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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Das erste Kabinett der Großen Koalition und sein Scheitern an der Frage der Arbeitszeit

Am 12. August 1923 um 21.45 Uhr wurde das Rücktrittsgesuch des Reichskanzlers Cuno dem Reichspräsidenten überbracht. Etwa zur gleichen Zeit erteilte dieser dem Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei Gustav Stresemann[XXII] den Auftrag zur Regierungsbildung und ernannte ihn am Abend des folgenden Tages, nachdem die Ministerliste in Grundzügen feststand, zum Reichskanzler. Schon am 14. August um 10 Uhr, nur 36 Stunden nach dem Rücktritt seines Vorgängers, konnte Stresemann die Mitglieder seiner Regierung in der ersten Kabinettssitzung begrüßen12. Keine Kabinettsbildung wurde in dem Jahrzehnt zwischen dem Ende der Nationalversammlung und dem Beginn der Präsidialregierungen schneller vollzogen; denn „Stresemann lag in der Luft“, wie Seeckt damals an seine Schwester schrieb, aber ebenso die Große Koalition von Sozialdemokraten, Demokraten, Zentrum und Deutscher Volkspartei. Die Bedingungen des Zustandekommens dieser Koalition sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Wirksamkeit erklären sich aus dem Kräfteverhältnis der Parteien im Reichstag und aus der politisch-wirtschaftlichen Situation Deutschlands beim Ausgang der Regierung Cuno.

12

Dok. Nr. 1.

Seit in den Reichstagswahlen vom Juni 1920 die Weimarer Koalition von Sozialdemokraten, Demokraten und Zentrum ihre Mehrheit verloren hatte, stellte sich die für das Schicksal der Republik entscheidende Frage, ob es möglich sein würde, im Reichstag zu einer neuen Mehrheitsbildung durch eine weitgespannte Koalition von den Sozialdemokraten bis zur Deutschen Volkspartei zu gelangen. In Preußen wurde eine solche Koalition unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun im November 1921 zustande gebracht13. Sie bildete im Krisenjahr 1923 den festen Rückhalt der Republik. Im Reich machte erst das Scheitern der Regierung Cuno, insbesondere ihr Versagen vor den währungs- und finanzpolitischen Problemen, die sich aus dem passiven Widerstand an der Ruhr ergaben, den Weg für ein analoges Parteienbündnis frei14. Es war keinen Augenblick umstritten, daß Stresemann der Chef einer solchen Regierung sein würde. Der überzeugte Monarchist und engagierte Parlamentarier, der sich im Kriege für die Erhöhung der Rechte des Reichstages eingesetzt hatte, war nach dem Zusammenbruch der Monarchie zum Vernunftrepublikaner geworden. Innen- und nationalpolitische Gründe waren nach seiner eigenen Aussage ausschlaggebend dafür gewesen, daß er die von ihm geführte Volkspartei unbeschadet ihres grundsätzlichen Bekenntnisses zur Monarchie von einem Zusammengehen mit restaurativen Gegenströmungen zurückgehalten hatte. Er fürchtete, daß ein Versuch zur Wiederherstellung der Monarchie den Bürgerkrieg entfesseln und die Chance für den nur auf republikanischer Grundlage möglichen Anschluß Österreichs zunichte machen werde15. Die hieraus folgende Bereitschaft des liberalen Nationalisten zur Zusammenarbeit mit den Parteien, die die Republik geschaffen hatten, wurde durch seine wirtschafts- und sozialpolitische Lagebeurteilung gestützt.[XXIII] Er sah in der von Unternehmern und Gewerkschaften bei Kriegsende geschaffenen, aber in den Klassenkämpfen der ersten Nachkriegsjahre wieder zerriebenen Zentralen Arbeitsgemeinschaft ein Modell praxisorientierter Kooperation unterschiedlicher Interessen, das sich in der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Demobilmachung bewährt hatte. Dessen natürliche Entsprechung im politischen Kräftefeld war die Parlamentarische Große Koalition. Daher hinderte den ehemaligen Manager industrieller und unternehmerischer Interessenverbände seine scharfe Ablehnung des Sozialismus nicht daran, für sich und seine Partei seit den Anfängen der Republik eine künftige Beteiligung an der Macht durch eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten zu suchen16. Beharrlich hatte er sich in den Regierungskrisen der ersten Weimarer Kabinette für die Bildung der Großen Koalition eingesetzt. Aber dieser politische Kurs des „Fanatikers der Großen Koalition“, wie ihn seine Gegner auf der Rechten nannten, stieß auch in seiner eigenen Partei auf Widerspruch. Das Gegenmodell zur Großen Koalition war ein Block der bürgerlichen Parteien mit Einschluß der Deutschnationalen. Zu einer solchen Verbindung mit den sogenannten nationalen Kräften tendierte innerhalb der Deutschen Volkspartei eine starke Oppositionsgruppe. Zu ihr gehörten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen u. a. Stinnes, Jarres und Curtius. Sie zerrte als zentrifugale Kraft an dem von Stresemann als Kanzler geführten Bündnis der bürgerlichen Mittelparteien mit den Sozialdemokraten.

13

Hierzu H. Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung (1977).

14

Über die früheren vergeblichen Versuche zur Bildung einer Großen Koalition vgl. G. Arns, Regierungsbildung und Koalitionspolitik in der Weimarer Republik 1919–1924 (Phil. Diss. Tübingen 1971); E. Laubach, Die Politik der Kabinette Wirth 1921/22 (1968); L. Albertin, Die Verantwortung der liberalen Parteien für das Scheitern der Großen Koalition im Herbst 1921, HZ 205 (1967).

15

Rede auf dem Parteitag in Jena 13.4.1919, in: G. Stresemann, Reden und Schriften, Bd. 1, S. 263.

16

Hierzu W. Hartenstein, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918–1920 (1962), S. 121 ff.

