1.37.1 (mu22p): [Saarfrage.]

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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[Saarfrage.]

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, die französische Regierung, insbesondere Minister Loucheur, mit dem er im Haag gesprochen habe, verfolge den Gedanken, praktische Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich bei den Saargruben wirksam werden zu lassen. Die Delegation müsse aber erreichen, daß die Saargruben wieder ohne Beteiligung der französischen Regierung oder fremden Kapitals in die deutsche öffentliche Hand übergehen. Die Arbeiterschaft des Saargebietes würde eine andere Vereinbarung nicht verstehen und als schwere Beeinträchtigung ihrer Interessen betrachten1. Vielleicht werde es möglich sein, die französischen Wünsche durch andere Zugeständnisse (ein Kohlenkontingent mit Preisermäßigung, Vereinbarung von Erzlieferungen gegen Kohlenlieferungen, Zollvorteile in einer Übergangszeit und Entgegenkommen in anderen wirtschaftlichen Fragen) abzulenken. Dabei würden voraussichtlich Regelungen in Frage kommen, deren Geltungsdauer sich über das Jahr 1935 erstrecken würde. Für die Rückgabe der Saargruben werde ein Kaufpreis zu entrichten sein. Die Schätzungen schwankten zwischen 180–350 Millionen RM. Um ein in sich geschlossenes Angebot deutscherseits machen zu können, werde eine Kommission deutscher Sachverständiger die Gruben bereisen müssen. Nur auf diesem Wege lasse sich feststellen, in welcher Höhe ein Preisangebot gerechtfertigt erscheine2. Äußerstenfalls werde ein Schiedsgericht über den Kaufpreis vereinbart werden können3.

1

Siehe Dok. Nr. 360.

2

Der Satz lautete zunächst: „Es müsse erreicht werden, daß eine Kommission deutscher Sachverständiger die Gruben bereise und feststellen könne, in welcher Höhe ein Preisangebot gerechtfertigt erscheint.“

3

Danach gestrichen: „Dies möchte aber möglichst vermieden werden.“

In gleichem Sinne sprach sich der Preußische Handelsminister entschieden gegen eine Beteiligung Fremder, insbesondere eines internationalen Konsortiums, an den Saargruben aus. Die Löhne und die soziale Fürsorge für die Arbeiterschaft der Saargruben seien mangelhaft gewesen, die Arbeiterschaft wünsche deswegen dringend, daß das Eigentum in den Saargruben wieder in die deutsche öffentliche Hand überginge.

[938] Preußen habe kürzlich den Wert der Saargruben mit 180–240 Millionen, die Reparationskommission habe ihn mit 300 Millionen RM eingeschätzt. Bei einem Jahresertrage von durchschnittlich 20 Millionen RM ergebe sich unter Zugrundelegung einer Verzinsung von 6½% ein Wert von 300 Millionen RM.

Von dem geschätzten Werte müßte der Schaden abgezogen werden, der sich daraus ergebe, daß unter fremder Verwaltung Raubbau getrieben worden sei.

Staatssekretär a. D. von Simson führte aus, er werde mit allem Nachdruck bestrebt sein, die Saargruben für die öffentliche Hand zurückzuerwerben; ein Kaufpreis werde aber erst genannt werden können, wenn die Besichtigung durch deutsche Sachverständige stattgefunden habe. Allerdings befürchte er, daß diese Besichtigung gewisse Zeit dauern werde. Solle es im Verhandlungswege nicht möglich sein, sich über den Preis zu verständigen, so werde er ein Schiedsgericht vorschlagen.

Eine Minderung des Kaufpreises wegen der Schäden, die während der fremden Verwaltung entstanden seien, würde den Franzosen gegenüber wohl nicht geltend gemacht werden können. Andererseits würden aber diese Schäden bei der Festsetzung des Kaufpreises berücksichtigt werden müssen4.

