1.204.2 (mu22p): 2. Deckungsvorschläge zum Haushalt 1930.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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2. Deckungsvorschläge zum Haushalt 1930.

Der Reichsminister der Finanzen setzte auseinander, daß er noch einmal die aufgetauchten Fragen durchgearbeitet und mit seinen Freunden durchgesprochen habe. Nach seiner Meinung sei zunächst das Wichtigste, die außenpolitischen Ziele zu erreichen. Selbstverständlich müsse man auch die anderen Fragen klären. Nach seiner Meinung handele es sich gegenwärtig um drei wichtige Fragen:

1. Die Frage der Arbeitslosenversicherung.

In dieser Beziehung sei eine gewisse Annäherung erfolgt.

2. Die Frage der Steuersenkung für 1931 und

3. die Geste des Notopfers, die Geste des Besitzes.

Hierbei bleibe vorläufig noch offen, wem dieses Opfer zu gute kommen solle. Es habe sich bei dem Notopfer zunächst darum gehandelt, eine Regelung zu finden, die keine Förderung der Kapitalflucht zur Folge habe und den Unternehmergeist nicht störe. Eine Reihe von Vorschlägen sei gemacht worden. Abgesehen von dem Notopfer der Festbesoldeten, das als erledigt anzusehen sei, sei nunmehr die Frage von Zuschlägen zur Vermögenssteuer aufgetaucht. Solche Zuschläge halte er aber für unmöglich5. Dann sei die Frage entstanden, zu der Einkommensteuer einen allgemeinen Zuschlag zu erheben, und hierbei sei wiederum der Vorschlag gemacht [worden], die höheren Einkommen mit einer Zwangsanleihe zu belasten. Eine Zwangsanleihe halte er für ganz untragbar, weil sie nach seiner Meinung das letzte Ausfluchtsmittel eines Staates sei, der keinen Kredit mehr habe. Zuschläge zur Einkommensteuer zu erheben mit der Maßgabe, daß die Beträge im nächsten Jahr zur Anrechnung kämen, seien auch nicht tragbar, da solche Anrechnungen wegen der Verwaltungsarbeit mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden seien. Organisch sei ein Zuschlag zur Einkommensteuer ohne Anrechnung. Dieser Gedanke stoße aber auf ungeheuere Schwierigkeiten in seiner Partei, weil er eine Erhöhung weiterer direkter Steuern[1528] bedeute. Die Hauptbedenken lägen auf politischem Gebiet, zumal die Wirtschaft nach seinen Feststellungen eine weitere Besitzabgabe schwer tragen könne. Außerdem habe er keine Hoffnung, seine politischen Freunde für einen solchen Vorschlag zu gewinnen. Aus all diesen Erwägungen heraus habe er sich überlegt, ob nicht noch ein anderer Weg gefunden werden könne, um zu einem Opfer des Besitzes zu gelangen. Nach Rücksprache mit den Vertretern der Bank für die Industrieobligationen habe er sich als Ausweg vorgesehen, für 1930 die Aufbringungslast der Industrie auf 350 Millionen RM zu erhöhen6. Auf diesen Betrag von 350 Millionen sollte aus dem Reservefonds von 120 Millionen RM, der im Besitz der Bank sei, 75 Millionen verrechnet werden. Auf diesem Wege solle weiterhin ein Notstock für die Erwerbslosenversicherung in Höhe von 50 Millionen RM gebildet werden. Eigentlich müsse nach Annahme der Young-Gesetze die Industriebelastung wegfallen. Die weitere Behandlung bedeute eine Belastung der besitzenden Klassen.