Auch bei diesen war das Verhältnis zur Großen Koalition zwiespältig. Im Jahre 1920 hatte sich die Partei unter dem Eindruck des Kapp-Putsches auf ihrem Kasseler Parteitag noch emphatisch gegen jede „Zusammenarbeit mit einer Partei, die nicht grundsätzlich und tatsächlich auf dem Boden der republikanischen Staatsform steht“, ausgesprochen17. Dieser Beschluß war allerdings ein Jahr später auf dem Görlitzer Parteitag revidiert worden, mit den damaligen Worten Eduard Bernsteins: „Die Deutsche Volkspartei hat eine soziale Macht, sie ist eigentlich die Partei der deutschen Bourgeoisie. Hinter ihr steht die deutsche Finanz, die deutsche Großindustrie und die Intelligenz in Deutschland. Wir müssen versuchen, diese Partei vor den Wagen der Republik zu spannen18.“ Aber wenn seither die DVP auch grundsätzlich als koalitionsfähig galt, so wirkte dem doch bei den Mehrheitssozialdemokraten die Rücksichtnahme auf die Unabhängigen Sozialdemokraten, die eine Kooperation mit der Unternehmerpartei ablehnten, und die Hoffnung auf Wiedervereinigung mit ihnen entgegen. Zudem war rein zahlenmäßig nach dem Wiederzusammenschluß der beiden sozialdemokratischen Parteien im September 1922 eine andere Möglichkeit zur parlamentarischen Mehrheitsbildung denkbar. Eine modifizierte Weimarer Koalition hätte von insgesamt 459 Reichstagsabgeordneten nicht weniger als 266 umfaßt (VSPD 163, DDP 39, Zentrum 64). Seit[XXIV] aber in Reaktion auf die Konvergenz der beiden sozialdemokratischen Parteien sich Demokraten, Zentrum und Volkspartei im Juli 1922 zu einer bürgerlichen „Arbeitsgemeinschaft der Mitte“ zusammengeschlossen hatten, war die Bildung einer tragfähigen Regierungsmehrheit zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokraten, wenn überhaupt, dann nur mit Einschluß der DVP in einer Großen Koalition möglich. Diese hatte sich, auch nach Meinung von Sozialdemokraten wie Gustav Radbruchs, durch ihre Zustimmung zu den Republiksschutzgesetzen, zur Amtsverlängerung Eberts und zur Außenpolitik Wirths regierungsfähig gemacht19. Da jedoch zunächst „die eben erst hergestellte Einigung der beiden sozialdemokratischen Parteien die Belastungsprobe der Großen Koalition“ noch nicht ertragen hätte (Stampfer), waren Ende 1922 die Bemühungen Wirths um eine solche Verbreiterung der parlamentarischen Basis seiner Regierung gescheitert. Erst die chaotische Situation, in der die Regierung Cuno im August 1923 endete, brachte die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion dazu, sich gegen ihren starken linken Flügel auf das Experiment der Großen Koalition einzulassen.

17

Protokoll des SPD-Parteitages Kassel 1920, zit. bei A. Kastning, Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919–1923 (1970).

18

Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der SPD in Görlitz 18.–24.9.1921, S. 192, zit. bei L. Albertin, HZ 205 (1967), S. 583.

19

G. Radbruch, Der Innere Weg (²1955), S. 123 f.

Das Zentrum wie auch die Deutsche Demokratische Partei waren von ihrer Stellung im Parteiengefüge her für Koalitionen nach links wie nach rechts hin offen und besaßen Erfahrungen nach beiden Richtungen. Sie hatten ebenso wie die Deutsche Volkspartei das außerparlamentarische Fachkabinett Cuno vom Parlament her gestützt. Aber die Notlage im Sommer 1923 veranlaßte sie, sich für eine von den Parteien gebildete Regierung mit breiter parlamentarischer Grundlage zu entscheiden. Die Parteien der sich bildenden Koalition haben aber keinen offenen parlamentarischen Kanzlersturz betrieben. Die Regierung Cuno trat vielmehr während der Beratungen über einige von ihr eingebrachte Gesetzesvorlagen zurück, obwohl sich der Reichstag mit großer Mehrheit einschließlich der Deutschnationalen und in einigen Fällen auch der Kommunisten für deren Annahme aussprach. Bei diesen Vorlagen handelte es sich um die gleitende Anpassung der Steuern an die Geldentwertung und um die Auflage einer Goldanleihe20. So wichtig dieser Steuerkompromiß war, für die am dringendsten sich stellende Aufgabe, die Stabilisierung der Währung, hatte Cuno keine Lösung anzubieten gewußt. Den Anstoß zu seinem Rücktritt gaben außerparlamentarische Vorgänge. Mit einem Artikel des Zentrumblatts „Germania“ vom 27. Juli, der „wie eine Bombe“ einschlug (Stresemann), hatte eine heftige Pressekampagne eingesetzt, die der Regierung Cuno jedes öffentliche Vertrauen entzog. Ein Streik der Berliner Drucker verschlimmerte die unerträgliche Geldmittelknappheit. Am 10. August brachte die KPD-Fraktion im Reichstag einen Mißtrauensantrag ein. Am 11. August proklamierten die Berliner Betriebsräte den Generalstreik. Am gleichen Tage beschloß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, daß eine neue Regierung gebildet werden müsse, da die gegenwärtige nicht ihr Vertrauen besitze21. Am folgenden Tage versuchte die KPD durch einen Aufruf[XXV] den Generalstreik auf das ganze Reichsgebiet auszudehnen. Durch ihre Presse und ihre Redner drohte sie, auch im Reichstag, kaum verhüllt mit dem Bürgerkrieg. Der Reichstag wurde durch Arbeiterdelegationen, für die die Kommunisten – vergeblich – Zutritt verlangten, bedrängt. Durch eine am 13. August veröffentlichte Pressenotverordnung (beschlossen am 9. 8., mit Datum vom 10. 8.; RGBl. 768) versuchten Reichspräsident und Regierung den öffentlichen Aufrufen zur Gewalttätigkeit entgegenzuwirken22. Damals erklärte Stresemann dem britischen Botschafter, er sei der Ansicht, die Kommunisten würden die Situation zu einem verzweifelten Angriff auf die bestehende Ordnung ausnutzen. Er habe Angst vor „einem unmittelbaren kommunistischen Erfolg und einer heftigen nationalistischen Reaktion“ hierauf23. Wenn man bei dieser Äußerung gewiß auch in Rechnung zu stellen hat, an wen sie gerichtet und auf welche Wirkung sie berechnet war, so ist sie doch für die Situation, in der Stresemann mit der Großen Koalition seinen Weg antrat, nicht weniger bezeichnend als die erste Rede, mit der der neue sozialdemokratische Innenminister am 15. August vor den Reichstag trat, um die Aufrufe zur Gewalttätigkeit in der kommunistischen und völkischen Presse zu brandmarken.

20

S. Kabinett Cuno, Dok. Nr. 227; 231; 234; 243 und Verhandlungen des RT, Bd. 361 , Sitzungen vom 8.–10. und 14.8.1923.

21

Veröffentlicht im Vorwärts vom 12.8.1923; Schulthess, S. 152.

22

Vgl. hierzu die Rede Sollmanns in Verhandlungen des Reichstags, Bd. 361, Sitzung vom 15.8.1923.

23

Viscount d’Abernon, Memoiren, Bd. 2, S. 270 über ein Gespräch mit Stresemann vom 11.8.1923.

