugewiesen werde, da es sich hier um eine politische Entscheidung von ungeheurer Tragweite handle. Er sei bereit, jeden gangbaren Weg mitzumachen.

Der Reichsminister des Innern führte aus, daß er sich nicht für die sofortige Anwendung des Art. 48 der RV ausgesprochen habe.

[1523] Der Reichsverkehrsminister ergänzte noch seine Ausführungen dahin, daß es endlich gelingen müsse, die Regelung der Arbeitslosenversicherung aus dem politischen Kampf herauszubekommen. Daher trage er auch Bedenken, späterhin die Entscheidung im Kabinett zu treffen.

Am Schluß der Ministerbesprechung war man sich darüber einig, daß in dem heutigen Communiqué gesagt werde, daß das Kabinett die Deckungsvorschläge 1930 beraten habe und die Verhandlungen über die Steuergesetze und die Steuersenkung für 1931 morgen fortsetzen werde. Es herrschte Übereinstimmung darüber, daß die Aussprache am Dienstag, den 4. März nachmittags 4 Uhr fortgesetzt werden soll8.

8

Siehe Dok. Nr. 460, P. 2.

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