1.59.1 (str2p): Rheinland.

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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RTF

Rheinland1.

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Auszugsweise abgedruckt in Vermächtnis I, S. 181. – Zu den politischen Überlegungen und Bestrebungen im Umkreis dieser Ministerbesprechung hat A. Erkelenz im Jahr 1931 für die Arbeit P. Wentzckes über den Ruhrkampf berichtet: „Am 24. Oktober 1923 hatte ich zufällig im Reichsministerium für die besetzten Gebiete zu tun und sprach dort mit dem Staatssekretär Schmid, der mir zum ersten Mal, und zwar als recht wahrscheinlich mitteilte, daß die Regierung beabsichtige, durch eine öffentliche Erklärung die Versuche, mit Frankreich zu einer Vereinbarung zu kommen, abzubrechen. Es solle dann festgestellt werden, daß die Sorge für das Rheinland in Zukunft nur den Alliierten, besonders den Franzosen zufalle. Das setzte allerdings voraus, daß man den Vertretern im Rheinland erlaube, mit der französischen Vertretung im besetzten Gebiet zu verhandeln, um eine Regelung der Verhältnisse herbeizuführen. Um diese mich sehr überraschende Mitteilung nachzuprüfen, bin ich in die Reichskanzlei gegangen zu dem damaligen Leiter der Reichskanzlei, Staatssekretär Kempkes. Kempkes bestätigte mir, daß die Strömung mehr und mehr Zustimmung im Kabinett finde, und daß eine Kabinettssitzung an demselben Abend noch wohl die endgültige Entscheidung treffen werde. Am folgenden Tag finde eine große Sitzung rheinischer Vertreter in Hagen statt, und dort wolle der Reichskanzler Stresemann eine entsprechende Erklärung abgeben. – Von dieser beabsichtigten Sitzung hatte ich bis dahin keine Kenntnis. Um den ganzen Absichten entgegenzuwirken, habe ich die Vertretung der demokratischen Reichstagsfraktion, die ich noch schnell zusammenbringen konnte, zu einer Besprechung geholt. Meines Erinnerns befanden sich dabei Herr Koch und Herr Haas. Ich habe diesen Herren erklärt, daß ich die Absicht hätte, zu der Sitzung nach Hagen zu fahren, auch ohne eingeladen zu sein, und daß ich mit allen Mitteln, auch notfalls in der Öffentlichkeit gegen die ‚starke‘ Politik, die dem Ideengang des Herrn van den Kerkhoff vom 24. September [s. Dok. Nr. 76] entsprach, wenden werde. Diese Herren von der demokratischen Reichstagsfraktion erklärten mir, daß sie mir darin vollständig folgen würden, und daß ich ermächtigt sei, auch dem Reichskanzler Stresemann gegenüber zu erklären, die demokratische Fraktion würde sofort das Kabinett stürzen, wenn beabsichtigt sei, eine solche Politik zu führen. – Von dieser Besprechung aus bis ich dann kurz vor acht Uhr abends in die Reichskanzlei gegangen, wo um acht Uhr die Kabinettssitzung stattfinden sollte. Im großen Saal habe ich damals mit Herrn Oeser, mit Herrn Geßler, auch mit Herrn Brauns über diese Dinge geredet und insbesondere den demokratischen Vertretern im Kabinett erklärt, daß eine solche Politik auf den schärfsten Widerstand der Partei stoßen werde. Die Herren waren an dem Abend noch sehr zugeknöpft, gaben aber zu, daß im allgemeinen solche Absichten beständen. Ich erfuhr dort auch, daß besonders die Minister Jarres [!, erst ab 10.11.23 RIM], Geßler und Luther der Meinung seien, daß die Weiterführung der Zahlungen an das Rheinland jeden Versuch der Markstabilisierung zertrümmern würden, und daß deshalb die Zahlungen eingestellt werden müßten. Eine Einstellung der Zahlungen sei aber nur dann möglich, wenn man gleichzeitig die außenpolitischen Folgerungen ziehen, die Verhandlungen abbrechen und den Franzosen die Sorge für das Rheinland zuweisen würde. Von dort aus bin ich dann mit dem Nachtzug nach Hagen gefahren“ (BA: NL Erkelenz , Bl. 33–35).

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete weist daraufhin, daß die[710] Regierung morgen in Hagen über ihre Stellung zu den verschiedenen Fragen befragt werden würde2.

2

S. Dok. Nr. 167, P. 1.

Seine Wünsche gingen dahin, daß Entschädigungen für Personen- und Sachschäden sowie die Fürsorge für Ausgewiesene weiter laufen müsse, aber unter scharfer Kontrolle.

