2.122 (sch1p): Nr. 116 Der Reichswirtschaftsminister an Unterstaatssekretär v. Moellendorff. Weimar, 21. Juni 1919

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Nr. 116
Der Reichswirtschaftsminister an Unterstaatssekretär v. Moellendorff. Weimar, 21. Juni 1919

Nachlaß Moellendorff, Nr. 83

[Betrifft: Bildung des neuen Kabinetts]

Lieber Herr von Moellendorff!

 

Ich sitze im Zimmer bei Herrn Trendelenburg, und über den Schloßhof geht zur Zeit Herr Albert zu Herrn Bauer hinüber. Das gibt Ihnen schon den äußeren Anhalt für die sich hier vollziehenden Änderungen im Kabinett. Bauer wird, wenn nicht noch irgend etwas dazwischenkommt, Ministerpräsident werden, und an seine Stelle wird Dr. Sinzheimer treten1.

1

RArbM im Kabinett Bauer wurde der württ. ArbM und Abg. der NatVers Alexander Schlicke (MSPD).

Ich komme gerade aus der Fraktionssitzung, in der über die Personen, die neu ins Kabinett treten, gesprochen worden ist. Eine endgültige Stellungnahme dazu ist noch nicht möglich, da die Verhandlungen mit den Parteien um 11 Uhr wieder beginnen. Die Situation ist zur Zeit etwa folgende, wobei ich auf die Vorgänge der letzten Tage zurückgreifen muß.

 

Die Demokraten stehen in ihrer Mehrzahl auf dem Boden der Nichtunterzeichnung des Friedensvertrages. Der Reichspräsident ist der Meinung, daß ohne die Demokraten eine Kabinettsbildung nicht möglich sei. Aus dieser Auffassung heraus ist nun der Versuch gemacht worden, die Parteien auf einem Mittelwege zusammenzuführen. Zentrum und Sozialdemokratie waren sich dahingehend einig geworden, daß man den Frieden unterzeichnen müsse, daß diese Unterschrift nicht das Anerkenntnis der alleinigen Urheberschaft am Kriege und die Auslieferung deutscher Personen in die Gewalt der Entente decke. Den Demokraten[494] ging dieses nicht weit genug, und in sehr langen Beratungen zwischen den Fraktionsführern ist gestern nun beschlossen worden, eine Note an die Entente zu richten, in der auch noch weitere Forderungen erhoben wurden2. Ich brauche auf die Einzelheiten dieser Forderungen nicht einzugehen, da die Ereignisse diesen in Aussicht genommenen Schritt überholt haben. Es ist bei uns gestern abend in der Fraktion nach Bekanntgabe dieser Vereinbarung lebhafter Widerspruch erhoben worden, und die in Aussicht genommene Note ist zurückgehalten worden. Es wurde dann ein von mir gestellter Antrag einstimmig angenommen (gerade geht Herr Geheimrat Albert wieder in seine Büroräume, die Konferenz mit Bauer hat also nicht lange gedauert –), wonach der Reichspräsident ersucht wurde, ein Kabinett zu bilden aus Mitgliedern der Sozialdemokratischen Fraktion, des Zentrums und solcher Mitglieder der Demokraten, die zur Unterzeichnung bereit seien. Für diesen Antrag hat mich die Erwägung geleitet, daß [sich] unter diesen Personen auch Vershofen3 befindet, der nach der Mitteilung von Sinzheimer unseren gemeinwirtschaftlichen Ideen sehr zugänglich sein soll und auch Aussicht hat, eventuell von seinen engeren Freunden für einen Ministerposten in Vorschlag gebracht zu werden.

2

Siehe Dok. Nr. 117, vor allem Anm. 2 und 3.

3

Da das Kabinett Bauer ohne Beteiligung der DDP gebildet wurde, kam der Abg. der NatVers Wilhelm Vershofen für ein Ministeramt nicht in Frage.

In der Zentrumsfraktion ist ähnlicher Widerspruch laut geworden, und Zentrum und Sozialdemokratie stehen nunmehr den Demokraten entgegen. Diese sind natürlich aufs äußerste verschnupft, und es läßt sich zur Zeit noch nicht übersehen, aus welchen Personen sich die weitere Kabinettsbildung ermöglichen läßt. Scheidemann und Landsberg werden gehen. Die anderen werden aller Wahrscheinlichkeit nach bleiben. Das Justizministerium soll zur Zeit nicht weiter besetzt werden, sondern von Delbrück zunächst kommissarisch verwaltet werden. Wer von den Zentrumsleuten ausscheidet, vermag ich nicht zu sagen. Man spricht davon, daß Erzberger die Verwaltung der Reichseisenbahnen übernehmen soll4.

4

Erzberger berichtet in seinen Erinnerungen: „In früheren Besprechungen war mir in Aussicht gestellt worden, das neue Verkehrsministerium behufs Vereinheitlichung der Eisenbahnen übertragen zu erhalten; ich stimmte dem Plan zu. Nun kam eine für mich persönlich sehr unangenehme Wendung; der neue Ministerpräsident und der Reichspräsident ersuchten mich auf das dringendste, die Stelle des Reichsfinanzministers anzunehmen. […]“ (Erzberger, Matthias: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, S. 379).