Was war die Geschäftsgrundlage der Regierung Stresemann? Vergeblich sucht man nach einem Koalitionspapier. Auch die Regierungserklärung, mit der Stresemann am 14. August vor den Reichstag trat, verzichtete bewußt darauf, ein Programm zu entwickeln. Dennoch läßt sich einiges aussagen über die Vorstellungen, mit denen sich die Parteien in die Koalition hineinbegaben. Man war sich darin einig, daß der passive Widerstand nicht mehr lange fortgesetzt werden konnte, daß die Lösung des Ruhr- und Reparationsproblems auf dem Verhandlungswege gesucht werden mußte, daß es galt die Feinde der Verfassung abzuwehren, die Einheit des Reiches zu wahren und seine Autorität gegenüber den Ländern zu behaupten. In den wechselnden Situationen einer von vielen unkalkulierbaren Faktoren bestimmten Entwicklung mußte sich zeigen, ob der bestehende Grundkonsens über die allgemeinen national- und verfassungspolitischen Zielsetzungen auch in den taktischen Fragen bei der Wahl der Mittel zu ihrer Durchsetzung bewahrt werden konnte, oder ob die Wahl der Mittel den Grundkonsens in Frage stellte. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hatte in dem schon erwähnten Mißtrauensbeschluß vom 11. August für eine von ihr zu unterstützende Regierung gefordert: „Energische Durchführung der beschlossenen Finanzmaßnahmen. Durchgreifende Finanzreform auf Grundlage der Heranziehung der Wirtschaft mit garantierter Belastung ihrer Sachwerte. Währungsreform: Schleunige Eindämmung der Inflation, Goldkredite, Vorbereitung der Goldwährung. Wertbeständige Löhne, wertbeständige, hinreichend erhöhte Sozialrenten und Erwerbslosenunterstützungen. Loslösung der Reichswehr[XXVI] von allen illegalen Organisationen. Außenpolitische Aktivität zur Lösung der Reparationsfrage unter vollster Wahrung der Einheit der Nation und der Souveränität der deutschen Republik. Antrag auf Anmeldung zum Völkerbund23a.“

23a

Ursachen u. Folgen 5, Nr. 1061.

Nicht aktuell war von den Zielsetzungen dieses Programms der erstrebte Eintritt in den Völkerbund24, konfliktträchtig dagegen die Forderung nach „Loslösung der Reichswehr von allen illegalen Organisationen“. Wichtig und drängender stand im Vordergrund die Finanz- und Währungsreform, von der die Lösung aller anderen innen- und außenpolitischen Fragen abhing. Hierzu war eine Reichstagsentschließung der Koalitionsparteien einschließlich der Bayerischen Volkspartei vom 15. August richtungweisend. Durch sie wurde die Reichsregierung ersucht, die Voraussetzung für die Stabilisierung der Währung und die Sanierung der Reichsfinanzen auf dem Wege einer gesetzlichen Belastung der Vermögenswerte der Wirtschaft zu schaffen25. Bemerkenswert ist hierbei, daß die Koalitionsparteien den von Helfferich unternommenen Versuch abwehrten, in die genannte Entschließung einen ständischen Gedanken mit der Formulierung hineinzubringen, daß bei der Belastung der Sachwerte „den Organisationen der wirtschaftlichen Berufsstände gewisse gesetzliche Befugnisse“ über eine bloß beratende Mitwirkung hinaus gegeben werden müßten26.

24

Hierzu Stresemann in Kabinettssitzung vom 23.8.1923, Dok. Nr. 18 und dort Anm. 6.

25

Verhandlungen des Reichstags 361, S. 11879.

26

Vgl. auch Dok. Nr. 9.

Niemand hat den Gedanken, daß die Wirtschaft mit ihrem Besitz haften müsse, mit stärkerem nationalen Pathos vorgetragen als Stresemann in einem Grundsatzartikel über Politik und Wirtschaft. Darin hieß es: „Daß Reich und Volk erhalten bleibt, ist notwendig, daß die Substanz der Einzelwirtschaft sich erhält, ist nicht notwendig. Wenn es dahin kommt, daß wir diese Substanz angreifen müssen, um damit die deutsche Freiheit zu sichern, so muß das von allen an der deutschen Wirtschaft Beteiligten getragen werden. Wir haben das Staatsinteresse in den Vordergrund zu stellen27.“ Aus einer zusätzlichen Belastung der wirtschaftlichen Sachwerte mußte sich zwangsläufig die korrespondierende Frage nach der Belastbarkeit der Arbeitskraft stellen. Hier war ein bei Bildung der Koalition unausgesprochener Konfliktstoff angelegt, einer der Gründe ihrer nur kurzlebigen Dauer28.

27

Aus einem Artikel in der „Zeit“ vom 15.5.1923, in Vermächtnis, Bd. 1, S. 64.

28

Über die Entsprechung von Sachwertbelastung und Erhöhung der Arbeitszeit vgl. die Äußerung von Raumers in Dok. Nr. 1, Anm. 2.

Als die Regierung Stresemann ihre Arbeit aufnahm, wurde sie mit hohen Erwartungen begrüßt. Hier war endlich der breite Parteienkonsens erreicht, der angesichts der in den parlamentarischen Stärkeverhältnissen sich spiegelnden sozialen Struktur Deutschlands die Voraussetzung dafür war, die politische, wirtschaftliche und soziale Krise zu meistern. Ein Beobachter wie Friedrich Meinecke meinte optimistisch, „die neue, auf der endlich zustande gekommenen großen Koalition beruhende Regierung Stresemann“ habe „die[XXVII] breiteste Ordnungs- und Widerstandsfront, die wir seit den Novembertagen je hatten, hergestellt29.“ Er war zuversichtlich und meinte, „ein fernes Morgengrauen“ wahrzunehmen, wenn auch das schwerste Stück des Leidensweges noch zu bewältigen sei.

29

Neue Freie Presse, Wien, 26.8.1923, in: Meinecke, Werke Bd. 2 (1958), S. 358.