Auch die Markvorschüsse und die Naturallieferung für die Truppen müßten s. E. vorläufig weitergezahlt werden. Die Erwerbslosenfürsorge müsse vom 1. November ab so geregelt werden wie im unbesetzten Gebiet3.

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S. hierzu Dok. Nr. 156.

Der Reichskanzler erwägt die Möglichkeit, daß sich im Rheinland ein Direktorium zwecks Verhandlungen mit dem Gegner auftun würde4.

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S. dazu den Moldenhauerplan in K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik, S. 310 ff. Dazu berichtet Falk in seinen Lebenserinnerungen in Zusammenhang mit der Besprechung in Barmen am 24.10.23: „Die Stimmung, die hier herrschte, war sehr gedrückt. Allgemein fürchtete man, das Reich sei genötigt und gewillt, das Rheinland aufzugeben. Moldenhauer, der von Berlin kam, berichtete uns, daß Stresemann krank zu Bett liege, aber doch [nach Hagen] kommen werde. Er habe vor dem Reichskanzler Vortrag gehalten [23.10.23, 17.30 Uhr; BA: NL von Stockhausen  15], der seine Stellung vorbehalten habe. Er ging offensichtlich davon aus, daß das Reich keine Geldmittel für das Rheinland zur Verfügung stellen könne und daß die Franzosen dieses Unheil zur Durchführung ihrer Trennungspläne auszunützen fest entschlossen seien; dann [gebe] es kein Halten mehr. Unter Zustimmung der Reichsregierung solle ein mehrköpfiges Direktorium aus Vertretern des besetzten Gebietes gebildet werden, um unmittelbar mit der Oberkommission über die Wiederaufnahme der Arbeit im besetzten Gebiet zu verhandeln, da ja Poincaré nach wie vor abgelehnt hatte, darüber mit dem Reich zu verhandeln. Die Bildung des Direktoriums werde und dürfe keineswegs eine staatsrechtliche Abtrennung des besetzten Deutschlands vom übrigen Reich in sich schließen.“ Dem widersetzte sich Falk, der darin den Beginn der Loslösung vom Reich sah (BA: NL Falk, Bl. 163/164). Vgl. a. den Bericht von Jarres über Moldenhauers Ausführungen in Dok. Nr. 179.

[711] Wir könnten den Kampf nicht mehr finanzieren. Das Ziel müsse sein, in Liebe zu scheiden, nicht in Haß5. Er könne hier im einzelnen nicht darlegen, was an Leistungen zunächst fortgeführt werden müßte.

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Vgl. hierzu Dok. Nr. 156.

Mussolini sei bei der Andeutung, daß die Kohlenlieferung nach Italien aufhören könnte, empört gewesen6. Es bleibe uns aber nichts übrig, als der Reparationskommission mitzuteilen, daß wir nicht mehr leisten könnten7.

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Der RMWiederaufbau hatte dem RK in einem Schreiben vom 19.10.23 seine Ansicht mitgeteilt, daß nach Abbruch des passiven Widerstandes auch die Kohlenlieferungen an Italien einzustellen seien, die bisher fortgesetzt worden waren, „indem man auf diese Weise den Zechen eine gewisse Arbeitsmöglichkeit verschaffte, ohne daß dem Reich hierdurch zusätzliche Kosten entstanden, ferner um mit Hilfe Italiens sich im Ruhrgebiet verkehrstechnisch eine gewisse Bewegungsfreiheit zu erhalten (Ermöglichung von Lebensmittel- und Materialtransporten usw.)“. Nach dem Fortfall dieser Voraussetzung sei eine weitere Differenzierung zwischen Frankreich und Belgien einerseits und Italien andererseits nicht mehr zu vertreten. Es sei nun mehr ein Beschluß herbeizuführen, daß die RReg. die Finanzierung der Kohlen Italien anheimstelle und die Bezahlung der Lieferungen selbst einstelle (R 43 I /2191 , Bl. 312). Von der deutschen Botschaft in Rom war am 20.10.23 mitgeteilt worden, Mussolini habe den Bericht über die Haltung Poincarés und die Verhältnisse im besetzten Gebiet ohne eigene Äußerung angehört, sei aber sehr erregt gewesen, als er von der Einstellung der Lieferung von Reparationskohlen gehört habe. „Er erklärte: Damit werde neue Situation geschaffen, die ihn zwinge, seine bisherige wohlwollende Haltung Deutschland gegenüber aufzugeben und seine Politik frankophil zu orientieren. Für Italien sei der Kohlenbezug eine Lebensfrage. Seine Finanzen seien schlecht und seine ‚traditionellen Freunde‘ die Engländer verlangten Preise, daß es Kohlen ebenso gut vom Monde beziehen könnte. Wenn wir jetzt mit den Reparationskohlenlieferungen aufhörten, müsse er sich der Ausbeutungspolitik Poincarés anschließen und versuchen, durch unmittelbare Beteiligung Italiens an der Verwaltung zu beschlagnahmender Bergwerke im Ruhrgebiet oder ähnlichen Maßnahmen billigen Bezug von Kohlen zu sichern.“ Er habe dringend gebeten, daß der RK bei den Lieferungen für Italien eine Ausnahme erwägen solle. Die außergewöhnliche Erregung habe gezeigt, wie sehr Mussolini betroffen gewesen sei. „Bei den seit der Korfu-Sache äußerst gespannten italienischenglischen Beziehungen halte ich es für sehr gut möglich, daß das Aufhören der Reparationskohlenlieferungen den Anstoß für Mussolini gibt, sich ganz in die französischen Arme zu werfen“, trotz oder vielleicht gerade wegen der verschiedenen italienischen Unterstützung gegenüber Frankreich erscheine es angesichts der schwächlichen Haltung Englands bedenklich, daß Italien ins frz. Lager getrieben werde, daher solle erwogen werden, ob nicht doch Lieferungen über den 1.11.23 hinaus möglich seien (R 43 I /2191 , Bl. 315). Dieser Bericht wurde auch von Geschäftsträger von Hoesch bestätigt auf Grund von Äußerungen aus der Kriegslastenkommission (30.10.23; R 43 I /2191 , Bl. 317/318).

