1.228.1 (mu22p): Finanzfragen.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

Finanzfragen.

Der Reichskanzler eröffnete die Besprechung mit dem Hinweis, daß die Reichsregierung entscheidendes Gewicht auf eine schnelle Einigung der Parteien über die Verabschiedung der mit dem Reichshaushaltsplan zusammenhängenden Finanzfragen lege. Er unterschied 3 Hauptfragenkomplexe, nämlich

A. die Sicherung der Arbeitslosenversicherung,

B. die Steuersenkung und Ausgabenersparnis,

C. die Deckungsvorlagen zum Haushaltsplan 19301.

1

Interfraktionelle Besprechungen über die finanzpolitische Lage hatten am 17. und 18. 3. sowie am 25. 3. stattgefunden, ohne daß endgültige Vereinbarungen zwischen den Koalitionspartnern erzielt worden waren (Fraktionsprotokolle der DVP vom 17., 18. und 25. 3.; R 45 II /67 , Bl. 220 f., 221 f., 223, hier: Bl. 220 f., 221 f., 223).

Der Reichsminister der Finanzen berichtete kurz über die Behandlung der zu den vorgenannten 3 Fragenkomplexen gehörenden Gesetzesvorlagen durch den Reichsrat2.

2

Der RR hatte am 17. 3. die Steuer- und Zollvorlagen genehmigt; am 20. 3. war die Übergangsregelung zum Finanzausgleich angenommen und am 24. 3. waren Fragen zur Sanierung der ALV behandelt worden (MNN, 17., 21. und 25.3.30).

[1595] I. Die Aussprache begann mit der vorstehenden unter A genannten Sicherung der Arbeitslosenversicherung.

Zugrundegelegt wurde der Vorschlag der Regierung in der vom Reichsrat beschlossenen Fassung des Artikels 1 des Gesetzentwurfs zur Vorbereitung der Finanzreform, jedoch mit dem aus der Anlage I sich ergebenden Änderungen3.

3

Zur Fassung der Regierungsvorlage siehe Dok. Nr. 462, Die Neufassung siehe in Anlage I zu diesem Dokument.

Der Abgeordnete Breitscheid erklärte, daß seine Fraktion dem Artikel 1 des Gesetzentwurfs der Reichsregierung zustimme, jedoch die Änderungen in der vorgenannten Anlage I ablehne.

Der Abgeordnete Scholz erklärte, daß der Deutschen Volkspartei die Änderungen in der Anlage I nicht weit genug gingen. Sie lege entscheidendes Gewicht darauf, daß der Zwang zur inneren Reform der Arbeitslosenversicherung klar zum Ausdruck komme, und daß die Beitragserhöhung über 3½% von der Durchführung innerer Reform abhängig gemacht werde.

Die Vertreter des Zentrums, der Demokraten und der Bayerischen Volkspartei erklärten, daß sie sich trotz starker Bedenken im Interesse der Möglichkeit einer Einigung in den großen politischen Fragen mit den Änderungen der Anlage I abfinden wollten4.