Der Weg der Großen Koalition war in der Tat ein Leidensweg, den bis zu einem glücklichen Ausgang zu Ende zu gehen sie ihre konditionelle Schwäche hinderte. So eindrucksvoll gleich zu Anfang das Ergebnis der Abstimmung über das Vertrauensvotum am 14. August auch war mit 239 Jagegen 76 Nein-Stimmen bei 25 Enthaltungen und 2 ungültigen Stimmen, so wenig entsprach es doch, genauer betrachtet, der Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“, in der Stresemann den idealen Zweck der Großen Koalition sah. Denn bei einer Gesamtzahl von 459 Reichstagsabgeordneten beteiligten sich nur 342 an dieser so wichtigen Abstimmung, nur 315 gaben ein klares Votum ab, mit nur 19 Stimmen (bzw. 20, wenn man Stresemann hinzurechnet, der an der Abstimmung nicht teilnahm) war die Zahl derjenigen Abgeordneten, die sich positiv für die Regierung aussprachen, allen anderen (fehlenden, ungültigen, Neinstimmen, Enthaltungen) überlegen. Etwa je ein Drittel der Fraktionsmitglieder der Volkspartei und der Sozialdemokraten verweigerte durch Stimmenthaltung oder Abwesenheit ein Vertrauensvotum. Zwei Abgeordnete der VSPD gaben Nein-Stimmen ab, nicht weniger als 43 traten mit einer Erklärung gegen die Große Koalition an die Öffentlichkeit30. Die Bayerische Volkspartei, die sich bei der Abstimmung über das Vertrauensvotum der Stimme enthalten hatte, kündigte alsbald offene Gegnerschaft an.

30

Schultheß’ Europ. Geschichtskalender 64 (1923), S. 153.

In der DVP gab Stresemann wegen der Übernahme des Kanzleramtes den Fraktionsvorsitz ab. Die Folge war ein erhöhtes Gewicht des rechten Flügels, der die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten ablehnte. So waren im Gefüge der Koalition von Anfang an Bruchstellen vorhanden. Sie traten zunächst jedoch parlamentarisch nicht in Erscheinung, da sich der Reichstag am 15. August vertagte und von seinem Präsidenten Löbe erst zum 27. September wieder einberufen wurde. Die Aktionsfähigkeit der Koalition mußte sich zunächst in diesen ersten entscheidungsreichen Wochen nicht im Parlament, sondern in der Regierung selber erweisen.

Wie war das Kabinett konstruiert31? Von seinen Mitgliedern gehörte der DVP neben Stresemann nur noch Hans von Raumer als Wirtschaftsminister an. Er bekleidete als führender Verbandspolitiker der Elektrizitätswirtschaft eine einflußreiche Stelle in der Industrie, hatte sich bei Kriegsende maßgeblich an der Bildung der Zentralen Arbeitsgemeinschaft beteiligt und war innerhalb der Deutschen Volkspartei neben Stresemann der entschiedenste Befürworter der Großen Koalition. Als deren Aufgabe sah er,[XXVIII] wie er in einem Briefe an Stresemann schon am 23. Juli 1923 formulierte, neben der Steuerreform eine „starke Heranziehung des Besitzes“ vor, der auf seiten der Arbeiter „eine starke Konzession auf dem Gebiete der Arbeitsbedingungen“ entsprechen müsse. Als Kompensation für die Arbeiterschaft wollte er den Gedanken der Arbeitsgemeinschaft gesetzlich verankern und den Gewerkschaften ein wirtschaftspolitisches Mitspracherecht geben32. In seinem Eintreten für die Bildung der Großen Koalition traf er sich mit Rudolf Hilferding, dem Verfasser des „Finanzkapitals“ und Theoretiker des „organisierten Kapitalismus“. Beide waren, unabhängig von maßgebenden Strömungen in ihren Parteien, sowohl für eine Belastung des Besitzes wie für eine Erhöhung der Arbeitszeit eingetreten. Die Ernennung dieses ehemaligen USPD-Mitglieds zum Reichsfinanzminister wurde auf der politischen Rechten bis weit in die DVP und ins Zentrum hinein ebenso wie in Kreisen der Wirtschaft als eine Herausforderung empfunden. Hilferding war die umstrittenste Figur im Kabinett. Auch Angehörige seiner eigenen Partei warfen dem Theoretiker Mangel an praktischem Sinn und an politischem Durchsetzungsvermögen vor33. Stresemann jedoch hatte ihn seit langem als ministrabel betrachtet. Bereits zu der Zeit, als nach der Demission des zweiten Kabinetts Wirth der Gedanke an eine Große Koalition auftauchte, hatte Stresemann eine Kabinettsliste entworfen, in der Hilferding neben den Sozialdemokraten Radbruch und Bauer verzeichnet war. Was ihn in den Augen Stresemanns empfahl, war seine frühere enge Zusammenarbeit mit von Raumer in reparationspolitischen Fragen während der Regierungszeit Wirths. Er traute ihm zu, daß er einen Ausweg aus der Währungskrise finden und daß er sich der Notwendigkeit, die Arbeitszeit zu erhöhen, nicht verschließen werde34. An weiteren Sozialdemokraten wurden in das Kabinett Robert Schmidt als Vizekanzler und Wiederaufbauminister und Gustav Radbruch als Justizminister berufen. Beide hatten dem zweiten Kabinett Wirth angehört. Ein Neuling im Ministeramt war Wilhelm Sollmann, der das Innenressort übernahm. Als Chefredakteur der Rheinischen Zeitung war er Repräsentant eines entschiedenen Abwehrwillens gegen alle Loslösungsbestrebungen im Westen. Auch in der bürgerlichen Presse wurde sein „mannhaftes Eintreten für den Widerstand gegen die französische Willkür“ anerkannt35. Seinem Kabinettskollegen Luther erschien er als „tatsächlicher Führer der Sozialdemokraten … ein kluger Kopf, aber mit einem Zug von Fanatismus“36. Als Mitglied der Nationalversammlung hatte er seine Stimme gegen wirtschaftsschädigende Streiks erhoben37. Er war führend in der Nüchternheitsbewegung tätig, galt als Vertreter eines ethisch begründeten Sozialismus und stellte insofern eine Ergänzung zu dem marxistischen Theoretiker[XXIX] Hilferding dar. Seine Ernennung war nicht ohne Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Zentrum vor sich gegangen. Denn auch diese hatten als Innenminister einen Rheinländer, den von den Franzosen ausgewiesenen Oberpräsidenten der Rheinprovinz Johannes Fuchs, vorgesehen. Die Sozialdemokraten bestanden jedoch auf dem Innenministerium als Gegenleistung für ihre nach schweren Bedenken gegebene Zustimmung für den Verbleib des Demokraten Otto Geßler im Reichswehrministerium. Geßler erschien vor allem der sächsischen SPD als untragbar, während sich die Parteien der „Arbeitsgemeinschaft“ für ihn einsetzten. Da das Zentrum ein drohendes Scheitern der Kabinettsbildung wegen dieser Frage nicht verantworten wollte, begnügte es sich für Fuchs mit dem neugeschaffenen Posten eines „Reichsministers für die besetzten Gebiete“. Fuchs, der für einen Kabinettsposten überhaupt wenig Neigung mitbrachte, sah sich mit seinem nachträglich geschaffenen und personell wenig ausgestatteten Ministerium ständigen Kompetenzfragen im Verhältnis zu den etablierten Fachressorts gegenübergestellt38. Die bedeutendste Figur des Zentrums im Kabinett blieb Arbeitsminister Heinrich Brauns, der seit Fehrenbach dieses Amt ununterbrochen innehatte und mit der durch ihn maßgeblich beeinflußten Sozialpolitik einer der charakteristischen Staatsmänner der Weimarer Republik war39. Wie Brauns, so kam auch Anton Höfle, der vom Zentrum vorgeschlagene Reichspostminister, ursprünglich aus der Sozialarbeit des Volksvereins für das Katholische Deutschland. Er besaß als Direktor des Gesamtverbandes der Deutschen Staatsbeamten- und Staatsangestelltengewerkschaften eigene Beziehungen zu dieser von der Inflation hart betroffenen Schicht des neuen Mittelstandes40. Für die Demokraten verblieb im Kabinett neben dem Reichswehrminister Geßler der Innenminister Cunos Rudolf Oeser, der jetzt das Verkehrsministerium übernahm. Die stärkste Persönlichkeit in der Regierung war aber neben Stresemann ohne Zweifel der parteilose, der DVP nahestehende ehemalige Oberbürgermeister von Essen Hans Luther. Er verblieb zunächst im Amt des Reichsernährungsministers, das er schon unter Cuno übernommen hatte. Die Tätigkeit und die Entschlüsse des Kabinetts wurden in hohem Maße durch seine willensstarke Beharrlichkeit, die sich in zahllosen Vorlagen und Denkschriften äußerte, bestimmt. Diese Zusammensetzung des Kabinetts hinterließ beim Zentrum zunächst einige Verstimmung, da es vergeblich gehofft hatte, in Ergänzung zu seiner als zu gering empfundenen Beteiligung an den Ministerposten wenigstens noch den Reichspressechef stellen zu können. Aber Stresemann berief in dieses Amt seinen Parteifreund, den ehemaligen Generalstäbler und Militärattaché in Madrid Arnold Kalle. Auch die Leitung der Reichskanzlei, seines Führungsinstrumentes, übertrug er einem Mitglied der DVP, dem ihm persönlich[XXX] nahestehenden Reichstagsabgeordneten und früheren Marineattaché in Rom Freiherr von Rheinbaben41.