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Von der dt. Kriegslastenkommission wurde am 24. 10. hierzu gemeldet: „Mac Fadeyan erklärte, daß er mir gegenüber offen sprechen wolle und die Ansicht äußern müsse, daß er weder bisherige Fortsetzung Kohlenlieferung noch Zahlung Recovery Act verstände. Beides sei mit finanzieller Lage Deutschlands nicht vereinbar und erwecke allgemein schlechten Eindruck. Deutschland wäre seiner Ansicht nach ohne Rücksicht auf englisches Gesetz in der Lage, Reparationsgutscheine nicht einzulösen. Ich erwiderte, daß Erwägungen hierüber, soweit ich unterrichtet sei, bereits dort angestellt seien“ (R 43 I /39 , Bl. 470). Aus weiteren Aufzeichnungen des AA vom Ende Oktober und Anfang November 1923 geht hervor, daß Mitteilung an Mussolini ging, Deutschland werde versuchen, Papiermarkkredite aufzunehmen, um bis zur Ausgabe der Rentenmark noch Kohlen an Italien zu liefern. Danach werde aber die Einstellung der Lieferungen zur Sicherung der dt. Währung unvermeidlich sein. StS von Maltzan führte in einem allgemeingehaltenen Gespräch mit Botschafter Bosdari aus, die rückständigen Kohlenlieferungen würden bis zum 15.11.23 nachgeliefert, „daß wir auch die Industriellen gezwungen hätten, in ihre Verträge mit Frankreich die Forderung aufzunehmen, daß die entsprechende Reparationskohle für Italien künftig geliefert werden würde. Alles sei in bestem Wege gewesen, als die Franzosen plötzlich wider Erwarten verlangt hätten, daß die von den Industriellen zu liefernde Kohle nicht als Reparationskohle angerechnet würde. Dies sei natürlich unmöglich und nur ein Trick der Franzosen, um diese Kohle nicht ihren Alliierten zu Gute kommen zu lassen, sondern sie als Ersatz für die Okkupationskosten zu verwenden. Es täte mir dies sehr leid, als es große Mühe gekostet hätte, diesen Vertrag mit Einbegriff Italiens bis zu diesem Punkte durchzubringen. – Graf Bosdari wurde sehr erregt, erging sich in Ausdrücken höchster Vorwürfe gegen die Person Poincarés, deutete aber gleichzeitig an, daß man sich wohl wegen der Kohle in Zukunft an Frankreich werde wenden müssen. Ich sage ja, ich hoffe aber, daß es dem italienischen Druck auf Frankreich gelingen würde, die an diesem Vorwand gescheiterten Verhandlungen zu einem auch für Frankreich günstigen Ergebnis zu bringen“ (Pol.Arch.: Büro RM 8, Bd. 1. Zusätzliches Material über dt. Kohlenlieferungen an Italien in Pol.Arch.: Wirtschaftsreparationen 8 No. 5 Allg. 19). S. a. Anm. 6 zu Dok. Nr. 229.

