1.206.1 (mu22p): Deckungsvorschläge zum Haushalt 1930.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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Deckungsvorschläge zum Haushalt 1930.

Dem Reichskabinett lag das Schreiben des Reichsministers der Finanzen vom 5. März 1930 […] nebst Anlage I–VIII vor1.

1

Siehe Dok. Nr. 461.

Auf Vorschlag des Reichskanzlers erörterte das Kabinett zunächst, in Fortsetzung der am Vortage abgebrochenen Beratungen über den gleichen Gegenstand, die Anlage VIII der Vorlage, betreffend Programm für ein Gesetz zur Vorbereitung der Finanzreform.

Artikel I. Sicherung der Arbeitslosenversicherung.

In einer vorausgegangenen Chefbesprechung zwischen dem Reichsminister der Finanzen und dem Reichsarbeitsminister war grundsätzliches Einverständnis darüber erzielt worden, daß dem Vorstand der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung das Recht zur Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung übertragen werden solle. Mit dem weitergehenden Gedanken, nochmals gesetzlich besonders festzulegen, daß der Vorstand auch das Recht zu Ersparnismaßnahmen haben solle, hatte der Reichsarbeitsminister sich jedoch nicht abfinden können2.

2

Dazu heißt es in Schäffers Tagebuch: „Früh mit Wissell und dem Minister [Moldenhauer] beraten. Der Minister verzichtet auf die Begrenzung der Darlehnspflicht des Reiches. Er erklärt sich weiter damit einverstanden, daß im Falle einer Nichteinigung (im Vorstand der Reichsanstalt) das Recht der RReg. sich auf die Erhöhung der Beiträge beschränkt, also nicht, noch die Leistungen herabzusetzen. Dagegen ist noch keine Einigung darüber da, ob die Reichsanstalt die Leistungen drücken kann, obgleich die Arbeitnehmer auch bei so etwas zustimmen müßten“ (5. 3.; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

[1536] Nach längerer Beratung beschloß das Reichskabinett, dem Artikel I des Gesetzes zur Vorbereitung der Finanzreform folgende Fassung zu geben3:

