2.41 (str1p): Nr. 41 Der Preußische Minister für Volkswohlfahrt an den Reichsarbeitsminister. 4. September 1923

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Text

RTF

Nr. 41
Der Preußische Minister für Volkswohlfahrt an den Reichsarbeitsminister. 4. September 19231

1

Der RArbM übermittelte diese Abschrift an den StSRkei am 11.9.23 mit dem Bemerken, daß die Anregungen des PrMVolkswohlf zum Gegenstand einer Ressortbesprechung gemacht werden solle (R 43 I /2028 , Bl. 244).

R 43 I /2028 , Bl. 246–250 Abschrift

Betrifft: Besprechung mit Arbeitgebern des besetzten Gebiets am 29. August d. Js. über die Lohnsicherung und die Notstandsarbeit.

In der Besprechung sind die schweren Schäden, die das bisherige System der Lohnsicherung und der Notstandsarbeiten mit sich gebracht hat2, allseitig anerkannt worden. In Ergänzung der in der Besprechung von meinem Referenten gemachten Ausführungen gestatte ich mir noch folgendes vorzutragen:

2

S. Dok. Nr. 33, P. 1.

[190] Die Ausgaben für die unterstützende Erwerbslosenfürsorge sind in der Zeit vom Sonnabend, den 4. August bis Sonnabend, den 25. August angewachsen wie folgt:

Koblenz

von

122

auf

2 000

Milliarden

Köln

von

107

auf

2 033

Milliarden

Düsseldorf

von

543

auf

14 428

Milliarden

Aachen

von

171

auf

2 455

Milliarden

Trier

von

35

auf

328

Milliarden

Wiesbaden

von

91

auf

1 046

Milliarden

Arnsberg

von

60

auf

1 092

Milliarden

Münster

von

7

auf

249

Milliarden

Die produktive Erwerbslosenfürsorge ist in der Zeit vom 4. bis 25. August d. Js. gestiegen wie folgt:

Koblenz

von

14

auf

600

Milliarden

Köln

von

25

auf

598

Milliarden

Düsseldorf

von

177

auf

1 781

Milliarden

Aachen

von

67

auf

1 149

Milliarden

Trier

von

15

auf

236

Milliarden

Wiesbaden

von

11

auf

133

Milliarden

Arnsberg

von

40

auf

548

Milliarden

Münster

von

11

auf

236

Milliarden

Ausführungen darüber, daß eine derartige Entwicklung der Ausgaben in Zukunft nicht durchzuhalten ist, erübrigen sich3.

3

In einer Besprechung von Mitgliedern des Reichskabinetts und des Preußischen Staatsministeriums mit den RegPräs. von Köln, Düsseldorf und Wiesbaden, die unter Vorsitz von MinPräs. Braun am 31.8.23 stattgefunden hatte, war vom RFM u. a. ausgeführt worden, „daß es sich nicht vermeiden läßt, die Ausgaben für die unterstützende und produktive Erwerbslosenfürsorge im besetzten Gebiet durch sparsame Bewirtschaftung und durch Beseitigung von Auswüchsen erheblich einzuschränken. […] Die gestern versammelten Mitglieder der Kabinette waren sich einig darüber, daß das Wirtschaftsleben im besetzten Gebiete soweit als möglich in Gang gehalten und daß mehr als bisher eine weitere Stillegung von Betrieben mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Wenn es auch nicht möglich sein wird, sofort eine durchgreifende Änderung des augenblicklichen Zahlungssystems auf dem Gebiet der Erwerbslosenfürsorge eintreten zu lassen, so müssen zum mindesten sofort alle Maßnahmen getroffen werden, die geeignet sind, die größten Mißstände zu beseitigen und die ins Wanken geratene Finanzverwaltung wieder herzustellen“ (R 43 I /2028 , Bl. 230/231).