[712] Die Okkupationskosten für das legal besetzte Gebiet würde er noch bis zu einer bestimmten Frist zahlen.

Der Reichsminister der Finanzen8: Man müsse seines Erachtens die Gehälter und die Erwerbslosenfürsorge zahlen, solange die Rheinländer zu uns gehörten.

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Vgl. zum folgenden Dok. Nr. 175.

Bei den Leistungen für die Besatzung müsse man unterscheiden zwischen solchen, die wir jetzt nicht vollziehen, und denen die wir jetzt noch vollziehen. Die Leistung der ersteren müsse abgelehnt werden, die Leistung der letzteren nur noch für kurze Zeit erfolgen.

Ein Zahlen der Markvorschüsse würde unlogisch sein, da wir ja die Reparationsleistungen ablehnten9.

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S. Dok. Nr. 156 mit Anm. 5.

Ein klarer Beschluß sei unumgänglich. Aber es müsse ein Übergangsstadium eintreten, damit die Leute nicht plötzlich vor dem Nichts stünden.

Der Reichsarbeitsminister Er sei grundsätzlich mit Minister Luther einverstanden. Dem Kanzler stimme er darin zu, daß man mit dem Rheinland reden müsse wie mit Leuten, die seelisch zu uns gehörten.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete Er würde die Einzelheiten, was noch zu leisten sei, mit Minister Luther besprechen.

Der Reichsminister des Innern Er stimme dem Minister Luther zu, daß wir das Rheinland unterstützen müßten, solange es zu uns gehöre und solange wir es könnten. Man müsse sich klar darüber sein, daß wir durch einen Abbruch der Zahlungen das Rumpfdeutschland nicht zur Gesundung bringen würden. Er warne davor, in Hagen zu sagen, daß wir nichts mehr tun könnten. Man dürfe morgen keine Versprechen abgeben, müsse aber sehr vorsichtig sein.

Ein „Direktorium“ würden die Franzosen nicht anerkennen.

Der Reichskanzler Es sei unumgänglich, in Hagen unsere Finanzlage klar zu legen. Es sei ferner klar, daß ein Deutschland ohne Rhein und Ruhr auch nicht einen Pfennig zahlen könne, komme was wolle.

Über die Einzelheiten wollten die Minister Luther und Fuchs noch sprechen.

Der Reichsminister der Finanzen Der Kanzler müsse nach der Besprechung in Hagen entscheiden, ob die Markvorschüsse gezahlt werden sollten10.

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S. Dok. Nr. 195, P. 1.

Übrigens rate er davon ab, die neue Währung nach dem Rheinland zu geben.

[713] Der Reichskanzler Große Kreise rieten zum „Bruch mit Frankreich11.“ Er würde es für einen schweren Fehler halten, etwas derartiges ohne die notwendige diplomatische Vorbereitung zu tun.

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S. Dok. Nr. 156, mit Anm. 3; vgl. die Ausführungen des RK in Hagen (Dok. Nr. 179).

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Seines Erachtens dürften wir den Bruch nicht provozieren, müßten aber die Gegenseite auf ihre Verantwortung festnageln.

Der Reichskanzler Wir müßten vor allem die Aufmerksamkeit der Welt auf unsere furchtbare Lage lenken. Dazu sei es nötig, die anderen Dinge, wie die bayerische Frage, im Interesse der Außenwelt zurücktreten zu lassen12.

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Wahrscheinlich hat der RK nach dieser Bemerkung die Ministerbesprechung verlassen, um an der Sitzung mit den Länderchefs teilzunehmen, die um 17.20 Uhr begann und auf der die bayerische Frage behandelt wurde (s. Dok. Nr. 174).

Der Reichsminister der Finanzen stellt die Ansicht des Kabinetts folgendermaßen fest: Die inneren Leistungen, insbesondere Gehälter und Erwerbslosenzahlungen, sollten zunächst nach Möglichkeit weiter erfolgen. Es soll aber gezeigt werden, daß die zeitliche Möglichkeit hier begrenzt sei.

Bei den Leistungen nach außen sei das Ziel die Zuschiebung der Verantwortung an den Gegner, wenn in den nächsten Wochen gesagt würde, daß wir Leistungen aus dem Vertrage nicht mehr bewirken könnten. In der Zwischenzeit seien die Okkupationsleistungen abzubauen.

Ob in der Zwischenzeit nochmals Markvorschüsse zu zahlen seien, würde der Kanzler entscheiden.

Hierauf wurde die Sitzung geschlossen.

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