4

Die Diskussion nahm nach Schäffers Aufzeichnungen folgenden Verlauf: „Brüning: Der zur Debatte stehende Vorschlag ist also von beiden Seiten abgelehnt worden. Eine sachliche Differenz zwischen der Regierungsvorlage und einem neuen Vorschlag besteht kaum. Die einmütige Meinung meiner Fraktion geht dahin, daß wir langsam etwas nervös werden über das Tempo und die Sachlichkeit der Verhandlungen. Über die Finanzierung der ALV sind nicht letzten Endes parteitaktische Erwägungen maßgebend. Viel wichtiger ist, daß wir zu irgendeinem Ergebnis in diesen Fragen kommen. Wenn es hier nicht zu einer Einigung kommt, ist auch vom Standpunkt der Arbeitnehmer die Situation sehr ungünstig. Entscheidend ist, daß das Vertrauen wieder hergestellt wird, daß Kapital einfließt und die Beschäftigung besteht. Das ist wichtiger als die Debatte über die letzten 50 Millionen. Wir befinden uns auf einem wirtschaftlichen und sozialen Irrweg. Meine Fraktion würde es nicht ruhig hinnehmen, daß wir noch einige Tage in diesen Debatten verbringen. Reichskanzler Innerhalb von 24 bis 48 Stunden muß die Frage erledigt sein. Moldenhauer gibt die genauen Ziffern an. Er schlägt vor ein Maximum (für die Beiträge) auf 4%, anderseits eine Änderung der Leistungen nur durch Gesetz. (Der Minister sagt (mir), es kommt doch zu keiner Einigung, weil die Volkspartei erfahren hat, daß der RPräs. dieser Regierung weder die Ermächtigung aus Art. 48 noch das Recht zur Auflösung gibt.) Esser spricht für die Vorschläge Moldenhauers. Er weist darauf hin, daß jede weitere Reform eine Mehrbelastung der Gemeinden herbeiführt. Vorschlag Breitscheids: Die sozialpolitischen Sachverständigen aller Fraktionen müßten hier eine gemeinsame Formulierung finden. Meyer: Wir müssen politisch entscheiden. Es kommt nicht auf die Formulierung, sondern auf den Inhalt an. Wir können die Dinge auf der Basis des heutigen Vorschlages erledigen, wobei man einfügen sollte, daß Verringerungen der Leistungen nur auf gesetzgeberischem Wege herbeigeführt werden können. Scholz: Entlastung der Wirtschaft ist das erste Ziel. Aber auch wir werden uns, wenn die ALV einen noch schlimmeren Verlauf nehmen wird, der Verpflichtung zu helfen nicht entziehen. Auch bezüglich der Reform denken wir nicht an viele hunderte von Millionen. Aber man darf nicht von vornherein den Reformwillen ungebührlich einschränken. Ich glaube, es kommt sonst nicht zu den Reformen, sondern nur zur Erhöhung der Beiträge. Warum sollen wir nicht den Druck auf die Reformen bestehen lassen? Wenn die Dinge nicht anders gehen, werden wir selbstverständlich, wie die anderen Parteien, die Mittel aufbringen. Für mich hängt die Frage mit unserem Ostproblem zusammen. Die Zusammendrängung in den großen Städten und die Entvölkerung des Ostens muß von diesem Punkte aus reformiert werden. Deswegen verstehe ich nicht die Versteifung gegen die Auffassung von der Notwendigkeit der Reformen. Wir wollen nur vorläufig nichts weiteres an Mitteln beschließen, weil sonst gar kein Druck auf die Reformen besteht. Reinhold: Obgleich ich Gegner der Beitragserhöhung bin, trete ich doch im Augenblick dafür ein, daß der Beitrag erhöht wird, weil für die Wirtschaft die Ruhe durch das Steuerprogramm viel wichtiger ist, als die Frage der ¼% Beitragserhöhung. Moldenhauer: Auch die Ostfrage läßt sich in diesem Rahmen beeinflussen, z. B. indem man dem Landarbeiter im ersten Jahr in der Stadt keine Unterstützung gibt“ (Tagebuch, 25. 3.; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

[1596] Da eine Einigung nicht zu erzielen war, machte der Abgeordnete Meyer den Vorschlag, in Ziffer 3 der Anlage I einzufügen, daß der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung für das Rechnungsjahr 1930 bis auf 3¾% erhöht werden könne. Ferner schlug er vor, der Ziffer 5 einen Satz zuzufügen, der zufolge eine allgemeine Änderung der Bindungen nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen könne.

Der Reichsminister der Finanzen schlug daraufhin vor, der weiteren Aussprache die Formulierung der Anlage II zu Grunde zu legen5, ohne indessen eine sofortige Zustimmung der Parteien erreichen zu können.