31

Zur Kabinettsbildung Anm. 1 u. 4 zu Dok. Nr. 1. Über die Verhandlungen der Parteien untereinander und mit Stresemann geben die Akten der RK nichts her. Zum Vorgang der Kabinettsbildung neben Arns auch R. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei, S. 516 ff.

32

Raumer an Stresemann 23.7.1923, Nachlaß Stresemann , Bd. 260.

33

Vgl. hierzu Hagen Schulze, Otto Braun, S. 436 f.; Otto Braun, Von Weimar zu Hitler (1949), S. 52.

34

Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 144.

35

DAZ, 15.8.1923.

36

H. Luther, Politiker ohne Partei, S. 110.

37

Verhandlungen, Bd. 326, S. 637 ff., 10.3.1919.

38

Zur Konstruktion des Rheinministeriums s. Dok. Nr. 82, Anm. 4.

39

U. Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise 1923/24 (Diss. Phil. Kiel 1968).

40

Dok. Nr. 1, Anm. 4.

41

Dok. Nr. 1, Anm. 6.

Stresemann war als Reichskanzler zugleich sein eigener Außenminister. Zu den Kabinettssitzungen zog er als Vertreter des Auswärtigen Amtes gewöhnlich den Staatssekretär von Maltzan oder den Ministerialdirektor von Schubert heran. Auf seinen eigenen Schultern ruhte infolge der Beanspruchung durch das Doppelamt, der Fülle der drängenden Probleme und der von ihm in hohem Maße wahrgenommenen publizistischen und rhetorischen Vertretung seiner Politik eine solche Arbeitslast, daß sie ihn, der über keine robuste Gesundheit verfügte, mehrmals an den Rand des physischen Zusammenbruchs brachte. Die Protokolle der Kabinettssitzungen und Ministerbesprechungen vermitteln dabei keinesfalls den Eindruck, daß er, der nach dem Urteil Luthers das Kabinett „sachkundig und zielbewußt“ führte42, im Kollegium der Reichsregierung, an deren Sitzungen er häufig nur für begrenzte Zeit teilnahm, eine dominierende Rolle spielte. Seiner taktischen Geschicklichkeit war, mit den Worten Radbruchs, „so viel menschliche Wärme beigemischt, daß er auch persönlich für sich gewann. So war das Verhältnis der sozialdemokratischen Minister seines Kabinetts zu ihm das denkbar beste“43. Ein erheblicher Teil seines persönlichen Einsatzes lag außerhalb dessen, was aus den Reichskanzleiakten erfaßbar ist. Zu seiner Führungskunst gehörte die Fähigkeit des aktiven Zuwartens, beobachtend den Gang kontroverser Meinungen zu registrieren, sich nicht vorzeitig festzulegen und notwendige Entscheidungen aus der Entwicklung einer Konstellation heranreifen zu lassen.

42

Luther, S. 120.