3

Zum Ablauf der Beratungen notierte Schäffer: „Wissell sagt, die bloße Erwähnung der Änderung beunruhigt sie [Arbeitnehmer] und gibt den Kommunisten Wasser auf die Mühle. Praktisch kommt eine Minderung nicht in Frage. Man soll dann gar nicht erst versuchen, sie vorzubringen. Severing: Wenn der Vorstand der Reichsanstalt auch eingeladen wird, etwas an den Leistungen zu ändern, ist eine Einigung nicht möglich. Ich kann das auch nicht in der Fraktion vertreten. Ich habe heute die Überzeugung nicht mehr, daß diese Notgemeinschaft des Kabinetts noch einige Zeit aufrechterhalten wird und kann darum die Dinge nur unter politischen Gesichtspunkten werten. – Ich bin nicht in der Lage, die festen Vorschriften (gedacht ist an ‚Etatsbegrenzung‘) für das Jahr 1931 mitzumachen. Es müßte deswegen nur allgemein der Sparwille zum Ausdruck gebracht werden. Auch die Bindung an den plafonds ist unmöglich. Die Auflösung der Notgemeinschaft schließe ich aus den Beschlüssen der Volkspartei vom vergangenen Sonntag [2. 3.]. Moldenhauer: Das Notopfer des Besitzes ist in sehr weitgehender Form erfüllt. Ich bewege mich durchaus in den Grenzen des Hilferdingschen Programms, von dem ich nicht abweichen möchte. Dietrich: Wenn wir nicht weiterkommen, muß die Regierung in die Luft fliegen. Das kann man aber aus Gründen der Allgemeinheit nicht verantworten: Stegerwald: Der Gedanke der Notgemeinschaft hat durch die Vorgänge der letzten Woche einen Stoß erlitten. Ich habe eine Denkschrift verfaßt, die alle kurzfristigen Kredite, die Handels- und die Tarifverträge in langfristige verwandelt. Von der Stabilitätsseite muß gearbeitet werden, um die Arbeitslosen wieder in den Prozeß einzugliedern. Die Erwähnung der anderen Festlegung der Leistungen könnte man durch ‚Sparmaßnahmen‘ ersetzen. Steuersenkungen müssen alsbald für 1931 vorgesehen werden. Über Formulierungen muß man sprechen können. Moldenhauer: Durch mein Entgegenkommen gegen Wissell und durch die Bereitstellung erheblicher Mittel für die Arbeitslosenfürsorge habe ich bewiesen, daß ich an dem Gedanken der Notgemeinschaft festhalte. Ich würde auch den Ersatz der ‚Änderung der Leistungen‘ durch ‚Ersparnis-Maßnahmen‘ konzedieren. Für die gesetzliche Festlegung der Senkung der Einkommensteuer kann ich eintreten, weil ja die Beträge innerhalb sicherer Ersparnismöglichkeiten für 1931 bleiben (gedacht ist an die Verminderung der Reparationsleistungen nach dem Young-Plan gegenüber den Ziffern des Dawes-Planes). Das Senkungsprogramm für die Einkommensteuer ist ja von den Parteien anerkannt worden. Es besteht auch eine Aktennotiz des RK, nach der die Parteien sich verpflichten, alsbald nach Weihnachten ein Einkommensteuergesetz durch Initiativ-Gesetz vorzulegen. Ich habe alle anderen schwierigen Fragen, zu denen ich gedrängt wurde, zurückgestellt, z. B. den beweglichen Faktor. (Es handelt sich wahrscheinlich um die Einfügung eines beweglichen Faktors für die von den Ländern zu legenden Realsteuern, insbesondere der Gewerbesteuer.) Die tatsächliche Ausgabenbeschränkung halte ich für wichtig. Die Parteien wollen wieder im nächsten Jahr aus dem Vollen wirtschaften. Wir müssen sagen, es geht nicht mehr so weiter. Wir können über ein Jahr ordentliche Finanzen haben, Aufstieg der Wirtschaft und Überwindung der Arbeitslosigkeit. Auch ein Kabinett ohne Sozialdemokraten müßte die gleichen sozialen Aufwendungen machen. Wenn wir zusammenstehen, können wir alle diese Fragen meistern. Sonst wird der Versuch scheitern oder im Chaos enden. Wenn wir auseinandergehen, sehe ich kaum eine Möglichkeit, über den ultimo März hinwegzukommen. Severing: Der Glaube, daß wir die moralische Unterstützung der breiten Teile haben, ist mir in den letzten Tagen abhanden gekommen. Ich habe mich gefragt, ob es richtig ist, alsbald Klarheit zu schaffen oder das Kabinett noch längere Zeit hingehen zu lassen. Wir dürfen nicht den Arbeitern die Hoffnung rauben durch das Plafonds-Gesetz. Moldenhauer: Die Etats-Beschränkungen sind nur ein ‚Soll‘-Gesetz. Hier wird über die Fassung noch Einigung zu finden sein. Severing: Die Programmpunkte Hilferdings habe ich mitgemacht, aber seitdem hat sich doch einiges ereignet. Wir wissen nicht, was in diesem Jahr noch kommt. Gegenüber dem Vermittlungsvorschlag Stegerwalds muß ich sagen, es dürfen nicht irgendwelche Leistungsänderungen überhaupt nur angedeutet werden. Jede Einladung muß unterbleiben, Ersparnismaßnahmen zu prüfen und durchzuführen. Wenn es gelingt, diese beiden Punkte zu überwinden, glaube ich, daß in der Arbeitsgemeinschaft noch zusammenzuarbeiten sein wird. Wissell: Herr Kollege Moldenhauer macht lauter Vorschläge, um das Gesicht zu wahren. Guérard: Das wollen wir doch alle. Moldenhauer: Ich schlage vor, eine Gesamtsumme für alle Minister, mit Möglichkeit zu wechseln. Groener: Halte das für keine Verbesserung. Reichskanzler Wir müssen zu einer Einigung kommen. Ich bin bereit, dies zu tun, auch gegen meine Fraktion. Moldenhauer: Wir müssen sparen, damit die Finanzen endlich in Ordnung kommen. Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie sich einen andern suchen. Groener: Ich bin nicht bereit, meine staatsrechtliche Stellung als Ressortminister aufzugeben, und zu dulden, daß der Etat vom RFM und dem Sparkommissar aufgestellt wird. Moldenhauer: Das ist schon heute rechtens. Ich will nur die Sicherheit der Senkung der Ausgaben haben. Guérard: Die Sache hat im wesentlichen eine politische Bedeutung“ (Tagebuch Schäffers, 5.3.30; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

Artikel I

Sicherung der Arbeitslosenversicherung.

§ 1

(1) Zum Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung kann der Vorstand der Reichsanstalt abweichend von § 153 Abs. 3 und § 245 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung den Beitrag zur Reichsanstalt einheitlich für das Reichsgebiet bis auf 4% des für die Bemessung maßgebenden Arbeitsentgelts[1537] festsetzen4 – § 161 Nr. 1,3 und 4 und § 163 des Gesetzes finden Anwendung5 – oder der Reichsregierung Vorschläge zur Reform der Arbeitslosenversicherung unterbreiten.

4

Die Paragraphen legen den Versicherungsbeitrag mit 3% des Arbeitslohnes fest (RGBl. 1927 I, S. 205  und 216 ).

5

Der Paragraph regelt das Vorgehen bei Erschöpfung des Notstocks und die Gewährung eines Darlehens durch den RArbM (RGBl. 1927 I, S. 206 ).

(2) Zu dem Beschluß ist die Mehrheit der Stimmen der Vertreter sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer erforderlich, die dem Vorstand angehören. Die Vertreter der öffentlichen Körperschaften wirken bei der Beschlußfassung nicht mit.

(3) Beschließt der Vorstand innerhalb einer Frist, die der Reichsarbeitsminister bestimmt, die notwendige Erhöhung nicht, so hat die Reichsregierung an Stelle des Vorstands über die Erhöhung Beschluß zu fassen. Anderweitige Festsetzung der Leistungen kann nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen.