4

Simson hatte in einer kommissarischen Besprechung des AA am 12. 9. erklärt, daß er wissen müsse, „innerhalb welcher Grenzen er sich bezüglich des Rückkaufpreises der Gruben bewegen könne“, andernfalls werde er die Delegationsleitung niederlegen (R 43 I /246 , Bl. 160-170, hier: Bl. 160-170).

Der französische Delegationsführer werde sich bei den Verhandlungen über die Saargruben in einer schwierigen Lage befinden. Deswegen schlage er vor, Besprechungen über eine Beteiligung Frankreichs an den Saargruben nicht von vornherein abzuschlagen. Abgesehen davon, daß es von Wert sei, zu erfahren, wie sich Frankreich eine solche Beteiligung dächte, würde man sofort am Ende der Verhandlungen stehen, wenn jedes Eingehen auf die französischen Wünsche abgelehnt würde.

Staatssekretär Weismann schloß sich der Auffassung von Staatss. von Simson an und bemerkte, daß es zweifelhaft sei, ob die Franzosen überhaupt ernstlich verhandeln wollten. Im Hinblick auf die Haltung eines Teiles der deutschen Presse warnte er davor, den Abschluß der Saarregelung als Bedigung für die Annahme des Young-Plans festzulegen.›5 Die Annahme würde[939] damit auf unbestimmte Zeit herausgeschoben. Auch er halte es für unmöglich, von vornherein jede Beteiligung Fremder an den Saargruben abzulehnen.

5

Diese Absätze lauteten zunächst: „StS a. D. von Simson führte aus, er werde sich in den Verhandlungen bereit erklären, die Saargruben für die öffentliche Hand zurückzukaufen, der Kaufpreis könne noch nicht genannt werden. Die Besichtigung durch deutsche Sachverständige werde einige Zeit in Anspruch nehmen. Wenn alsbald erkennbar sein sein müsse, welche Umrisse für die Vereinbarung in Frage kämen, werde ein Schiedsgericht über den Kaufpreis vorzusehen sein. – Eine Minderung des Kaufpreises wegen der Schäden, die während der fremden Verwaltung entstanden seien, werden den Franzosen gegenüber wohl nicht geltend gemacht werden können. Für das Angebot werde zweckmäßig keine Begründung gegeben. – Der französische Delegationsführer werde schwerlich einen Vertrag unterzeichnen können, in dem der Gedanke der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern nicht für Frankreich ausreichend zur Geltung komme. Verhandlungen hierüber hinsichtlich der Saargruben würden deswegen von vornherein nicht abgelehnt werden können. Es werde zunächst darauf ankommen festzustellen, welche Vorschläge die Gegenseite mache. – StS Weismann hielt es für fraglich, ob die Franzosen ernstlich verhandeln wollten. Es werde deswegen nicht möglich sein, den Abschluß der Saarregelung als Bedingung für die Annahme des Young-Plans festzulegen.“

Nach Ansicht des Reichsministers der Finanzen scheinen in Frankreich die Strömungen, die den deutschen Wünschen entgegenkommen möchten, durch die Annahme des Young-Plans gestärkt worden zu sein. Deswegen bestehe bei den Franzosen zur Zeit vielleicht eine gewisse Verhandlungsbereitschaft. Wenn aber der Gedanke einer Zusammenarbeit beider Staaten von vornherein abgelehnt würde, würden die Verhandlungen kaum in Fluß zu bringen sein.

Die Reichsregierung habe ein starkes Interesse an der Ratifizierung des Young-Plans. Als Bedingung für seine Annahme könne daher der Abschluß eines Saar-Abkommens nicht aufgestellt werden, zumal Deutschland keinen Rechtsgrund für die vorzeitige Rückgabe des Saargebiets geltend machen könne. Je dringender die Rückgabe verlangt werde, desto höher würden die Kaufpreisforderungen der Franzosen sein. Die Saarfrage müsse deswegen zurückhaltender behandelt werden als die Räumungsfrage.