5

Anlage II stimmt wörtlich mit Anlage I überein in den Ziffern 1, 2 und 4. In Ziffer 3 lautet der letzte Satz abweichend: „Insoweit diese Maßnahmen nicht ausreichen, um den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben herbeizuführen, kann der Vorstand die Beiträge zur ALV für das Rechnungsjahr bis auf 3¾% erhöhen.“ In Ziffer 5 war der Satz angefügt: „Eine allgemeine Änderung der Leistungen kann nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen.“

II. Der Reichskanzler stellte sodann die Frage der Steuersenkung und Ausgabenersparnis zur Erörterung. Zugrundegelegt wurde Art. 3 des Gesetzentwurfs zur Vorbereitung der Finanzreform in der vom Reichsrat beschlossenen Fassung6.

6

Siehe dazu Dok. Nr. 462 und Anlage III zu diesem Dokument.

Während die Vertreter der Deutschen Volkspartei erklärten, daß die für Steuersenkungen im Rechnungsjahr 1931 vorzusehende Summe von 600 bis 700 Millionen M erhöht werden müsse, sprachen sich die Vertreter der Sozialdemokratischen Fraktion entschieden gegen die Festlegung einer bestimmten Summe aus. Sie führten aus, daß auch sie in gleichem Maße wie die übrigen Parteien Ersparnisse erzielen wollten, daß es ihnen aber angesichts der Unübersehbarkeit der Entwicklung der Dinge untunlich erscheine, einen Zwang zur Einhaltung bestimmter Summen in das Gesetz aufzunehmen.

Übereinstimmend waren die Fraktionen der Auffassung, daß einer Senkung der Gewerbesteuer der Vorrang vor Senkung anderer Steuern einzuräumen sei.

Auf Grund der Aussprache legte der Reichsminister der Finanzen den in Anlage III formulierten Vorschlag fest.

Die Parteien behielten sich ihre endgültige Stellungnahme zu dem Vorschlage vor.

III. Zum Schluß wurde die Frage der Deckungsvorlagen für den Reichshaushaltsplan 1930 kurz durchgesprochen.

Auf Grund dieser Aussprache stellte der Reichskanzler fest, daß eine Einigung der Parteien über die Deckungsvorlagen ohne allzu große Schwierigkeiten in Aussicht genommen werden könne, wobei allerdings auf eine Zustimmung der Bayerischen Volkspartei zur Biersteuer-Erhöhung nicht gerechnet werden könne.

[1597] Da somit eine Einigung der Parteien noch nicht festgestellt werden konnte, erklärte der Reichskanzler daß er den Fraktionen nochmals Zeit lassen wolle, insbesondere zu den in Anlage II und III formulierten Vorschlägen abschließend Stellung zu nehmen. Er ließ jedoch keinen Zweifel darüber, daß die Entscheidung der Parteien unter allen Umständen am folgenden Tage erfolgen müsse. Wenn die Einigung am folgenden Tage nicht erreicht werde, werde das Reichskabinett unverzüglich zusammentreten, um die durch die parlamentarische Lage notwendig werdenden Beschlüsse zu fassen7.

7

Brüning hatte – Schäffers Notizen zufolge – am Schluß der Besprechung erklärt: „Der Steuerausschuß soll morgen vertagt werden, weil entweder Generaldebatte oder Biersteuer anstehen. Das ist zu gefährlich. Wir brauchen die Zeit morgen zu einer Einigung zwischen den Parteien. Morgen muß die Einigung werden. Wir bitten um Tagung unter Vorsitz des Herrn RK. Wenn wir morgen nicht zu einer Einigung kommen, sind wir gezwungen, die politischen Konsequenzen zu ziehen. Reichskanzler Werden Fraktionssitzungen unter meinem Vorsitz Sinn haben?“ (Tagebuch, 25. 3.; Institut für Zeitgeschichte ED 93).

Die Besprechung wurde daraufhin auf Mittwoch, den 26. März nachmittags 4 Uhr vertagt8.

8

Siehe Dok. Nr. 486.