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Am Vortag war in einer Unterredung zwischen dem RFM, Schäffer und MinDir. Zarden festgestellt worden, eine Neuveranlagung der Vermögenssteuer werde 100 Mio RM weniger RM einbringen. „Man müßte 20% zuschlagen, um die fehlenden 100 Millionen hereinzuholen“ (Tagebuch Schäffers, 3.3.30; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

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Die Unterredung hatte mit Bücher und Lammers stattgefunden (Tagebuch Schäffers, 4.3.30; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

Auf eine Zwischenfrage des Reichsministers der Justiz legte Staatssekretär Dr. Schäffer dar, daß es ursprünglich die Absicht gewesen sei, die Industriebelastung in Höhe von 250 Millionen RM für den Etat 1930 aufrecht zu erhalten. Diese Summe habe man auf Grund der letzten Beratung im Kabinett um 50 Millionen heraufgesetzt, also auf 300 Millionen erhöht. Nach dem neuen Vorschlage trete eine weitere Erhöhung um 50 Millionen auf 350 Millionen ein, mit der Maßgabe, daß auf diesen Betrag von 350 Millionen 70 Millionen aus dem Reservefonds angerechnet würden, so daß der wahre Betrag, der von der Industrie aufzubringen sei, 280 Millionen betrage. Aus der Last von 350 Millionen sollten 50 Millionen für die Arbeitslosenversicherung bereitgestellt werden.

Auf Grund dieser Auskunft stellte der Reichsminister der Justiz fest, daß nach diesem neuen Vorschlag die Industrie um weitere 30 Millionen belastet werde.

Hierzu bemerkte der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft daß materiell die Industrie tatsächlich um weitere 100 Millionen geschröpft werde.

Der Reichsarbeitsminister richtete an den Reichsminister der Finanzen die Frage, wie nun die Regelung bei der Arbeitslosenversicherung abschließend gedacht sei.

Der Reichsminister der Finanzen beantwortete die Frage dahin:

a) 150 Millionen Zuschuß durch den Verkauf der Vorzugsaktien an die Versicherungsträger (Invalidenversicherung und Angestelltenversicherung),

b) Zurverfügungstellung weiterer Mittel durch Einräumung einer Autonomie an die Reichsversicherungsanstalt für Arbeitslosenversicherung, um den verbleibenden Differenzbetrag in Höhe von 100 Millionen zu decken. Hierbei sei zunächst vorgesehen, den Vorstand zu ermächtigen, die Beitragssätze bis um[1529] ½%, also auf 4% zu erhöhen. Weitere Ersparnisse sollten durch Herabsetzung der Leistungen auf Grund eines Beschlusses des Vorstandes eintreten. Soweit die erforderlichen Beschlüsse von dem Vorstand nicht gefaßt würden, solle das Reichskabinett letzten Endes entscheiden.

c) Überweisung eines Notstockes von 50 Millionen, die bei besonders großer Arbeitslosigkeit in Angriff genommen werden können, wenn es dem Vorstand nicht gelingt, den offenen Differenzbetrag zu decken.

Der Reichsarbeitsminister legte demgegenüber dar, daß er befürchte, daß diese Regelung bei weiterer Steigerung der Arbeitslosigkeit nicht ausreichen werde. Er bat den Reichsminister der Finanzen, ihm die Frage klar zu beantworten, ob die Zuschußpflicht des Reichs gesetzlich bestehen bleibt.

Demgegenüber antwortete der Reichsminister der Finanzen daß die bisherige gesetzliche Zuschußpflicht nicht unbeschränkt bestehen bleiben könne, er beabsichtige, sie zu beschränken auf den Betrag von etwa 270 Millionen. Sein Vorschlag stelle seines Erachtens der Reichsanstalt so hinreichende Mittel zur Verfügung, daß mit dem Betrag ausgekommen werden müsse. Im ganzen stelle er nach seinem neuen Vorschlag der Reichsanstalt einen Betrag von 305 Millionen zur Verfügung. Noch größere Sicherheiten könne es nicht geben. Würde die Arbeitslosigkeit sich weiterhin verschärfen, so müssen eingreifendere Maßnahmen überhaupt vorgesehen werden. In einer solchen ernsten Situation werde man auch nicht darum herumkommen, die Beamtengehälter, wenn auch nur um 5% herabzusetzen. Eine solche Herabsetzung in äußerster Not, an die er zur Zeit gar nicht denke, werde etwa 500 Millionen ergeben.