Soll der Abwehrkampf weiter fortgeführt werden, so müssen neue Mittel und Wege gesucht werden, um die finanziellen Lasten erträglicher zu gestalten. Wie ich bereits in meinem Schreiben vom 11. August dieses Jahres […] ausgeführt habe4, kann dies meines Erachtens nur in der Weise geschehen, daß der Schwerpunkt des Abwehrkampfes von der Lohnsicherung und den Notstandsarbeiten mehr auf die Kredithilfe gelegt wird. Wie ich aus dem dortseitigen Schreiben vom 20. August d. Js. […] an das Reichswirtschaftsministerium ersehen habe, ist das dortige Ressort dieser Auffassung beigetreten5. Es[191] gilt jetzt, diese Auffassung so bald wie möglich in die Tat umzusetzen. Hierzu erscheint es mir erforderlich, daß sofort eine Besprechung über die für die Gewährung der Kredithilfe aufzustellenden neuen Grundsätze mit dem Reichswirtschaftsministerium vereinbart wird. Dies stärkere Einsetzen der Kredithilfe wird allerdings nur dann Zweck haben, wenn den Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände mit allem Nachdruck klar gemacht wird, daß die gegenwärtige Lage allmählich so geworden ist, daß jeder Unternehmer sein Letztes hergeben muß, um Deutschland vor dem Bolschewismus und den mit ihm verbundenen Schrecken des Bürgerkrieges zu retten6. Dabei werden den Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände mit aller Deutlichkeit auch die Korruptionserscheinungen, wie sie sich in ihren eigenen Reihen, vor allem in Düsseldorf7, gezeigt haben, vor Augen zu führen sein und Abhilfe aus den Kreisen der Arbeitgeberverbände zu fordern sein8. Ich bin der festen Überzeugung, daß abgesehen vom Ruhrgebiet, in vielen Teilen des besetzten Gebietes, vor allem am Niederrhein die Betriebe mit englischer Kohle hätten länger durchgehalten werden können und es auch bei vorhandenem Willen und dem notwendigen Energieaufwand gelingen wird, bereits geschlossene Betriebe wieder in Gang zu bringen. Hierzu wird es erforderlich sein, daß in jedem einzelnen Arbeitgeberbezirk die Verbandsmitglieder der Arbeitgeberverbände zusammengerufen werden, ihnen die gegenwärtige Lage mit allem Nachdruck auseinandergesetzt und von ihnen verlangt wird, daß ihre Betriebe soweit wie möglich wieder in Gang gesetzt werden. Hierbei werden den Unternehmern des linksrheinischen Gebiets auch nochmals mit aller Offenheit die wirtschaftlichen Folgen auseinanderzusetzen sein, die für sie eintreten müßten, wenn die[192] Betriebe des linksrheinischen Gebiets durch Veränderung der staatsrechtlichen Grenzen dauernd von der Ruhrkohle abgeschnitten würden. Die Frage der Rohstoffbeschaffung und die Abtransportmöglichkeiten müssen hierbei nochmals geprüft, die Betriebe zur gegenseitigen Ergänzung gezwungen werden und vor allem müssen Reich und Staat in weit stärkerem Maße als bisher mit Reichs- und Staatsaufträgen an Betriebe des besetzten Gebiets, vor allem an diejenigen, die zur Wiedereröffnung bereit sind, vorgehen.

4

In R 43 I nicht ermittelt.

5

In diesem Schreiben hatte der RArbM die Ansicht seines zuständigen Abteilungsleiters unterstützt, daß die „Erwerbslosenfürsorge im besetzten Gebiet nur noch mit wachsender Beschränkung“ durchzuführen und Mißbrauch, der sich aus ihrer Anwendung ergebe, nicht mehr zu steuern sei. „Es ist m. E. nicht zu bestreiten, daß die Kredithilfe von Anfang an nicht in dem Maße in Anspruch genommen worden ist, wie es den Absichten der Reichsregierung entsprochen hat. Sie vermögen in Ihrem Ressort besser zu übersehen, aus welchen Gründen das geschehen ist und welche Möglichkeiten jetzt noch gegeben sind, die Entwicklung im umgekehrten Sinne zu beeinflussen“ (R 43 I /2028 , Bl. 245). Die auf dieses Schreiben erbetene Antwort wurde nicht ermittelt.

6

In dieser Äußerung bezieht sich der PrMVolkswohlf auf die Bewegung im rhein. Bergbau s. Anm. 10 zu Dok. Nr. 39.