Der Preußische Minister für Handel und Gewerbe sprach sich in ähnlichem Sinne aus, hielt es aber auf alle Fälle für nötig, die restlose Freigabe der Saargruben zu fordern. Preußen werde in den nächsten Jahren nicht annähernd den gleichen Nutzen aus den Saargruben ziehen, wie die Franzosen bisher. Die Schäden des Raubbaus müßten beseitigt werden, die sozialen Lasten würden wesentlich höher sein als bisher. Möglicherweise würden die Franzosen vorschlagen, daß sie das Reich an dem Erzbesitz des französischen Staates beteiligen und daß Deutschland im Austausch Frankreich einen Anteil an den Saargruben einräume. Der Vorschlag wäre für Deutschland ungünstig und müßte abgelehnt werden.

Die Franzosen hätten, nachdem sie die ursprüngliche Einstellung gegen Saarverhandlungen überwunden hätten, nunmehr ein Interesse daran, mit Deutschland in absehbarer Zeit zu Vereinbarungen zu kommen. Mit Zeitablauf würden sich die Möglichkeiten verringern, für die vorzeitige Freigabe der Saar Vorteile zu erlangen.

Der Abschluß von Kohlenlieferungsverträgen nach Frankreich sei für die Saargruben günstig, die Absatzschwierigkeiten würden dadurch verringert.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies darauf hin, daß das Zentrum und die Deutsche Volkspartei die Zustimmung zum Young-Plan von der befriedigenden Regelung der Saarfrage abhängig machten6. Dies könne von dem Verhandlungsleiter in geeigneter Weise als Druckmittel benutzt werden, auch wenn es sich nicht um eine conditio sine qua non handele. Wenn die politische Konferenz nach Abschluß der Kommissionsberatungen Ende Oktober wieder im Haag zusammentrete, müsse mindestens die Skizze für einen Saarvertrag vorliegen.

6

Anläßlich der RT-Fraktionssitzung des Zentrums in Koblenz war u. a. beschlossen worden: „Die Fraktion sieht sich jedoch nicht in der Lage, entscheidend zum Young-Plan und zu Haag Stellung zu nehmen.“ Tragweite des Planes und Beurteilung der Haager Abmachungen seien von dem Ergebnis der weiteren Verhandlungen abhängig. „Insbesondere betont die Fraktion die Notwendigkeit, einen Weg zur beschleunigten Rückgliederung der Saar zu finden und Sicherungen gegen die Möglichkeit jeder weiteren Sanktion zu schaffen“ (WTB v. 16. 9.; BA: Nachlaß Pünder  129).

[940] Dem Verhandlungsleiter müßte in den taktischen Fragen freie Hand gelassen werden. Es würde wohl zweckmäßig sein, dem Beispiel der Franzosen zu folgen und in die Verhandlungen möglichst viele Ideen hineinzutragen. Das gelte besonders für eine Übergangsregelung, weiter etwa für eine Unterscheidung zwischen Produktion und Verkauf bei der Frage der fremden Beteiligung an den Saargruben, für die Ferngasversorgung weiter Teile Deutschlands und Elsaß-Lothringens von der Saar aus und ähnliches. Ohne Anreiz für den Vertragsabschluß im Sinne einer Zusammenarbeit würden die Pariser Verhandlungen die Lage eher verschärfen als entspannen. Die Ressorts möchten in diesen Richtungen möglichst produktiv tätig sein.

Dem deutschen Saargrenzgürtel möchte in seiner wirtschaftlichen Bedrängnis nach Möglichkeit geholfen werden. Die deutsche Landwirtschaft habe das größte Interesse am Absatz ihrer Erzeugnisse ins Saargebiet. Dies müsse beim Zugeständnis von Warenkontingenten an Frankreich gewürdigt werden7.

7

Der RWiM hatte in der kommissarischen Sitzung im AA am 12. 9. erklärt, Frankreich werde als Konzession u. a. eine Zollvergünstigung für den Export von Lebens- und Genußmitteln, Schlachtvieh, Butter, Milch, Obst und Gemüse fordern (R 43 I /246 , Bl. 160-170, hier: Bl. 160-170).