Eine Neugestaltung der gesamten Reichsleitung dahingehend, daß die Zahl der Ministerien vermindert werde, wird im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht Gegenstand ernster Erwägung bilden, dafür ist in keiner Partei Neigung vorhanden. Mir scheint die Frage aber auch jetzt nicht so dringend zu sein, weil es sich ja nur um ein Ministerium, das im wesentlichen den Friedensvertrag fertigzubringen hat, handeln wird.

 

Wer von den Demokraten ins Kabinett eintritt, steht noch dahin. Zur Zeit redet man davon, daß Dernburg sich neutralisieren wird. Wie das möglich werden soll, das ist mir zwar sehr, sehr schleierhaft, aber ich kann Ihnen ja nur berichten das, was man so unter der Hand gehört hat. Jedenfalls ist die[495] Situation so, daß Weimar einem aufgescheuchten Ameisenhaufen gleicht, deren Bau zerstört wurde und die nun zur Zeit noch nicht nach einheitlichem Plane arbeiten. Das einzige Erfreuliche für mich bei dieser ganzen Situation ist, daß Sinzheimer ins Kabinett kommen wird. An ihm werden wir eine überaus große Stütze haben. Erfreulich scheint mir auch weiter zu sein, daß Erzberger die Leitung der Reichseisenbahnen bekommt, denn dadurch entfällt für ihn das Interesse für ein besonderes Wiederaufbauministerium. Es steht zwar sehr dahin, ob er damit durchgekommen wäre, aber jedenfalls ist nun die Sache doch leichter zu lösen, als es sonst der Fall gewesen wäre.

Mein Brief ist in seinem Aufbau nicht ganz logisch, aber ich diktiere das, was mir so in den Kopf kommt, ohne es sachlicher noch einmal systematisch aneinanderzureihen. Sie haben ja Ihren Rotstift zur Hand und gliedern die einzelnen Punkte ja doch rein schematisch so, wie Sie es so wunderbar verstehen. Trendelenburg verzieht bei diesen Bemerkungen zwar sehr das Gesicht, so daß ich im Zweifel bin, ob Ihnen diese Wendung gefällt, aber ich glaube Sie doch so gut zu kennen, um annehmen zu dürfen, daß Sie darin nichts Böses erblicken.

Ich habe das Gefühl, daß ich Ihnen schon längst einmal hätte schreiben müssen, aber die überstürzende Hast der Ereignisse läßt einem wirklich kaum einige Minuten, um zusammenhängend auch nur Einiges diktieren zu können. In den letzten Tagen jagten sich die Kabinettssitzungen, die Sitzungen mit den Mehrheitsparteiführern und die Fraktionssitzungen in solcher Weise, daß zu irgendwelcher anderen Tätigkeit kaum Raum blieb.

Eben gibt mir Trendelenburg Ihre Ausarbeitung, die Sie gestern telefonisch übermittelt haben5. Ich muß sie mir erst einmal in Ruhe durchsehen, finde jedoch beim ersten flüchtigen Lesen doch einige Stellen, von denen ich nicht glaube, daß die Regierung sie in einer Erklärung an die Öffentlichkeit geben würde. Aber darüber werde ich Ihnen noch weiterhin schreiben.

5

Weder in den Akten der Rkei noch im Nachl. Moellendorff  zu ermitteln.

Damit will ich nun für heute schließen und verbleibe mit den besten Grüßen

ganz ergebenst Ihr

Rud[olf] Wissell6

6

Noch am selben Tag sandte Wissell einen weiteren Brief an v. Moellendorff, in dem es hieß: „Lieber Herr von Moellendorff! Die Zeit läuft schnell. Kaum hatte ich Ihren Brief unterschrieben und war er abgegangen, haben sich neue Verhältnisse ergeben. Wahrscheinlich werden Sie beim Eintreffen dieses Briefes über die Zusammensetzung des Kabinetts unterrichtet sein. Auf alle Fälle will ich Ihnen mitteilen, daß es sich wie folgt zusammensetzt: Ministerpräsident Bauer, Auswärtiges Amt Hermann Müller (Reichenbach), Inneres Dr. David, Wirtschaft Wissell, Arbeitsministerium Alexander Schlicke (Stuttgart), Reichswehrministerium Noske, Ernährungsministerium Schmidt, Reichsfinanzministerium Erzberger, Schatzministerium Dr. Mayer (Schwaben), Postministerium Giesberts, Reichseisenbahnministerium Dr. Bell. Justiz bleibt zunächst unbesetzt und wird vorerst durch Delbrück verwaltet.

Sie sehen, es ist zwar die Zahl der Kabinettsmitglieder um 2 verkleinert, aber ein neues Ministerium, das Eisenbahnministerium, hinzugetreten. Es war aber in der gegenwärtigen Zeit eine andere Lösung nicht zu ermöglichen. Allseits besteht die Meinung, daß das Kabinett nur ein Kabinett zum Abschluß des Friedens ist, daß ihm aber keine lange Dauer beschieden sein wird. […]“ (Nachl. Moellendorff , Nr. 83). Das RJMin. wurde erst wieder nach Eintritt der DDP in die Regierungskoalition am 3.10.1919 mit dem ehemaligen RFM Eugen Schiffer (DDP) besetzt.

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