7

Was damit gemeint ist, läßt sich aus R 43 I nicht feststellen. Möglicherweise bezieht sich auf solche Korruptionsfälle der Briefschreiber aus Düsseldorf namens Rudolf Kunz in einem Schreiben vom 25.4.1929 an den Duisburger OB Jarres, in dem es heißt: „Im Juli-August 1923 begann der große Zerfall der Mark. Die Lage wurde unhaltbar. In Berlin schien nicht das richtige Verständnis für die Nöte des Rheinlandes vorhanden. Die Separatisten entwickelten rege Tätigkeit. – Ich veranlaßte am 29. August eine Besprechung von etwa 20 Herren in Düsseldorf, in welcher ich nach längeren Auseinandersetzungen verschiedener Redner den Vorschlag machte, falls Berlin nicht sofort eingreife, selbst vom Rheinland aus unter stiller Verständigung der Regierung, gegebenenfalls aber auch gegen deren Willen vorzugehen und die separatistische Bewegung so in vaterländische Hände zu spielen, daß nicht alles rettungslos verlorengehe. Ich wurde unterbrochen, bevor ich ausgeredet hatte: ein Teilnehmer wünschte dem Vorsitzenden, mir das Wort zu entziehen da ich Landesverrat beabsichtige. Hiergegen wurde ich zwar von mehreren Seiten gedeckt, verzichtete aber gegenüber solchem Mißverstehen auf weitere Ausführungen“ (BA: NL Jarres  7). S. aber auch die Äußerung des Industriellen Vögler in der DVP-Fraktionssitzung am 11.9.23: Vermächtnis I, S. 118.

8

In der Besprechung am 31. 8. (s. o. Anm. 3) hatte der RFM von Auswüchsen berichtet, „die das Volksganze schädigen. So werden vielfach Arbeiter entlassen und fallen der Lohnsicherung anheim, obwohl die Betriebe nach Lage der Verhältnisse weitergeführt werden könnten.“ Es war dann beschlossen worden, daß mit gesetzlichen Mitteln gegen die Arbeitgeber vorgegangen werde, „die entgegen den gesetzlichen Bestimmungen ihre Betriebe stillegen“ (R 43 I /2028 , Bl. 230 u. 233).

Im Zusammenhang hiermit wird gleichzeitig erneut zu prüfen sein, welche Teile des passiven Widerstandes abzubauen sind, um die übrigen Teile zu retten. Ich weise aber auch nach dieser Richtung darauf hin, daß meiner Überzeugung nach zu Umgehung der vom Feinde erlassenen Verordnungen mehr getan werden muß als bisher. Es muß von der Industrie eine großzügigere Organisation zur Bestechung der feindlichen Zollbeamten und zur Durchführung des Schmuggels – vor allem an der holländischen Grenze – geschaffen werden. Auch hierauf werden die Spitzenverbände der Arbeitgeber hinzuweisen sein. Ich kann mich des Eindrucks nicht verschließen, daß ein größerer Teil des Unternehmertums in der Erwartung, daß Reich und Staat die Lasten des Abwehrkampfes tragen, sich zu sehr auf diese Hilfe verlassen hat. Der Ernst der Stunde verlangt es gebieterisch, daß diesen Kreisen klar gemacht wird, daß sie sich in einem schweren Irrtum befinden.

Nur wenn durchgesetzt wird, daß eine größere Anzahl von Betrieben wieder in Gang kommt, wird es auch gelingen, die unzweifelhaft schweren Mißstände auf dem Gebiete der Notstandsarbeiten zu beseitigen9. Die Anordnung, daß die Notstandsarbeiter nur 6 Stunden zu arbeiten und nur 75% des betreffenden Tariflohnes zu erhalten haben10, ist wiederholt erlassen worden. Trotzdem liegen die Notstandsarbeiterlöhne teilweise noch, vor allem in Koblenz, über den Löhnen einer ganzen Reihe von Gewerbszweigen im besetzten[193] Gebiet. Aus Koblenz ist mir erst in diesen Tagen wieder gemeldet worden, daß der Abstrom der Steinarbeiter aus den Steinbrüchen zu den Notstandsarbeiten wieder im Zunehmen begriffen ist. Gegen diese Zustände nutzen Erlasse und Anordnungen von Berlin aus nichts mehr. Es fehlt die tatsächliche Gewalt, um diese Anordnungen durchzuführen. Das einzige Mittel, um diese Mißstände auf dem Gebiete der Notstandsarbeiten zu beseitigen, ist, daß die Gelder gesperrt werden. Aber auch das ist nur möglich, wenn gleichzeitig mit der Stillegung der Notstandsarbeiten wieder Betriebe eröffnet werden, die die brotlos gewordenen Arbeiter aufnehmen könne. Auch dies wird in jedem Bezirk auf das Sorgfältigste von der Kommunalaufsichtsbehörde im engsten Einvernehmen mit den Arbeitgeberverbänden zu prüfen sein und der jeweilige Einstellungsbefehl zu erlassen sein, wenn die Aufnahmemöglichkeiten der Arbeiter in einem Betriebe gesichert ist.

