2.83.2 (str1p): a) Frage der Zurückziehung der Ruhrgebietsverordnungen.

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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a) Frage der Zurückziehung der Ruhrgebietsverordnungen.

Der Herr Reichswirtschaftsminister bemerkt, daß in der Ressortbesprechung über die Frage der Zurückziehung der Spionageverordnung1 gewisse Differenzen bestanden hätten. Er sei der Auffassung, daß eine Zurückziehung dieser Verordnung nicht notwendig sei. Außerdem habe er gewisse Bedenken gegen den § 3 der vorliegenden Aufhebungsverordnung2 geltend zu machen.

1

Gemeint ist die VO vom 3.3.23 (RGBl. I, S. 159 ) mit der Ergänzung vom 11.8.23 (RGBl. I, S. 795  f.) durch die militärische, politische und Wirtschaftsspionage mit Strafen bis zu 10 Jahren Zuchthaus, 500 Mill. M und Ehrverlust bedacht werden konnte.

2

Der Entwurf der VO konnte nicht ermittelt werden.

Der Herr Reichsminister der Justiz bittet, unter allen Umständen auch die Spionageverordnung zurückzuziehen.

Der Herr Reichskanzler erklärt, daß er es aus außenpolitischen Gründen für ganz unmöglich halte, irgend eine Verordnung von der Zurückziehung auszuschließen.

Das Kabinett schließt sich dieser Auffassung an3. Außerdem wird der § 3 der Verordnung gestrichen.

3

Die Aufhebung der SpionageVO ist im letzten Absatz des § 1 der VO vom 27.9.23 zur Aufhebung der Ruhreinbruch-VO enthalten (RGBl. I, S. 911 ).

Der Herr Generalkommissar im Reichsministerium für die besetzten Gebiete fragt an, ob auch die Verbote beseitigt werden, die ursprünglich der französischen Pfänderpolitik entgegenwirken sollten. Es handele sich hier hauptsächlich um die Anweisung an die Beamten der Domänen und der fiskalischen Bergbauverwaltung4.

4

Auf die Anordnung der Regierungen Frankreichs, Italiens und Belgiens, als Sanktion gegen die deutschen Minderleistungen in den Reparationen die Domanialforsten auf der linken Rheinseite auszubeuten (17.1.23; Schultheß 1923, S. 14) hatten die RReg. und die Ministerien der betroffenen Länder mit der Anordnung reagiert, daß dt. Beamte den Anweisungen der Besatzung nicht Folge zu leisten hätten und alle Anordnungen im altbesetzten Gebiet, die im Widerspruch zum Rheinlandabkommen stünden, unwirksam seien (Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1003). ReichskohlenKom. Stutz hatte am 18.1.23 die Lieferung von Kohle und Koks an Frankreich und Belgien verboten und auf die strafrechtlichen Folgen der Nichtbeachtung seines Verbots aufmerksam gemacht (Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1002b).

Der Herr Reichsverkehrsminister ist der Auffassung, daß diese Anweisungen und Verordnungen auch aufgehoben werden müßten, gleichzeitig fragt er,[379] wie es sich mit dem Verbot an die Eisenbahner, in Regiedienste zu treten5, nunmehr verhalte6.

5

Es handelt sich um die VO des RVM Gröner vom 24.3.23: „Verbot der Befolgung von Anordnung der Regie für die Eisenbahnen der besetzten Gebiete.“ Darin wurde ausdrücklich die Zusammenarbeit mit der Regie untersagt. Die Arbeit dürfe erst dann wieder aufgenommen werden, wenn die Bahnbetriebsstätten von den Franzosen und Belgiern geräumt seien (RVerkehrsBl. 1923, Abt. A Nr. 18). RVM Oeser hob diese VO zusammen mit 38 weiteren Anordnungen am 28.9.23 auf (RVerkehrsBl. 1923, Abt. A Nr. 50). Am gleichen Tag erhielt der RVM zwei Telegramme der RB-Direktion Essen, daß die Aufforderung der Regie an die Eisenbahner überwiegend positiv beurteilt werde. Allerdings sollten nur Eisenbahner von der Regie übernommen werden, die im besetzten Gebiet geboren und nicht zuvor ausgewiesen oder auf der Ausweisungsliste verzeichnet seien (R 43 I /215 , Bl. 225–226).