43

G. Radbruch, Der innere Weg, S. 124.

Von den Mitgliedern des ersten Kabinetts Stresemann gehörten vier nicht dem Reichstag an: der Sozialdemokrat Hilferding, der Zentrumsangehörige Fuchs, der Demokrat Oeser und der parteilose Luther. Die Formallegitimation der Regierung der Großen Koalition durch das Parlament beruhte ihrerseits auf der Reallegitimation durch den Koalitionswillen der Regierungsparteien. Er trug die Regierung in den entscheidungsbelasteten Wochen von Mitte August bis Ende September, in denen der Reichstag nicht tagte. In dieser Zeit wurde der Abbruch des passiven Widerstandes vorbereitet und vollzogen. Aber diese Übereinstimmung in der außenpolitischen Fundamentalentscheidung bedeutete nicht, daß für die sich gleichzeitig oder als Folge von ihr sich stellenden innen-, sozial- und wirtschaftspolitischen Probleme ein ähnlicher Konsens gegeben gewesen wäre. Einig waren sich die Partner nur im Verhältnis zum Parlament, das am 27. September wieder zusammentrat. Wenn schon in der Zwischenzeit weitgehend mit Hilfe des Artikels 48 regiert worden war – dem Reichstag lagen an diesem Tage nicht weniger als acht vom Reich und den Ländern erlassene Notverordnungen vor44 –, so gedachte die Koalitionsregierung, durch ein vom Reichstag[XXXI] zu beschließendes Ermächtigungsgesetz sich noch in viel weitgehenderer Weise von parlamentarischer Kontrolle unabhängig zu machen. In der Kabinettssitzung vom 30. September45 gab Brauns das Stichwort. Es sei notwendig, „vom Reichstag große Vollmachten zu fordern“. Hilferding fragte, ob in der gegenwärtigen Lage, wie sie sich nach Aufkündigung des passiven Widerstands im Verhältnis zwischen Bayern und dem Reich ergeben hatte und angesichts einer drohenden Rechtsdiktatur „bei einer Beibehaltung des Reichstags die Situation noch zu beherrschen sei“. Den einzigen Weg, „das Reich zu erhalten“, sah er in einer Vertagung des Reichstags. Sollmann ging einen Schritt weiter. Er hielt „diktatorische Maßnahmen“ für erforderlich und wollte, „daß die Kabinettsmitglieder nicht das Werkzeug ihrer Fraktionen seien“. Er tendierte also auf eine Lösung der Regierung auch von der Parteikontrolle. Aber die Fraktionen erwiesen sich als stärker. Denn ihre unterschiedlichen Einstellungen zu der Frage, für welche Sachbereiche der Regierung Gesetzgebungsvollmacht gegeben werden sollte, zwang das erste Kabinett Stresemann zum Rücktritt. Ausweislich der Reichskanzleiakten handelte es sich hierbei thematisch im wesentlichen darum, ob und wieweit die Regierung Vollmacht erhalten sollte, nicht nur die wirtschaftlichen Sachwerte zu belasten, sondern auch der menschlichen Arbeitskraft Leistungen abzuverlangen, die über die bisherige Norm des Achtstundentags bzw. des Siebenstundentags für Untertagearbeit bei sechstägiger Arbeitswoche hinausgingen46. Der Notwendigkeit, von der geltenden Norm der Arbeitszeit abzuweichen, entzog sich niemand im Kabinett und keine der Regierungsfraktionen. Zu offensichtlich war namentlich in der Kohlenförderung das Produktionsdefizit. Lag doch im Reichsgebiet innerhalb der Grenzen des Versailler Vertrags trotz erheblich vergrößerter Belegschaften die Förderung beträchtlich unter der Förderung von 1913. Ende September 1923 teilte das Wirtschaftsministerium dem Arbeitsministerium mit, „daß in den Steinkohlengebieten des unbesetzten Gebietes die Förderleistungen pro Kopf und Zeiteinheit nicht nur gegenüber 1913, sondern auch noch während des Ruhrkampfes erheblich zurückgegangen seien“47. Umstritten waren im Kabinett nicht die Notwendigkeit der Erhöhung der Arbeitskraft, wohl aber ihr Ausmaß und die Modalitäten. Ohne hier die verwickelte Geschichte des Krisenablaufs im einzelnen nachzeichnen zu wollen, seien die unterschiedlichen Positionen charakterisiert.

44

Verhandlungen des Reichstags, Bd. 361, S. 11897 ff.

45

Dok. Nr. 94.

46

Kabinettsprotokolle und Parteiführerbesprechungen Dok. Nr. 94; 97; 99; 100; 102; 104; 105; 106.

47

U. Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise 1923/24. Die Bedeutung der Sozialpolitik für die Inflation, den Ruhrkampf und die Stabilisierung (Diss. Kiel, 1968); Dok. Nr. 86.

Die Initiative lag beim Arbeitsminister Brauns. In den drei Jahren seiner bisherigen Tätigkeit als Arbeitsminister waren die Arbeitszeitregelungen, die sich aus der Revolution in Form von Demobilmachungsvorschriften ergeben hatten48, bereits mehrere Male modifiziert bzw. in Frage gestellt[XXXII] worden. In den Jahren 1921 und 1922 unternommene Versuche Brauns, die Demobilmachungsverordnungen über die Arbeitszeit durch Arbeitszeitgesetze abzulösen, waren an den Gegensätzlichkeiten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen gescheitert49. Deshalb war es notwendig geworden, daß wiederum auf Antrag von Brauns der Reichstag am 20. März 1923 die Geltungsdauer der Demobilmachungsverordnungen bis zum 31. Oktober 1923 verlängerte. Das Kabinett Stresemann sah sich also durch diese Terminierung mit der Frage der Arbeitszeit unausweichlich konfrontiert. Nun war schon im September 1922 durch ein Überschichtenabkommen für die Kohlenindustrie, dem Gewerkschaften und Unternehmer zugestimmt hatten, die Möglichkeit zu vertraglich vereinbarter Erhöhung der Arbeitszeit geschaffen worden50. Dieses Abkommen hatte es der Reichsregierung ermöglicht, in ihrer Reparationsnote vom 14. November 1922 die Zusage der Steigerung der Produktion mit der Ankündigung zu verbinden, daß zu diesem Zweck eine „Neuregelung des Arbeitszeitrechts unter Festhaltung des Achtstundentags als des Normalarbeitstages und unter Zusicherung gesetzlich begrenzter Ausnahmen auf tariflichem oder behördlichem Wege zur Behebung der Notlage des deutschen Volkes“ in die Wege geleitet werden solle51. Die akute Notlage im Herbst 1923 veranlaßte Brauns am 22. September in einer interministeriellen Ressortbesprechung im Reichsarbeitsministerium weitergehende Pläne für eine generelle, nicht auf die Kohlenindustrie beschränkte Neuregelung zu entwickeln. Arbeitszeitüberschreitungen sollten möglich werden 1. auf Verlangen des jeweiligen Arbeitgebers in begrenztem Maße (20 Tage im Jahr mit zwei Überstunden), 2. aufgrund tariflicher Ausnahmeregelungen bei grundsätzlichem Festhalten am achtstündigen Arbeitstag, 3. durch die Gewerbeaufsichtsämter52. Im Kabinett setzte sich Brauns dafür ein, „die Arbeitszeit auf das Maß zu erhöhen, das gesundheitlich tragbar“ erschien. Dieser „sanitäre Maximalarbeitstag“, wie er ihn nannte, bedeutete konkret: achtstündige Arbeitszeit im Bergbau und eine entsprechende Erhöhung in der übrigen Wirtschaft wie auch in der Verwaltung, wobei „für schwere und gesundheitsgefährdende Arbeiten der Achtstundentag beizubehalten“ sei. Außerdem waren, sozialdemokratischen Bedenken Rechnung tragend, Schutzbestimmungen für Frauen-, Jugend-, Nachtarbeit und dergleichen vorgesehen. Dieses für eine Erklärung Stresemanns vor dem Reichstag vorgesehene Konzept fand nach hartem Ringen in dem unter dem Vorsitz Eberts tagenden Ministerrat vom 1. Oktober allgemeine Zustimmung53. Von den sozialdemokratischen Kabinettsmitgliedern erklärte Vizekanzler Schmidt in dieser Sitzung, er müsse zugeben, „daß es nicht zu entschuldigen sei, daß gegenwärtig, wo wir gezwungen seien, Kohlen im großen Ausmaße aus England einzuführen, die Bergarbeiter in Schlesien nur 7 Stunden arbeiteten“.[XXXIII] Er plädierte aber dafür, diese Frage in der Erklärung des Reichskanzlers nur kurz zu behandeln. Es käme jetzt darauf an, zu „handeln, ohne viel zu reden“. Für die Modalität der Arbeitszeitverlängerung bedeutete dies, daß sie in das erstrebte Ermächtigungsgesetz einbezogen werden sollte. In der Tat erhob sich im Ministerrat vom 1. Oktober von keiner Seite Widerspruch, als Stresemann umfassend formulierte, „die Reichsregierung brauche ein Ermächtigungsgesetz, um die für die Erhaltung der Wirtschaft notwendigen Maßnahmen auf finanzpolitischem und wirtschaftspolitischem Gebiete zu ergreifen“, ferner müsse sie die Möglichkeit haben, „in lebenswichtigen Betrieben eine Verlängerung der Arbeitszeit vorzusehen durch behördliche Regelung“.

