2.56.1 (str1p): Ruhrfrage.

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Ruhrfrage.

Der Reichskanzler eröffnet die Sitzung im Hinweis darauf, daß es darauf ankomme, Entschlüsse zu fassen über die Möglichkeit der Einschränkung der Ruhrausgaben. Die gegenwärtige Finanzlage sei mit in erster Linie in [!] diesen Ausgaben verursacht und gebe zu den schwersten politischen Befürchtungen Anlaß1. Andererseits wäre bei der außenpolitischen Lage2 eine Aufgabe des Widerstandes ebenfalls mit schwersten politischen Nachteilen verbunden.

1

Nach einem Schreiben des RFM an die RReg. vom 15. 9. war die schwebende Schuld zwischen dem 1. und 12.9.23 von 93 auf 145 Billionen M angewachsen. Die Ausgaben für den Ruhrkampf hatten in der Woche vom 2. bis 8.9.230 Billionen M betragen und waren damit um 116 Billionen M höher als in der Vorwoche gewesen; für die laufende Woche wurden Ausgaben in der Höhe von 900 Billionen M erwartet (R 43 I /2357 , Bl. 262).

2

S. Anm. 11 zu Dok. Nr. 55, sowie die Ausführungen in Dok. Nr. 59.

Der Reichsminister der Finanzen referierte über die Finanzlage des Reichs und insbesondere über die Ausgaben für das Ruhrgebiet. Es seien mehrere Vorschläge für die Kürzung dieser Ausgaben zwischen den Ressorts und den Interessentenvertretungen ausgearbeitet worden. Unter Berücksichtigung der Lage der Arbeiterschaft einerseits und der Leistungsfähigkeit der Industrie andererseits erscheine ihm ein Plan, wonach innerhalb von 3 Wochen die Materialzuschläge um 40% gekürzt würden und eine Feierschicht eingelegt würde, so daß insgesamt eine Ersparnis von 50% sich erzielen ließe, empfehlenswert3.

3

Über die Leistungen des Reichs an die Eisen- und Stahlindustrie führte der REM in einem Schreiben an den StSRkei vom 2.10.23 aus; der Ersatz unproduktiver Löhne sei zunächst nach den Bedingungen der Lohnsicherung, dann in einem Abkommen vom 5.6.23 derart geregelt worden, „daß zunächst nur 66⅔%“ von der Außenstelle des RWiMin. in Hamm ersetzt worden seien. In der Woche vom 9.–15. 9. seien 46 856 347 000 000 M gezahlt worden; außerdem hätten die Hüttenwerke seit April einen wertbeständigen Kredit gewährt bekommen (R 43 I /215 , Bl. 247). Zum „Materialzuschlag“ s. Anm. 11 zu Dok. Nr. 44.

[265] Staatssekretär Dr. Geib widersprach der Möglichkeit, irgendwelche Lohnkürzungen vorzunehmen. Auch andere Abstriche kämen nur in geringem Maße in Frage. Vielmehr müsse man grundsätzlich sagen, daß jeder Abbau der Unterstützung binnen kurzem zu einem Zusammenbruch des Widerstandes führen müsse4. Er bitte daher, von solchen Schritten Abstand zu nehmen und die Sachlage im gegenwärtigen Zustande zu belassen, bis es gelinge, eine politische Einigung zu erzielen.

4

Der Staatskommissar für öffentliche Ordnung hatte am 5. 9. über die Lage im Ruhrgebiet berichtet: „Die Ernährungsschwierigkeiten und der immer noch bestehende Zahlungsmittelmangel haben unter großen Teilen der Bevölkerung eine nervöse und stark gespannte Stimmung geschaffen. Von Besatzungsagenten und linksradikalen Elementen wird diese Lage ausgenutzt, um der Bevölkerung das angebliche Verfehlte des passiven Widerstandes klar zu machen und sie zur Selbsthilfe aufzufordern“ (R 43 I /215 , Bl. 11). Andererseits hatte der Essener Vorsitzende des DGB Breddemann der „Pressestelle Rhein-Ruhr“ am 10. 9. mitgeteilt: „Allgemein ist die Lage im Augenblick im ganzen Gebiet ruhig. Der gewaltige Marksturz kommt in den Preisen täglich mehr zum Ausdruck. Hier liegt ein Moment der Beunruhigung. Die Sorge um den Lebensunterhalt lastet in starkem Maße auf den Massen. – […] An dieser Stelle soll nochmals scharf betont werden, daß die für die Wirtschaft im Ruhrgebiet maßgebende Bevölkerung nach wie vor aufs schärfste in ihrer ablehnenden Stellung gegenüber den fremden Wünschen verharrt“ (R 43 I /215 , Bl. 68).