6

GeneralKom. Schmid wies die RM am gleichen Tag in einem Brieftelegramm auf den Beschluß hin, die VerbotsVO zur Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten aufzuheben: „Die Post und Telegraphenverwaltung im besetzten Gebiet soll unverzüglich ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Das Personal in den von den Besatzungsmächten übernommenen Verwaltungen und Betrieben ist anzuweisen, weitere Anordnungen der vorgesetzten Stellen über die Arbeitsaufnahme abzuwarten und sich bis dahin zurückzuhalten.“ Die Leitung für den Abbau des passiven Widerstands liege bei dem RMbesGeb. (Pol. Arch.: Handakten von Schubert E, Auswertung, Bd. 2).

Der Herr Reichswirtschaftsminister glaubt, daß es vorerst notwendig wäre, Klarheit über das Verhalten der Gegenseite zu gewinnen. Er schlage daher vor, sobald als möglich einen Kommissar in das neubesetzte Gebiet zu entsenden. Die Entwicklung der Gesamtlage nach Aufhebung des passiven Widerstandes müsse festgestellt und beobachtet werden7.

7

Vgl. dazu auch Dok. Nr. 82, P. 1 und 3.

Der Herr Reichskanzler berichtet kurz, daß er heute die Botschafter bzw. Gesandten von England, Frankreich, Italien, Amerika und Belgien empfangen habe und ihnen die Aufhebung des passiven Widerstandes notifiziert habe. Er habe besonders an den belgischen Gesandten die Frage gerichtet, in welcher Weise nun beabsichtigt werde, den Zustand in dem besetzten Gebiet einer Änderung zu unterziehen8.

8

Von einer Notifikation kann nicht gesprochen werden, da der RK entsprechend den Kabinettsbeschlüssen vom 25.9.23 den diplomatischen Vertretern der Alliierten den Abbruch des Widerstandes mündlich mitgeteilt hatte; s. dazu Vermächtnis I, S. 135. Die Unterredung mit D’Abernon hatte um 10.30 Uhr stattgefunden, mit de Margerie um 11 Uhr, mit dem belg. Gesandten Comte della Faille de Leverghem um 12 Uhr, mit dem ital. Botschafter Bosdari um 12.30 Uhr und mit dem amerik. Botschafter Houghton um 13.15 Uhr (BA: NL von Stockhausen  15). Zur Unterredung mit D’Abernon s. Vermächtnis I, S. 135 ff. StS von Maltzan, der die dt. Auslandsvertretungen am 27.9.23 von diesen Unterredungen unterrichtete, teilte mit, mit de Margerie sei die Frage der nächsten alliierten Schritte besprochen worden. Der frz. Botschafter habe die frühere Mitteilung bestätigt, Poincaré werde sofort nach Aufgabe des passiven Widerstands Verhandlungen beginnen. De Margerie wolle sich unverzüglich in Paris informieren, wie sich die frz. Regierung die Regelung der einzelnen Fragen denke (Pol. Arch.: Büro RM 14 – 5, Bd. 1). Aus einer Aufzeichnung von Maltzans über eine Unterredung mit dem frz. Botschafter am 29.9.23 geht hervor, daß in Frankreich zunächst der Eindruck bestand, es seien nur 5 VO aufgehoben worden, u. a. aber nicht das Verbot für „Reparationslieferungen im freien Verkehr“. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wies von Maltzan daraufhin, daß aus dem Verhalten des frz. MinPräs. und frz. Pressemeldungen der Eindruck entstanden sei, „daß Herr Poincaré sich auf einen Dauerzustand in der Ruhr einzurichten schiene und mit Hilfe deutscher Arbeiter sich die Reparationslieferungen aus der Ruhr selber verschaffen wolle.“ Auf die Frage, ob es zutreffe, daß dem frz. Botschafter entsprechende Verhandlungen verboten worden seien, erwiderte de Margerie vertraulich, er habe „die Anweisung von Paris bekommen, wonach sie über den Ton des Aufrufes sehr erstaunt seien, insbesondere sei Herr Poincaré wenig angenehm berührt gewesen.“ Ein RKom. für die „Wiederherstellung der Arbeitsaufnahme“ werde von Frankreich nicht akzeptiert werden. Hieraus und aus der weiteren Gesprächsführung gewann der StS den Eindruck, „als ob Poincaré tatsächlich beabsichtige, zunächst zu versuchen, mit Hilfe der Arbeiter und Beamten niederer und mittlerer Kategorien das Ruhrgebiet selbst in die Verwaltung zu nehmen. – Ich hatte schließlich den Eindruck, daß Herr de Margerie durch die Mitteilung, daß das Reparationsverbot aufgehoben sei, erleichtert und einer vielleicht unangenehmen Aufgabe […] enthoben sei“ (Pol. Arch.: Büro RM PA, Bd. 1). Der belg. Gesandte wurde von Stresemann u. a. auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich aus der formalen Ausführung des Beschlusses zur Aufhebung des passiven Widerstandes ergaben. „Der Herr Gesandte zeigte für die Frage großes Interesse und versicherte, daß er sich sofort mit seiner Regierung in Verbindung setzen werde und hoffe, mir sehr bald die Auffassung der belgischen Regierung mitteilen zu können“ (Pol. Arch.: NL Stresemann 2). Botschafter Sthamer konnte bereits am 27. 9. über die Reaktion aus London berichten, Lord Curzon sehe in der Aufgabe des passiven Widerstandes eine völlig neue Situation, durch die das Zurückgreifen auf frühere Noten und Verhandlungen völlig unnötig werde. Nach einem Fehlschlag werde England nicht wieder die Initiative ergreifen und Deutschland solle keine Bedingungen stellen. „Dabei kam er auf Verhandlungen zwischen Deutschland und französischen Industriellen über Beteiligung an der deutschen Industrie und sprach sich mit einer gewissen Erregung und sehr bestimmt dagegen aus. Derartige Abmachungen würden unter allen Umständen jedes Interesse Englands an Deutschland vollständig erledigen.“ Daran zeige sich die Furcht vor einer frz. Wirtschaftshegemonie. Der weitere Fortgang solle durch eine alliierte Reparationskonferenz kommen, die evtl. Deutschland durch einen Schritt bei den Botschaftern anregen könne (Pol. Arch.: Büro RM 6, Bd. 2).