9

Zur produktiven Erwerbslosenfürsorge (Notstandsarbeiten) hatte der RFM am 31. 8. (s. o. Anm. 3) bemerkt: „Groß ist die Zahl derer, die fortgesetzt aus den Betrieben abwandern, weil sie anderwärts bequemere und zum Teil besser bezahlte sogenannte Notstandsarbeiten verrichten können.“ Danach war beschlossen worden: „Die preußische Regierung wird den Regierungspräsidenten eine angemessene Frist setzen, binnen deren sie die vorgeschriebene Anerkennung für sämtliche zur Zeit in Ausführung begriffenen Notstandsarbeiten einzureichen haben. Sie wird den Regierungspräsidenten untersagen nach Ablauf dieser Frist noch Mittel für Notstandsarbeiten zur Verfügung zu stellen, die nicht vorschriftsmäßig anerkannt worden sind. – Für sogenannte wilde Notstandsarbeiten dürfen bei Vermeidung staatlicher Regreßansprüche weder Mittel der produktiven noch der unterstützenden Erwerbslosenfürsorge ausgegeben werden“. (R 43 I /2028 , Bl. 230 u. 232).

10

Hier bestanden Differenzen zwischen den Reichsressorts. In einer Besprechung über produktive Erwerbslosenfürsorge im unbesetzten Gebiet am 8.9.23 wurde zur „Entlohnung der Notstandsarbeiter“ bemerkt: „Nach der Auffassung des Reichsfinanzministeriums sollten Notstandsarbeiter grundsätzlich unter Tarif bezahlt werden. Reichsarbeitsministerium steht nach wie vor auf dem Standpunkt, daß bei den sogenannten ‚unechten‘ Notstandsarbeiten, bei Arbeiten also von produktiven Wert, Tarife gezahlt werden müssen und daß die nachteiligen Wirkungen durch Verkürzung der Arbeitszeit oder Schichtwechsel oder Wechsel der Belegschaft zu bekämpfen sind. Reichswirtschaftsministerium schließt sich dieser Auffassung an. Sollte aus finanziellen Gründen Verkürzung des Lohnes auch bei produktiven Notstandsarbeiten angestrebt werden, so wäre nach Auffassung des Reichsarbeitsministerium Voraussetzung, daß auch Unternehmergewinn und Preise der Rohstoffe für Notstandsarbeiten entsprechend verkürzt würden. Den Behörden der Erwerbslosenfürsorge müßten entsprechende Befugnisse gegeben werden“ (Aufzeichnung aus dem RArbMin.; R 43 I /2028 , Bl. 240/241).

Ich bitte unter diesen Gesichtspunkten mit allem Nachdruck mit dem Reichswirtschaftsministerium und den Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände zu verhandeln. Erklären sich die Arbeitgeberverbände bereit, auf ihre Mitglieder einen diesbezüglichen Druck auszuüben, werde ich an die Regierungspräsidenten die nötigen Weisungen über die Einstellung von Notstandsarbeiten ergehen lassen, dort wo Betriebe wieder in Gang gebracht sind.

Über die Notwendigkeit der verstärkten Auftragserteilung an das besetzte Gebiet bitte ich auch mit den einschlägigen Ressorts, vor allem mit dem Reichsverkehrsministerium, zu verhandeln.

Unterschrift.

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