48

RGBl. 1918, S. 1334  ff. und 1919 I, S. 315 ff.

49

S. Kabinett Cuno, Dok. Nr. 65, Anm. 6.

50

Kabinett Wirth, Dok. Nr. 360, Anm. 3; 369.

51

Kabinett Wirth, Dok. Nr. 407, Text der Note: RT-Drucksache Nr. 6138, Bd. 379, S. 66 ff.; auch Ursachen und Folgen, Bd. 4.

52

U. Oltmann, Brauns, S. 199.

53

Dok. Nr. 97 und Anlage.

Erheblich anders jedoch stellte sich die Situation in einer Besprechung mit den Parteiführern am folgenden Tage dar54. Hermann Müller erklärte, „der geplante Entwurf des Ermächtigungsgesetzes würde … Erregung schaffen wegen der Frage der Arbeitszeit und der Arbeitslosenversicherung“. Scharf betonte Ernst Scholz demgegenüber für die Deutsche Volkspartei die Notwendigkeit, die Arbeitszeit auf dem Ermächtigungswege drastisch zu erhöhen. Zugleich schockierte er durch die Doppelforderung, das Kabinett personell umzugestalten und die Deutschnationalen in die Koalition einzubeziehen. Da jedermann wußte, daß dies für die Sozialdemokraten unannehmbar war, konnte der Vorstoß von Scholz nur als eine Provokation empfunden werden, die den Zweck hatte, die bestehende Große Koalition aufzukündigen55. In einer zweiten Parteiführerbesprechung am Abend des gleichen Tages erklärte Müller nunmehr, die Ermächtigung könne nur für Finanz und Währung, nicht aber für Sozialpolitik und Arbeitszeit gegeben werden. Was die Sache selbst betraf, so sähen sich die Sozialdemokraten nicht in der Lage, über die in der deutschen Reparationsnote vom November 1922 gemachten Zugeständnisse, d. h. Festhalten an der Norm des Achtstundentags unter gesetzlich begrenzten Ausnahmen, hinauszugehen56. Die Fronten verhärteten sich. Die Sozialdemokraten standen unter dem Druck der Gewerkschaften, die am Achtstundentag als einer Errungenschaft der Revolution festhielten. In der Argumentation spielte auch der Hinweis auf das von Deutschland allerdings nicht ratifizierte Arbeitszeitabkommen der internationalen Arbeitszeitkonferenz von Washington, 1919, eine Rolle. Zudem hatten die Sozialdemokraten im Hinblick auf den kommunistischen Konkurrenten auf die Stimmung der Arbeiterschaft Rücksicht zu nehmen57. Auf der Unternehmerseite hatte, wie Stresemann dem Kabinett mitteilte58, inzwischen der Bergbauliche Verein im Ruhrgebiet „trotz entgegenstehender Gesetze“ den Achteinhalbstundentag eingeführt59. Dieses einseitige Vorgehen[XXXIV] löste bei der organisierten Arbeiterschaft helle Empörung und heftige Proteste aus. Fast verzweifelt suchte das Kabinett aus der Polarisierung der Fraktionen und der hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Kräfte herauszukommen. Am Abend des 2. Oktober wurde die Erhöhung der Arbeitszeit in die Regierungserklärung hineingenommen, und zwar acht Stunden für den Bergbau, für die übrige Industrie entsprechend, während sich das Ermächtigungsgesetz auf finanzielle und wirtschaftliche Maßnahmen beschränken sollte unter dem Einverständnis, daß unter wirtschaftlichen auch soziale Maßnahmen zu verstehen seien60. Die SPD-Fraktion lehnte jedoch diese Forcierung der Arbeitszeiterhöhung ab und bestand auf parlamentarischer Regelung. Die sozialdemokratischen Minister, durch den Fraktionsbeschluß gebunden, aber immer noch nach einem Kompromiß suchend, erklärten sich nunmehr, einem Vorschlag der Demokraten folgend, bereit, bei einer parlamentarischen Regelung „das früher vom Arbeitsministerium ausgearbeitete Arbeitszeitgesetz aufzunehmen und durch den Reichstag annehmen zu lassen“61. Dieser Vorschlag entsprach62 auch dem Beschluß ihrer Fraktion. Sie behielten sich jedoch vor, im Reichstag Abänderungsanträge zu stellen, und vermochten auch nicht, trotz drängender Fragen Brauns, die Zusicherung zu geben, daß sie sich im Reichstag kommunistischen Anträgen gegen die Erhöhung der Arbeitszeit im Bergbau versagen würden. Dennoch waren Zentrum und Demokraten bereit, um die Koalition zu erhalten, das Zugeständnis einer parlamentarischen Regelung der Arbeitszeitfragen zu machen. Schwere Bedenken äußerte Luther: In dem vorgesehenen Arbeitszeitgesetz handele es sich nur um zulässige Überschreitungen der Arbeitszeitnorm, aber nicht um die notwendige Erhöhung der Norm selber. Für ungerechtfertigt hielt es auch Geßler, eine Aufteilung der Regierungsvorhaben in Gesetzgebung und Verordnung nach dem Prinzip vorzunehmen: „Was gegen den Besitz gerichtet sei, solle im Verordnungswege, was gegen die Arbeiterklasse gehe, solle durch Gesetz angenommen werden“63. Stresemann versprach, den – aussichtslosen – Versuch zu unternehmen, seine Fraktion umzustimmen64. Da sich dies als unmöglich erwies, zog das Kabinett die Konsequenz und trat am Abend des 3. Oktober zurück65.