[380] Der Herr Reichsminister für die besetzten Gebiete ist ebenso wie der Herr-Reichswirtschaftsminister der Auffassung, daß tunlichst bald ein Kommissar dorthin entsandt werden müsse, um gewisse Klarheit für die Folgezeit über die Verhältnisse zu gewinnen.

Das Kabinett stimmt der Auffassung, einen Kommissar zu entsenden, grundsätzlich zu, das weitere veranlaßt der Reichsminister für die besetzten Gebiete9.

9

Der RMbesGeb. benannte als Persönlichkeiten, die den Besatzungsbehörden unbelastet erscheinen und daher, sowie wegen ihrer frz. Sprachkenntnisse, für den Posten des Kommissars geeignet sein würden, in einem Schreiben an den RK vom 29.9.23: „1. der Oberregierungsrat v. Sybel, der zur Zeit die Leitung der Geschäfte beim Oberpräsidium in Koblenz hat, 2. Oberregierungsrat Dr. Budding, früherer stellvertretender Regierungspäsident in Köln, zur Zeit in besonderem Auftrage in Schlesien, 3. der mit der Verwaltungsorganisation des besetzten Gebietes vertraute und im Rheinland gebürtige Regierungspräsident von Halfern in Hildesheim. Daneben käme als wirtschaftlicher Vertreter Geheimrat Brecht vom Reichskohlenkommissar in Frage. Für Verhandlungen mit dem General Degoutte käme der sehr gewandte Landeshauptmann Dr. Horion in Düsseldorf in Betracht“ (R 43 I /215 , Bl. 229). Gegenüber Botschafter de Margerie führte StS von Maltzan am 29.9.23 aus, daß es dringend erwünscht sei, „entweder eine Kommission zu bilden oder zum wenigsten eine mit den lokalen Verhältnissen vertraute, vielleicht sogar im Ruhrgebiet ansässige Persönlichkeit zu bestimmen, die als Vermittler und Vertrauensperson zwischen französischen und deutschen lokalen Behörden fungieren könne, die auch den Franzosen unter Umständen sehr nützlich werden würde. – Herr de Margerie sah dies absolut ein, enthielt sich jedoch einer Äußerung und wird seiner Regierung hierüber berichten. – Ich erwähnte in diesem Zusammenhange die Persönlichkeit des Herrn Brecht, der mir von Herrn Raumer als besonders vertrauenswürdige Persönlichkeit zur Wiedereinrenkung der Kohlenfrage und des Kohlensyndikats genannt worden sei“ (Pol. Arch.: Büro RM PA, Bd. 1).

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