§ 2

Dem Notstock der Reichsanstalt (§ 159 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) sind die folgenden Summen zuzuführen:

1.

50 Mio RM aus der Industrieaufbringungsumlage für 1930,

2.

das 1450 Mio RM übersteigende Lohnsteueraufkommen des Jahres 1930 bis zum Höchstbetrage von 30 Mio RM,

3.

vom Jahre 1931 ab ein Ablösungsbetrag für die Lohnsteuererstattung in Höhe von 60 Mio RM.

Artikel II. Änderung der Lex Brüning.

Bezüglich dieses Artikels beschloß das Kabinett nach längerer Aussprache folgende Fassung:

[1538] Artikel II

Das Gesetz über Beschränkung der Einnahmen aus der Lohnsteuer vom 3. September 1925 (Reichsgesetzbl. I S. 331) in der Fassung des Art. IV des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 22. Dezember 1927 (Reichsgesetzbl. I S. 485) erhält folgende Fassung:

§ 1

(1) Übersteigt das Aufkommen aus der Lohnsteuer im Rechnungsjahr 1929 oder in einem darauf folgenden Rechnungsjahre den Betrag von 1300 Millionen Reichsmark, so wird von dem Überschuß

a)

der Betrag bis zu 75 Millionen Reichsmark zur Erleichterung der knappschaftlichen Pensionsversicherung und zur Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit,

b)

der weitere Betrag bis zu 50 Millionen Reichsmark für den Ausbau und die Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Invalidenversicherung, dem Haushalt des Reichsministeriums überwiesen.

(2) Über die Verwendung und Verteilung des der knappschaftlichen Pensionsversicherung zukommenden Anteils bestimmt der Reichsarbeitsminister das Nähere.

Artikel III. Steuersenkung und Ersparnisse im Haushalt 1931.

Nach längerer Aussprache beschloß das Reichskabinett folgende Fassung:

Artikel III

§ 1

Der Reichsminister der Finanzen wird beauftragt, gemeinsam mit dem Reichssparkommissar ein langfristiges Sparprogramm aufzustellen, das die Grundlage für eine Steuersenkung schafft und für das Jahr 1931 die laufenden Ausgaben des ordentlichen Haushalts unter denen des Jahres 1930 hält.

§ 2

Soweit Ausgaben wegfallen oder gekürzt werden können, sind die hierdurch eintretenden Ersparnisse – mindestens 600 Millionen RM – im Sinne des Finanzprogramms der Reichsregierung vom 12.12.1929 für Steuersenkungen zu verwenden.

Bei der Beratung über das Programm für ein Gesetz zur Vorbereitung der Finanzreform hatte auch der vom Reichsminister der Finanzen in Anlage VII der Vorlage vorgesehene Entwurf eines Gesetzes zur Senkung der Einkommensteuer eine starke Rolle gespielt. Der Reichsminister der Finanzen hatte ausgeführt, daß sich der Entwurf inhaltlich mit der ersten Etappe der in Ziffer 1 des Finanzprogramms der Reichsregierung vom 9. Dezember bereits beschlossenen Senkung der Einkommensteuer decke6.

6

Siehe Dok. Nr. 374, P. 2.

Der Reichskanzler erklärte den Gesetzentwurf auf Grund der Aussprache für angenommen.

[1539] [Die Anlagen I–VI werden angenommen.]

Nach Schluß der Abstimmung stellte der Reichskanzler mit Billigung des Reichskabinetts fest, daß nunmehr auch der Etat 1930 als vom Kabinett verabschiedet angesehen und mithin vom Reichsminister der Finanzen den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet werden könne7.

7

Zur Zuleitung an den RT siehe RT-Drucks. Nr. 1755 , 1756, 1758 und 1763 in Bd. 440 und RT-Drucks. Nr. 1919 und 1938 in Bd. 441 . Wegen der weiteren politischen Entwicklung wurde der Haushalt im RT erst am 24. und 28. 4. eingebracht (RT-Drucks. Nr. 1991 und 1993, Bd. 441 ).

Der Reichsarbeitsminister kam nochmals auf seinen in den vorausgegangenen Ministerbesprechungen wiederholt angemeldeten Anspruch auf Erhöhung des Ansatzes von 55 Millionen für die wertschaffende Arbeitslosenfürsorge zurück.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte eine Erhöhung des Betrages von 55 Millionen für nicht angängig.

Das Kabinett beschloß mit Stimmenmehrheit nach dem Antrage des Reichsministers der Finanzen8.

8

„Von den Sozialisten stimmt Robert Schmidt dagegen“ (Tagebuch Schäffers, 5. 3.; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

Ferner forderte der Reichsarbeitsminister die alsbaldige Verabschiedung seiner dem Kabinett seit längerer Zeit vorliegenden Vorlage, betreffend die Verbesserung der Kleinrentnerfürsorge.

Der Reichskanzler sagte zu, daß die Vorlage in der nächsten Ministerbesprechung erledigt werden würde9.

9

Siehe Dok. Nr. 467, P. 1.

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