1.192 (mu22p): Nr. 448 Denkschrift des Reichsminister des Innern zur „Begründung einer vordringlichen Berücksichtigung des Ostens aus Grenzfondsmitteln“. 17. Februar 1930

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[1463] Nr. 448
Denkschrift des Reichsminister des Innern zur „Begründung einer vordringlichen Berücksichtigung des Ostens aus Grenzfondsmitteln“. 17. Februar 1930

R 43 I /1800 , Bl. 213-215, hier: Bl. 213-215 Umdruck1

1

„Eingegangen 17.2.30 um 5.45 Uhr. H. RM Severing hat bitten lassen, die Abdrucke noch vor der heutigen Ministerbesprechung an die Herren RM zu verteilen. Verteilung ist erfolgt“, notierte Bürodirektor Ostertag am Kopf der Denkschrift (17.2.30).

Die Vertreter aller Verwaltungs- und Wirtschaftsstellen des Ostens haben stets die Notwendigkeit einer Fürsorge auch für die Grenzgebiete des Westens anerkannt, jedoch betont, daß die Lage des Ostens nicht nur für Ostpreußen, sondern auch für die Gebiete an der inneren Korridorlinie eine ungleich ernstere sei, so daß Berufungen des Westens gegen Hilfen für den Osten grundsätzlich abgewiesen werden müßten, ja es sei angesichts der Tatsache, daß der Westen gegen den Osten unbillige Mehrforderungen erhöbe, darauf hinzuweisen, daß schon der Westen in ungewöhnlicher Weise bisher bevorzugt worden sei.

Diese Behauptung wird durch die angeschlossene Übersicht über die Leistungen des Reichs für den Osten und für den Westen seit 1923 bestätigt2. Hiernach sind dem Westen 1800,6 Millionen, dem Osten 549 Millionen zugeflossen. Wenn in den Betrag von rund 1800 Millionen 700 Millionen Reichsentschädigungen für Besatzungsschäden enthalten sind, so ist besonders zu bemerken, daß auch der Osten (und Norden) in seinen Abstimmungsgebieten Besatzungstruppen und somit Besatzungsschäden hatte, die nicht in einem beachtlicheren Umfang abgegolten wurden. Noch heute führt Oberschlesien, insbesondere seine Landwirtschaft und seine Gemeinden, lebhafte Klage über nicht erhaltene Entschädigungen. Somit fehlt dem Westen jede Sonderberechtigung, ja dem Osten sind vielmehr die folgenden für eine berufungslose Bevorzugung des Ostens sprechenden Gründe anzuerkennen:

2

Hier nicht abgedruckt.

1. Die Locarno-Verträge haben die Grenzen im Westen international sichergestellt. Eine Gefährdung der Westgrenze erfolgt auch nicht durch eine sprachliche oder ethnische Volkstumsbewegung. Vielmehr liegt ein „Westdütscher“ Sprachgürtel von der Schweiz über Elsaß-Lothringen, Luxemburg, Eupen-Malmedy, Vlamland, der deutschen Staatsgrenze als Schutzwall vorgelagert. Somit ist die deutsche Westgrenze staatspolitisch gesichert und volkheitlich nicht bedrängt. Die etwa erforderlichen Reichs- und Staatsbeihilfen sind nur durch innerdeutsche Wirtschaftsverhältnisse begründet.

Die deutschen Ostgrenzen sind durch kein Ost-Locarno gesichert. Dies bedeutet im positiven Sinne einen Anspruch auf Revision des Korridor-Problems zugunsten Deutschlands. Es bedeutet jedoch zugleich, daß ebenso wenig eine internationale Bürgschaft gegen Ansprüche der Polen auf weiteres deutsches Reichsgebiet gegeben ist. Solche Ansprüche erhebt die polnische Öffentlichkeit, und zwar in steigendem Maße, seitdem die loyale Minderheitenordnung Deutschlands eine recht beachtliche Zahl polnischer Volksschulen in Ostpreußen, Grenzmark Posen-Westpreußen und beiden Schlesien nach sich zog.

Die deutsche Ostgrenze ist nicht garantiert und ist volkheitlich gefährdet.

[1464] 2. An sinnloser wirtschaftszerstörender Wirkung übertrifft die neue Grenzziehung im Osten in unvergleichlicher Weise die Lage im Westen. So schwer die staatspolitische Abtrennung Elsaß-Lothringens, die wirtschaftspolitische Absonderung Luxemburgs und die sinnlose Zerreißung deutschen Gebietes durch Abtrennung von Eupen-Malmedy sich auch auswirken muß, so unvergleichlich und ohne jeden Vorgang in der Weltgeschichte ist die Zerreißung der deutschen Ostgebiete. Es würde ein Fehler sein, nur von der Abschnürung Ostpreußens zu sprechen. Die Gebiete an der inneren Korridorlinie sind, was die Sinnlosigkeit der Grenzen betrifft, ebenfalls schwer betroffen. Es versackt der ostdeutsche Wirtschaftsraum (Dreieck Königsberg–Stettin–Breslau). Während die Wirtschaftsstörungen der Veränderungen der Westgrenze über Teilstörungen des deutschen Wirtschaftslebens nicht hinausreichen, ist mit der Zertrümmerung der ostdeutschen Wirtschaftseinheit zugleich die deutsche Gesamtwirtschaft gefährdet. Der ostdeutsche Boden trug den Menschen- und Nahrungsbedarf des ganzen Deutschland durch seine Überschüsse an Geburten und an landwirtschaftlicher Produktion. Die Abwanderung (vgl. Denkschrift der Landeshauptleute der Ostprovinzen)3 bedroht die ohnehin dünnbevölkerten ostdeutschen Restgebiete volkheitlich, die allgemeine Landwirtschaftskrise Deutschlands nimmt, verschärft durch die Friedensvertragsfolgen, in täglich wachsendem Umfange die Form des endgültigen Zusammenbruchs an. Die Landwirtschaft des Westens, die nur ⅓ der westdeutschen Volkswirtschaft trägt, hat aus demselben Grunde bessere Absatzbedingungen. Im Osten ist und bleibt die Landwirtschaft der Hauptträger der Volkswirtschaft (vgl. Denkschriften des Enquête-Ausschusses).