Staatssekretär Dr. Trendelenburg führte aus, auch die Verbraucher von Saarkohle hätten den dringenden Wunsch, daß die Saargruben wieder in deutschen Besitz kämen. Loucheur möchte das Kohlenproblem planwirtschaftlich regeln. Durch eine Vereinbarung über die Saarkohle wolle er verhindern, daß eine privatwirtschaftliche Verständigung über die Kohlenfrage zwischen England, Deutschland und Polen zustande komme.

Die Franzosen seien wegen der Gaskohle auf das Saargebiet angewiesen. Sie hätten in letzter Zeit sehr langfristige Lieferungsverträge abgeschlossen, schienen sich also auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse einzustellen.

Auf die Frage von Staatssekretär a. D. von Simson ob vereinbart sei, daß die Saarbevölkerung zu den deutsch-französischen Vereinbarungen über das Saargebiet Stellung nehmen solle, erwiderte der Reichsminister der Finanzen bei den Verhandlungen im Haag seien von französischer Seite die Rechte der Bevölkerung vorbehalten worden. Die deutsche Seite habe sich bereit erklärt, über den Anschluß an Deutschland abstimmen zu lassen.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies darauf hin, daß die Abstimmung der Saarbevölkerung nicht ausgeschaltet werden möchte. Sie könnte vielleicht später als Präjudiz Bedeutung erlangen.

Es sei dringend geboten, alsbald mit den Vertretern des Saargebiets Fühlung zu nehmen, zumal die Franzosen den Plan eines politischen Kondominiums im Saargebiete erwogen hätten.

Staatssekretär a. D. von Simson hatte gegen eine Volksabstimmung auf Grund des Versailler Vertrages keine Bedenken, hielt es aber für unmöglich, daß sich die Abstimmung auf das Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich erstrecken solle. Über den Kaufpreis für die Saargruben und über handelspolitische Vereinbarungen insbesondere sei eine Abstimmung ausgeschlossen.

[941] Der Reichsminister der Finanzen erklärte, den Franzosen sei es unbequem, sich durch die Volksabstimmung bestätigen zu lassen, daß ihre Bemühungen um die Saarbevölkerung erfolglos gewesen seien. Darauf beruhe ihr Vorschlag, die Abstimmung in irgendeiner Weise abzuändern. Vielleicht werde von der Gegenseite ein Vorschlag gemacht werden, der weniger widersinnig sei als der, das Abkommen selbst zum Gegenstand der Abstimmung zu machen.

Ministerialdirektor Köpke hielt es wie der deutsche Delegationsführer für zweckmäßig, daß die ersten Besprechungen mit der Gegenseite in möglichst engem Kreise stattfänden. Mit der Saarbevölkerung müsse baldigst Fühlung genommen werden. Er schlage vor, den Saarausschuß zum 23. 9. nach Heidelberg zu einer Besprechung der Verhandlungsgrundlagen einzuladen. Das Auswärtige Amt werde die Verhandlungen leiten. Der deutsche Delegationsführer werde an den Beratungen teilnehmen.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg wies darauf hin, daß die deutschen Gewerkschaften verlangt hätten, an den Saarverhandlungen beteiligt zu werden. Da zwischen ihnen und den Gewerkschaften an der Saar Interessengegensätze beständen, so sei es bedenklich, dem Wunsche zu entsprechen.

Hierzu erklärte Staatsminister Schreiber, die Saararbeiter hätten selbst den Wunsch geäußert, daß die Leitung der Gewerkschaften an den Verhandlungen beteiligt würde.

Der Reichsminister der Finanzen hielt es für zweckmäßig, daß nach den Verhandlungen in Heidelberg mit den Leitern der Gewerkschaften Fühlung genommen würde.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete stellte fest, daß sich in der Aussprache Gegensätze nicht ergeben haben. Von einer schriftlichen Instruktion für den Verhandlungsleiter soll abgesehen werden.

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