Der Reichsarbeitsminister erwiderte, daß er es bereits in der gestrigen Ministerbesprechung abgelehnt habe, die Herabsetzung der Leistungen der Beschlußfassung des Vorstandes zu überlassen7. Diesen Weg könne er auf keinen Fall mitgehen; andererseits könne er es nicht verantworten, die Darlehenspflicht des Reichs zu begrenzen. Kein verantwortungsvoller Minister könne einem solchen Vorschlage seine Zustimmung geben. Außerdem käme auch für ihn eine Verständigung auf eine Globalsumme für das Jahr 1931 nicht in Frage.

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Siehe Dok. Nr. 458, P. 1.

Der Reichsminister des Innern betonte in Ergänzung dieser Ausführungen, daß es letzten Endes auf die Formulierung der Vorschläge ankomme, um Schaden zu verhindern. Auch nach seiner Meinung dürfe man nicht ohne weiteres an den Leistungen rütteln. Wenn man aber die vom Reichsminister der Finanzen in den Etat eingesetzten Beträge für die Arbeitslosenversicherung in Betracht ziehe, und wenn man berücksichtige die Bildung eines Notfonds, so seien nach seiner Meinung doch ausreichende Mittel vorhanden, um die Arbeitslosenversicherung sicherzustellen. Allerdings sei es ihm, auch vom Standpunkt der Wirtschaft aus gesehen, lieber gewesen, einen Zuschlag zur Einkommensteuer in Höhe von 10% einzuführen, als den neuen Vorschlag mitzumachen, den der Reichsminister der Finanzen heute vorgetragen habe.

[1530] Der Reichsminister der Finanzen stellte noch einmal fest, daß er insgesamt 305 Millionen der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung im Etat 1931 bereit halte, nämlich

150 Millionen

Verkauf von Vorzugsaktien,

70 Millionen

Beitragserhöhung um ¼% vom 1. 4. ab,

35 Millionen

abermalige Beitragserhöhung um ein weiteres Viertel vom 1. Oktober ab, und schließlich

50 Millionen

Notstock

zus.: 305 Millionen.

Ziehe man hierbei in Erwägung die vom 1. Januar dieses Jahres eingetretene Erhöhung der Beiträge um 1%, so kämen weitere 140 Millionen für das Etatsjahr 1931 in Betracht, so daß im Verhältnis zum Etatsjahr 1929 seiner Meinung nach alles geschehen sei, um eine gewisse Gewähr für die Durchführung der Arbeitslosenversicherung zu haben8.

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Anschließend führte der RArbM aus: „Das Wort ‚Reform der ALV‘ hat im Herbst die schwersten Verheerungen in der Agitation der Kommunisten eingebracht. Das ‚Gesicht zu wahren‘ gegenüber den Kommunisten ist besonders wichtig. Die Erhöhung der Beiträge um (soll wohl heißen ‚auf‘) 3¾% sollte gleich ins Gesetz hereinkommen“ (Tagebuch Schäffers, 4.3.30; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

Der Reichsarbeitsminister brachte sodann die bei den früheren Beratungen nicht erledigte Frage der Ausgestaltung der Produktiven Erwerbslosenfürsorge im Etatsjahr 1930 zur Sprache.

Staatssekretär Dr. Schäffer berichtete, daß inzwischen mit dem Bankhaus Schröder in London wegen Hergabe von Auslandsgeldern für diesen Zweck Verhandlungen geführt worden seien. Der Seniorchef des Bankhauses, Baron Schröder, habe der Angelegenheit großes Interesse entgegengebracht, habe die Durchführbarkeit des Projektes jedoch von der zukünftigen Entwicklung des Geldmarktes abhängig gemacht. Es sei daher anzunehmen, daß man erst im Spätsommer zum Abschluß gelangen werde. Für das Rechnungsjahr 1930 müsse also an der bisherigen Regelung festgehalten werden. Der bisher vorgesehene Betrag von 55 Millionen RM sei in den Etat des Reichsarbeitsministeriums eingestellt worden.