3

Siehe Anm. 1 zu Dok. Nr. 441.

3. Gegenüber der Behauptung, daß der Osten vor dem Westen bisher begünstigt worden sei, sprechen die in der Einleitung gegebenen Zahlen von 1800,6 Millionen RM Reichsfürsorge für den Westen und nur 549 Millionen RM Reichsfürsorge für den Osten. Der Vergleich hinkt nun vollends darum, weil der Westen und der Osten nach Gebietsumfang und Strenge der Wirtschaftskatastrophe überhaupt nicht pari passu behandelt werden dürfen. Im Westen handelt es sich um die Randgebiete (Grenzkreise) zweier preußischer Regierungsbezirke, Aachen und Trier, und um die bayerische Pfalz und das Land Baden. Soweit Birkenfeld und Hessen berücksichtigt werden sollen, sind ihre Ansprüche etwa denen der Mark Brandenburg im Osten zu vergleichen4. Im Osten dagegen handelt es sich um zehn preußische Regierungsbezirke, hiervon nur 4 in ihren Randgebieten (Köslin, Brandenburg, Liegnitz, Breslau), die übrigen sechs in ihrer Totalität (Gumbinnen, Königsberg, Allenstein, Marienwerder, Grenzmark Posen-Westpreußen, Oberschlesien) und gegebenenfalls die Randgebiete Schleswigs, Sachsens und des Bayerischen Waldes. Im letzteren Falle wären auch die Regierungsbezirke Liegnitz und Breslau in ihrer Totalität mitzurechnen. Auch[1465] in der Tiefenwirkung des Notstandsgebietes sind die Grenzzerreißungsfolgen im Westen nicht zu vergleichen mit den weit in das Innere zurückwirkenden Ausstrahlungen der Grenzschäden im Osten.

4

Die Landwirtschaft der Mark Brandenburg litt – der Denkschrift der Landeshauptleute zufolge – am Verlust der alten Absatzgebiete in Westpreußen und Posen. Die Entfernungen nach Mittel- und Westdeutschland seien so groß, daß die ostbrandenburgische ebenso wie die pommersche Landwirtschaft aus dem Wettbewerb fast ausscheiden würden (R 43 I /1800 , Bl. 165-193, hier: Bl. 165-193).

Im Westen gibt es eine blutende Grenze von nur 600 km, einschließlich Luxemburg 710 km, im Osten von 2652,3 km preußischer Gesamtgrenze 1600 km neue „blutende“ Grenze. Hinzu kommt, daß im Westen durch das hochentwickelte Rhein-Ruhr-Gebiet die Verkehrslage bei aller Anerkennung vorhandener und abzustellender Notstände sowohl für Bahn- und Brückenbau als für Kanäle und Chausseen eine ungleich günstigere ist. Wirtschaft und Verkehr im dünnbevölkerten Osten sind unverkennbar zugunsten anderer Reichsgebiete seit Jahren vernachlässigt worden und nunmehr durch die Zerreißungen aller Ost-Westverbindungen vor einen wirklichen Zusammenbruch geführt. Die wachsende Verschuldung in erster Linie der Landwirtschaft, jedoch auch der übrigen Wirtschaftszweige und insbesondere der Kommunalverbände, die Unrentabilität dieser Wirtschaft bei ungleich niedrigeren Löhnen ist eine Folge der Wirtschaftsferne des Ostens. Es handelt sich nicht nur um die Herstellung der Rentabilität der Landwirtschaft, sondern auch der nach Häufung der Zusammenbrüche verbliebenen restlichen Industrie. Die Vergleichskarte der Landeshauptleute (S. 17 der Denkschrift) über das Einkommen deutscher Landesteile im Jahre 1926 ergibt das niederschmetternde Bild ausgesprochen [!] der als gefährdet bezeichneten Provinzen, daß ihr Anteil am steuerbaren Gesamteinkommen 36–68% niedriger ist als der Anteil an der Bevölkerung.

Aus diesen Gründen erscheint die Forderung berechtigt, daß angesichts der Finanzlage des Reichs zunächst dem deutschen Osten unter vordringlicher Berücksichtigung vor dem Westen geholfen werde.

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