54

Dok. Nr. 99.

55

So Hilferding in der Kabinettssitzung vom gleichen Abend, Dok. Nr. 102; vgl. ähnliche Äußerung des Staatssekretärs Ago von Maltzan, zit. bei G. Arns, Krise, S. 196.

56

Dok. Nr. 100 und Anm. 7.

57

Vgl. auch die Äußerungen von Vizekanzler Schmidt in der Kabinettssitzung vom 3. 10., Dok. Nr. 106.

58

Dok. Nr. 106.

59

Ferner Dok. Nr. 95; 111; 238; 255.

60

Dok. Nr. 102.

61

S. hierzu L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 272 f. Texte: Dok. Nr. 102.

62

Laut Vorwärts Nr. 463 vom 4.10.1923, G. Arns, Krise, S. 190, Anm. 35.

63

Dok. Nr. 105.

64

Ibid.

65

Dok. Nr. 106.

 

Stresemann hat in dieser Krise erfahren müssen, wie sehr die Aktionsfähigkeit seiner Regierung durch die inneren Gegensätze in seiner Partei und in seiner Fraktion behindert wurde66. Es kam aber nicht zu dem Kabinettswechsel und zu der Einbeziehung der Deutschnationalen in die Regierung,[XXXV] die in der Logik der Beschlüsse der DVP-Fraktion gelegen hätte. Denn da die DVP keine praktikable Alternative zu Stresemann wußte, die Mehrheit der Fraktion entschlossen war, an ihm festzuhalten, und die Bildung einer überparteilichen Regierung unter Stresemann sich als unmöglich erwies, fiel man auf die Große Koalition zurück. Hilferding und von Raumer jedoch, in denen sich der Wille zur Zusammenarbeit von Arbeiter- und Unternehmerpartei ursprünglich besonders verkörpert hatte, schieden aus. Die DVP-Fraktion hatte den Rücktritt beider verlangt. Raumer demissionierte bereits am 2. Oktober. Hilferding im Ministerium zu halten, machte auch seine eigene Partei keine Anstrengung67. Für die Neubesetzung des Postens des Finanzministers dachte Stresemann an den Direktor der Darmstädter und Nationalbank Hjalmar Schacht. Schacht galt als erstklassiger Finanzsachverständiger und hatte in der Frage der Währungssanierung eigene Aktivitäten und Ideen gezeigt. Es wurden aber Vorwürfe wegen seiner Tätigkeit bei der deutschen Zivilverwaltung in Belgien während des Ersten Weltkrieges erhoben. So verzichtete Stresemann auf ihn68. Statt dessen wechselte Luther vom Ernährungs- ins Finanzministerium über. Zum Wirtschaftsminister wurde der parteilose ehemalige Offizier und Demobilmachungskommissar Joseph Koeth, bekannt wegen guter Zusammenarbeit mit der SPD in der Demobilmachungszeit, berufen. Das Landwirtschaftsministerium übernahm der parteilose Graf Kanitz, der mit der DVP sympathisierte, aber auch zu den agrarischen Kreisen der Deutschnationalen gute Beziehungen besaß. Der Minister für die besetzten Gebiete Fuchs hatte den Wunsch, zurückzutreten, wurde aber veranlaßt, zu bleiben69. Von politischer Bedeutung war der Wechsel in der Leitung der Reichskanzlei. Rheinbaben hatte sich während der Krise für die Bildung eines auf die Reichswehr gestützten „Kabinetts der Köpfe“ unter Stresemann eingesetzt und war bereit, eine Auflösung des Reichstages in Kauf zu nehmen70. Stresemann trennte sich von ihm und berief an seiner Stelle zum Statssekretär in der Reichskanzlei den Reichstagsabgeordneten Adolf Kempkes71.

66

Material hierzu im Stresemann-Nachlaß; zu den Vorgängen in der Fraktion und zu der „Kampagne gegen das Kabinett Stresemann in der DVP“ besonders ein parteiinternes Rundschreiben des Leiters der Reichsgeschäftsstelle der DVP Adolf Kempkes, Nachlaß Stresemann , Bd. 87; Auszüge hieraus in Dok. Nr. 99, Anm. 13 und Dok. Nr. 102, Anm. 14 und 20.

67

Zum Rücktritt v. Raumers Dok. Nr. 101 und 102; s. u. S. LXXX zum Rücktritt beider Aufzeichnung Stresemanns, Vermächtnis 1, S. 141.

68

Dok. Nr. 118, Anm. 1; Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 146 ff.

69

Dok. Nr. 114.

70

W. Frhr. v. Rheinbaben, Viermal Deutschland, S. 188 ff.; Dok. Nr. 144 und Anm. 37.

71

Ibid., Anm. 42.

Er hatte 1921 in enger Zusammenarbeit mit Stresemann als Reichsgeschäftsführer die Leitung der Gesamtorganisation der Partei übernommen und erwies sich als dessen loyaler Mitarbeiter. „Seine Fähigkeit“, so schrieb die Nationalliberale Korrespondenz nach seinem Tode 1931, „Schwierigkeiten nicht nur im voraus zu ahnen, sondern ihnen auch im voraus zu begegnen, seine Gabe, ausgleichend, einigend und zusammenfassend zu wirken, machte ihn zu dem gegebenen Mann für das Amt, in das ihn Stresemann 1921 berief. Hier war er gewissermaßen eine natürliche Ergänzung des kraftstrotzenden Stresemann.“ Kempkes habe sich als „Hüter der Einheit der Deutschen Volkspartei“ hervorgetan. So hat er sich in der Kabinettskrise Anfang Oktober nicht ohne[XXXVI] Erfolg bemüht, die Rebellion in der Fraktion gegen Stresemann aufzufangen, und so sollte er sich in der Krise Anfang November erneut als der zuverlässige Vertrauensmann Stresemanns in der Fraktion bewähren. Die von ihm ausgeübte Funktion kann mit der eines parlamentarischen Staatssekretärs verglichen werden. Um ihn zu entlasten, wurde die innere Amtsführung einem Beamten der Reichskanzlei, Franz Kempner, übertragen, der später unter Luther selber zum Staatssekretär der Reichskanzlei aufstieg und 1944 als Gegner Hitlers hingerichtet wurde72.

72

Ibid., Anm. 43.

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