Anlage I [Durchschrift]

Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wird nach Maßgabe der folgenden Richtlinien geändert:

1. Kann der Bedarf der Reichsanstalt aus den Beiträgen und aus dem Notstock nicht völlig gedeckt werden, obwohl der Beitrag rechtzeitig, einheitlich für das Reichsgebiet festgesetzt ist, so gewährt das Reich Zuschüsse, deren Höhe alljährlich im Reichshaushalt festgesetzt wird.

2. Der Reichszuschuß für das Rechnungsjahr 1930 beträgt 150 Millionen Reichsmark.

3. Um den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben der Reichsanstalt herbeizuführen, hat der Vorstand der Reichsanstalt die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Er kann dabei auch von den Vorschriften des Gesetzes abweichen, darf jedoch eine allgemeine Herabsetzung oder Verkürzung der Leistungen nicht vornehmen. Insoweit diese Maßnahmen nicht ausreichen, um den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben herbeizuführen, kann der Vorstand die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhöhen.

4. Zu einem solchen Beschluß des Vorstandes ist die Mehrheit der Stimmen der Vertreter sowohl der Arbeitgeber wie auch der Arbeitnehmer erforderlich, die dem Vorstand angehören. Die Vertreter der öffentlichen Körperschaften wirken bei der Beschlußfassung nicht mit.

5. Beschließt der Vorstand innerhalb einer Frist, die die Reichsregierung bestimmt, die notwendigen Maßnahmen oder Beitragserhöhungen nicht, so hat die Reichsregierung anstelle des Vorstandes darüber Beschluß zu fassen.

Anlage II […]

[1598] Anlage III [Durchschrift]

1. Das Prinzip der Steuersenkung ist durch eine gesetzliche Vorschrift folgenden Inhalts festzulegen:

„Der Reichsminister der Finanzen wird beauftragt, gemeinsam mit dem Reichssparkommissar ein langfristiges Sparprogramm aufzustellen, das die Grundlage für eine Steuersenkung schafft und namentlich auch eine baldige Senkung der fortdauernden Ausgaben gewährleistet.

Von den Ausgaben des ordentlichen Haushalts für 1930 sind mindestens 600 Millionen RM im Haushalt für 1931 einzusparen.

Die durch Verminderung der Gesamtausgaben des ordentlichen Haushalts eintretenden Ersparnisse sind unter Berücksichtigung der Kassenlage sowie der Zuschläge oder Abschläge, die sich aus der Entwicklung der Einnahmen des Reichs ergeben, für Senkung der direkten Steuern zu verwenden …“

2. Hinsichtlich der einzelnen zu senkenden Steuern gilt Folgendes:

a) Sofortige Verabschiedung des Gesetzes zur Senkung der Realsteuern – 20% der Gewerbesteuer, 20% der Grundsteuer vom unbebauten Grundbesitz, wobei auf die Höhe der Belastung in den einzelnen Ländern und Gemeinden Rücksicht genommen werden soll.

b) Annahme einer Entschließung,

die Einkommensteuer mit Wirkung vom 1. April 1931 ab im Sinne des Finanzprogramms der Reichsregierung vom Dezember 1929 ab zu senken; gleichzeitiger Einbau eines beweglichen Faktors, durch den unter Berücksichtigung sozialer Notwendigkeiten alle Gemeindebürger zu Lasten der Gemeinden herangezogen werden, mit Festlegung einer Relation zu der Höhe der Realsteuern; die entsprechenden Gesetzentwürfe sind bis 1. Oktober 1930 vorzulegen.

c) Sofortige Verabschiedung des Gesetzentwurfs über die Ermächtigung zur Ergreifung von steuerlichen Maßnahmen zum Zweck der Erleichterung und Verbilligung der Kreditversorgung der deutschen Wirtschaft (Steuerabzug vom Kapitalertrag, Kapitalverkehrsteuer, Kapitalverwaltungsgesellschaften – Investment trusts –).

Extras (Fußzeile):