Der Reichsarbeitsminister wiederholte demgegenüber seine früheren Darlegungen über die Unzulänglichkeit dieses Betrages von 55 Millionen RM und hielt seine weitergehenden Ansprüche aufrecht.

Der Reichsminister der Finanzen skizzierte sodann in großen Zügen sein in Vorbereitung befindliches Programm der Finanzreform. Er kündigte den Entwurf eines Gesetzes zur Senkung der Einkommensteuer sowohl durch Heraufsetzung des steuerfreien Einkommensteils und Verbesserung der Kinderermäßigungen als auch durch Herabsetzung und Auseinanderziehung des Tarifs an. Ferner bemerkte er, daß die Lex Brüning durchgreifend geändert werden solle. Durch eine besondere gesetzliche Bestimmung solle weiterhin festgelegt werden, daß die laufenden Ausgaben des Etatsjahres 1931 sich unter der entsprechenden Summe für 1930 halten müssen. Die Lohnsteuererstattung, die bisher große[1531] Verwaltungsunkosten verursacht habe, solle aufhören. Der dadurch ersparte Betrag solle jedoch nicht zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs Verwendung finden, vielmehr in Form eines Ablösungsbetrages der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung überwiesen werden. Im übrigen stellte der Reichsminister der Finanzen eine schriftliche Festlegung seines Programms für den kommenden Tag in Aussicht9. Auf Vorschlag des Reichskanzlers wurde von einer Erörterung dieses Programms vorerst Abstand genommen, da eine Stellungnahme und Beschlußfassung erst dann möglich erschien, wenn das Programm schriftlich vorliegt.

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Siehe Dok. Nr. 461.

Der Reichskanzler gab dem Reichskabinett anschließend Kenntnis von einem Brief, den der Reichsbankpräsident Dr. Schacht am 3. März an den Herrn Reichspräsidenten gerichtet hat. In diesem Brief setzt Dr. Schacht nochmals seine ablehnende Haltung gegenüber dem Ergebnis der Haager Konferenz auseinander und kündigt unter eingehender Begründung für den Fall der Ratifizierung des Haager Abkommens an, daß er für seine Person kaum in der Lage sein werde, die Verantwortung für die künftige Entwicklung der Dinge weiter zu tragen. Aus diesem Grunde trage er sich mit der Absicht, die zuständigen Gremien der Reichsbank zu bitten, ihm nach der Ratifizierung des Young-Planes eine frühere Lösung aus seinen Verpflichtungen gegenüber der Reichsbank zu ermöglichen. Der Reichskanzler bat dringend, diese Mitteilung einstweilen strengstens vertraulich zu behandeln.

Staatssekretär Dr. Meissner erklärte, daß der Herr Reichspräsident die Absicht habe, den Reichsbankpräsidenten wegen dieses Briefes zu sich zu bitten, um ihn zum mindesten zu veranlassen, die Begründung seiner Haltung nicht in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. In erster Linie werde der Herr Reichspräsident den Reichsbankpräsidenten allerdings bitten, zur Vermeidung von Beunruhigungen in der Öffentlichkeit des In- und Auslandes bis auf weiteres im Amte zu bleiben. Wenn dieser Appell keinen Erfolg haben sollte, werde der Herr Reichspräsident zu erreichen versuchen, daß der Rücktritt in einer möglichst wenig aufsehenerregenden Form erfolgt.

Der Herr Reichspräsident habe auch den Wunsch, sich vor dieser Unterredung mit Dr. Schacht am kommenden Tage mit dem Reichskanzler über die Angelegenheit auszusprechen.

Der Reichskanzler erwiderte, daß er sich am Vormittage des 5. März zum Herrn Reichspräsidenten begeben werde.

Die Weiterberatung über die Deckungsvorschläge zum Etat 1930 wurde daraufhin auf Mittwoch, den 5. März vormittags 11 Uhr vertagt10.

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Siehe Dok. Nr. 462.

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