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete sowie der Preußische Wohlfahrtsminister5 stimmten den Ausführungen des Vertreters des Reichsarbeitsministeriums zu und erklärten übereinstimmend, daß wohl gewisse unerhebliche Ersparnisse möglich seien, daß aber jede ins Gewicht fallende Kürzung mit einer Aufgabe des Widerstandes gleichbedeutend sei.

5

Zur Haltung des PrWohlfM s. Dok. Nr. 41.

Staatssekretär Stieler bestätigte das Gleiche für die Eisenbahnarbeiter, welche übrigens schwerlich anders behandelt werden könnten als die Beamten6.

6

Zur Situation der Eisenbahner s. Dok. Nr. 50.

Ministerialdirektor Schäffer führte aus, daß auch die vom Reichsminister der Finanzen angeregten Kürzungen der Materialzuschläge an die Industrie7 recht bedenklich seien. Die Industrie verfüge nicht über genügend liquide Mittel, um diese Lasten selber zu tragen und es seien daher bei etwaiger Vornahme solcher Abstriche Betriebseinschränkungen und, als Folge davon, Unruhen zu befürchten.

7

Vgl. hierzu auch Anm. 6 zu Dok. Nr. 44.

Der Reichsminister der Finanzen wies auf die außerordentliche Ausdehnung des Kreises der Unterstützungsempfänger hin und regte an, ob sich nicht dieser wenigstens beschränken lasse auf diejenigen Personen, die bei Beginn der Ruhraktion in den Betrieben beschäftigt gewesen seien.

Staatssekretär Dr. Geib bezweifelte auch die Möglichkeit einer solchen Maßnahme, insbesondere weil es an jeder geordneten Verwaltung in dem besetzten Gebiet fehle, die in der Lage sei, eine Kontrolle auszuüben8.

8

Im Bericht Breddemanns (s. o. Anm. 4) war zur Lohnsicherung ausgeführt worden: „Eine betrübende Erscheinung im Abwehrkampf ist der vielfache Mißbrauch, der mit der Möglichkeit der Lohn- und Existenzsicherung getrieben wird. Je mehr das Ruhrgebiet wirtschaftlich lahmgelegt wird, desto mehr tritt die übliche Erscheinung auf, daß sich alles auf den ohnedies so schwachen Vater Staat verläßt. Ich habe ganz zuverlässige Beweise dafür, daß z. B. in Dortmund selbst die Nachtvergnügungsstätten wie ‚Jungmühle‘, ‚Fledermaus‘ usw. in Lohnsicherung und nachher in Existenzsicherung längere Zeit genommen worden sind. In bestimmten kleineren Berufen kommen allwöchentlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen und einigen sich in friedlichster Weise über die Höhe der Löhne, die von der Lohnsicherung gefordert werden sollen“ (R 43 I /215 , Bl. 70).

[266] Der Reichskanzler richtete nochmals die Frage an die anwesenden Ressortvertreter, 1., ob es möglich sei, Kürzungen eintreten zu lassen und 2., welche finanzielle Wirkung sich dabei erzielen lasse. Es sei doch ein bedauerlicher Zustand, daß, obgleich notorisch Auswüchse in der Verteilung der Unterstützungsgelder bestünden, diese sich nicht beseitigen ließen, und daß jede Kürzung der Unterstützung die Folge habe, die betroffenen Kreise dem Gegner in die Arme zu treiben9.

9

S. hierzu Dok. Nr. 60.

Der Preußische Finanzminister erkannte die Berechtigung dieses Einwandes voll an, glaubte aber dennoch, insbesondere unter Bezugnahme auf die letzten Besprechungen mit den Vertretern aus den besetzten Gebieten, feststellen zu müssen, daß mehr oder weniger jeder Abbau der Unterstützung automatisch ein Abbröckeln des passiven Widerstandes zur Folge haben werde. Unter diesen Umständen bleibe nichts anderes übrig, als nach Möglichkeit noch eine Zeit lang durchzuhalten und inzwischen eine politische Lösung anzustreben.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete bestätigte diese Auffassung und wies noch darauf hin, daß selbst, wenn vorübergehend gewisse Ersparnisse durch Kürzungen erzielt würden, die Wirkung solcher Einschränkungen binnen kurzem durch andere Einflüsse (insbesondere Lohnforderung usw.) hinfällig würde.

Der Reichsminister der Finanzen bat unter nochmaligem dringenden Hinweis auf die großen innerpolitischen Gefahren, welche ein Fortbestand der gegenwärtigen Finanzlage mit sich brächten, die ganze Angelegenheit erneut in einer Sitzung des Reichsministeriums unter Zuziehung des Preußischen Staatsministeriums zu prüfen10.

10

S. Dok. Nr. 59.

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